In «The Rite» trifft ein queerer Fabrik-Rave auf Strawinskys Meisterwerk
Während drei Vorstellungen inszeniert das Zürcher Kollektiv «Das Flammende Fagott» eine Rave-Performance in einer ehemaligen Autowerkstatt. «The Rite» lässt Strawinskys «Le sacre du printemps» als Techno-Ritual neu aufleben.
Eine dunkle ehemalige Autowerkstatt, fleischfarbener Kunststoff, ein Wald aus Ketten, Wachs und Ästen, ein Springbrunnen mit blau klebrigen After-Rave-Elektrolyten, ein DJ-Pult und Scheinwerfer:
«The Rite» ist das neuste Projekt des interdisziplinären Kollektivs «Das Flammende Fagott». Dahinter stehen Kian Amadeus H. und Johannes Schmidt, die das ehemalige «Hyperlokal» im Binz-Areal übernommen und in Grube[n] umbenannt haben (wir haben berichtet).
Als sich die Tore schliessen, verwandelt sich die anfängliche Ratlosigkeit langsam zu Neugier. Die rund 30 Besucher:innen begutachten die Installationen und fangen an – alle mit einem fleischfarbenen Talisman versehen – sich zu räkeln und zu tanzen, oder sich zu umarmen.
Von Strawinskys Frühlingsopfer zur queeren Rave-Performance
Mit zunehmendem Tempo ziehen die elektronischen Sounds immer mehr Menschen auf die Tanzfläche. Doch während die einen sich in Ekstase tanzen, berühren andere gedankenversunken die Installation oder rollen sich auf Schaumstoffmatten zusammen. So geschieht es, wenn «The Rite» zum Tanzen einlädt, aber auch hinzufügt: «Was auch immer das für dich bedeutet.»
Die drei Vorstellungen von «The Rite» versprechen eine «queere Rave-Performance» und «eine kollektive Verausgabung ausgehend von Motiven aus Le sacre du printemps» (Deutsch: das Frühlingsopfer). In Igor Strawinskys berühmtestem musikalischen Werk tanzt sich eine auserwählte Frau vor den Augen der Menge in einem Ritual im russischen Wald zu Tode, um den Frühling heraufzubeschwören.
Uraufgeführt in Paris im Jahr 1913 schockierte Strawinskys Aufführung das Publikum so sehr, dass es zu Buhrufen, Schreien und Handgreiflichkeiten im edlen Pariser Théâtre des Champs-Élysées kam. Neben der Dissonanz und der fehlenden Melodie sorgte dabei auch ein schrilles Fagott-Solo für Aufregung.
Im Ritus an der Grubenstrasse spielt man mit der Doppelbedeutung dieses Begriffs «Fagott»: einerseits ein prominentes Instrument bei Strawinsky, andererseits ist das Wort in leicht anderer Schreibweise eine schwulenfeindliche Beleidigung. Der Begriff des «Flaming faggot» wiederum wurde in Teilen der queeren Community in eine positive Selbstbezeichnung für selbstbewusste und flamboyante homosexuelle Männer umgewandelt.
Bewusst missverstanden wird aus dem Begriff im Deutschen ein flammendes Musikinstrument, und so lässt sich auch Strawinskys Skandalstück für einen queeren Rave aneignen.
Zwischen Körperlichkeit, Ich-Auflösung und Ekstase
Die Idee für die Performance kam aus Johannes Schmidts persönlicher Verbindung zum Strawinsky-Stück: «Ich habe selbst zweimal ‹Le sacre du printemps› auf der Bühne getanzt und es ist für mich eines der tollsten Musikstücke, die es gibt, so erdig und rhythmisch. Während der Pandemie kam mir die Idee, dass das Stück auch als Techno-Remix funktionieren könnte.»
Und so verwebt DJ Ophelia Sullivan für die Rave-Performance meisterhaft Versatzstücke aus Strawinskys Werk mit elektronischen Klängen. Für die beiden DJ-Sets, die von UK Bass und Dubstep zu klassischem Hard-Techno übergehen, könnte man auch in angesagten Clubs gutes Geld liegen lassen. Der Sound lässt die Wände wackeln und die Fenster zittern – unbeteiligte Passant:innen könnten wirklich fürchten, dass sich im Innern eine ekstatische Menge zu Tode tanzt.
Unterbrochen wird die Musik nur für kürzere Performances und für gesprochene Texte aus der Feder von Kian Amadeus H., die sich am Text «Raving» der trans-Autorin McKenzie Wark orientieren.
Auch aus diesen Textauszügen dringen Körperlichkeit, Ich-Auflösung und Ekstase hervor. «Glückliches Fleisch» solle ängstliche Gedanken ersetzen, heisst es dann, oder: «Das Paradies ist zu Privateigentum geworden und die Tore verschlossen, aber wir können uns durch die Hintertür hineinschleichen.»
Die verschlossenen Tore der alten Autowerkstatt öffnen sich nach gut zwei Stunden wieder und lassen frische Luft, Kerzenlicht und Abenddämmerung hinein. Die kollektive Verausgabung ist gelungen.
«The Rite» wird noch am 30.08. und am 06.09. aufgeführt, Tickets sind limitiert verfügbar. Noch mindestens bis zum Herbst 2026 werden Kian Amadeus H. und Johannes Schmidt den Off-Space an der Grubenstrasse bespielen.
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Bachelorstudium in Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich, Master in Kulturanalyse und Deutscher Literatur. Während des Masters Einstieg als Redaktionsmitglied in der Zürcher Studierendenzeitung mit Schwerpunkt auf kulturellen und kulturkritischen Themen. Nebenbei literaturkritische Schreiberfahrungen beim Schweizer Buchjahr. Nach dem Master Redaktor am Newsdesk von 20Minuten. Nach zweijährigem Ausflug nun als Redaktor zurück bei Tsüri.ch