Mieterin nach Leerkündigung: «Habe Angst, Zürich verlassen zu müssen»
Alle Mieter:innen der Manessestrasse 101 in Wiedikon haben die Kündigung erhalten. Der Eigentümer plant an der Adresse einen Ersatzneubau. Eine Bewohnerin, die auf die günstige Miete angewiesen ist, fürchtet die Verdrängung aus der Stadt.
Die Kündigungswelle in Wiedikon geht weiter. Nun trifft es die Bewohner:innen der Manessestrasse 101. Bis Ende März 2027 müssen alle zwölf Parteien ausziehen. Der Besitzer Rolf Schlagenhauf, Geschäftsleiter eines grossen Handwerksunternehmens, plant einen Ersatzneubau. Noémi Jordi wohnt bereits seit einigen Jahren in dem Haus.
Sie will nur anonym über ihre Situation sprechen, um ihre Chancen bei der Wohnungssuche nicht zu mindern. Ihre 3-Zimmer-Wohnung kostet knapp 1700 Franken im Monat. Zahlreiche Mieter:innen wohnen schon seit 20 oder 30 Jahren in dem Haus und zahlen noch tiefere Mieten; eine junge Frau ist in dem Haus zur Welt gekommen und aufgewachsen. «Man kennt sich im Haus, wir sind eine Gemeinschaft», sagt Jordi.
«Wir wollen keine Stadt, in der nur noch Reiche wohnen»
An der Manessestrasse 101 hätten alle gewusst, dass es früher oder später zur Kündigung kommt. «Es ist Zürich. An jeder Ecke werden Häuser abgerissen», sagt Jordi. Doch als die Kündigung kam, seien bei einigen Bewohner:innen die Tränen geflossen. Viele von ihnen haben unterdurchschnittliche Einkommen und fürchten die Verdrängung. Bereits im Mai wurden die Manessestrasse 109 und 111 leergekündigt, eine umfassende Sanierung ist geplant. Auch die Bewohner:innen in der Nachbarschaft zittern nun: Die Liegenschaften stammen allesamt aus den 30er-Jahren.
Im Kündigungsschreiben aus dem November heisst es, das Haus müsse «aufgrund des technischen Alters, ökologischer Schwächen und zur nachhaltigen Verbesserung der Wohnqualität» erneuert werden. Jordi kann die Renovation nachvollziehen, aber ein Abriss ist ihrer Ansicht nach nicht nötig. Es sei wichtig, dass es zentral gelegenen Wohnraum gebe, den sich eine vielfältige Bevölkerung und auch Personen mit tieferen Einkommen leisten könnten. «Wir wollen keine Stadt, in der nur noch Reiche wohnen», sagt sie.
Gemäss der Cedrus Immobilien AG der Familie Schlagenhauf führt jedoch kein Weg am Abriss vorbei. Haustechnik und Grundrisse würden noch aus dem Baujahr 1937 stammen und nicht mehr den heutigen Anforderungen entsprechen, schreibt das Unternehmen auf Anfrage. Geplant sei ein Neubau mit drei zusätzlichen Wohnungen. Wann die neuen Wohnungen bezugsbereit sein werden, kann die Eigentümerschaft zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.
Schon seit 1984 befindet sich das Haus im Besitz der Familie. Sanierungen seien seit längerer Zeit keine mehr vorgenommen worden. So würden die Leitungen schnell verstopfen, und die dünnen Fenster seien nicht schallisoliert, berichtet Jordi. Und das, obwohl sich die Autobahn, die Bahnstation Giesshübel und ein Werkhof in der Nähe befinden. Einerseits sei sie dankbar, dass sie so viele Jahre zu günstiger Miete mitten in der Stadt wohnen konnte. Andererseits betont Jordi: «Mit diesem Lärm zu wohnen, konnte man nur aushalten, weil der Preis so tief ist.» Immer wieder habe es Nachtarbeiten an den Gleisen gegeben: «Wir hatten jede zweite Woche einen Zettel an der Tür. Auch die Reinigung der Autobahn ist jedes Mal laut und wird nicht angekündigt.»
Eigentümer verspricht faire Mieten
Trotz des Lärms in der Nachbarschaft hat sich niemand im Haus für eine Mietzinsreduktion eingesetzt, laut Jordi aus Angst vor Konsequenzen. Zwar habe der Hauseigentümer dafür keinen Anlass gegeben, doch ist es in einem Haus an der Konradstrasse genau so gekommen: Als ein Mieter wegen der nahegelegenen Baustelle nach einer Mietzinsreduktion fragte, reagierte der Vermieter prompt mit der Leerkündigung für das gesamte Haus.
An der Manessestrasse 101 ist das nun auch ohne Beschwerden Realität geworden. Noémi Jordi würde gerne in den Neubau einziehen, doch noch ist unklar, ob eine Rückkehr möglich ist und wie viel die Mieten dereinst kosten werden. Die Cedrus Immobilien AG schreibt jedoch auf Anfrage: «Da die Liegenschaft langfristig im Familienbestand bleibt, sind uns faire Mietpreise und langfristige Mietverhältnisse wichtig.»
Jordi macht sich wenig Hoffnungen: «Für mich wird es aus finanziellen Gründen schwierig, wieder etwas in Zürich zu finden», sagt sie und fügt an: «Ich habe Angst, dass ich Zürich verlassen muss.»
Für die Zürcherin käme deshalb nur eine günstige Stadtwohnung infrage. Erst kürzlich hat sie eine Weiterbildung abgeschlossen und hofft, dass sie in Zukunft mehr Geld verdienen und somit auch einen höheren Mietzins bezahlen kann. Der drohende Abschied aus Zürich fällt ihr schwer: «Ich habe mich hier das erste Mal richtig zu Hause gefühlt und Freund:innen gefunden», sagt Jordi. Sie wird versuchen, auch in Zukunft wieder eine Wohnung nahe am Wasser zu finden: «Vielleicht in Schlieren oder Leimbach.»
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Bachelorstudium in Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich, Master in Kulturanalyse und Deutscher Literatur. Während des Masters Einstieg als Redaktionsmitglied in der Zürcher Studierendenzeitung mit Schwerpunkt auf kulturellen und kulturkritischen Themen. Nebenbei literaturkritische Schreiberfahrungen beim Schweizer Buchjahr. Nach dem Master Redaktor am Newsdesk von 20Minuten. Nach zweijährigem Ausflug nun als Redaktor zurück bei Tsüri.ch