«Süss, klebrig und intensiv»: Lucia Salomé Gränicher über das Theaterstück «härzig»

«Jö!» – ein Ausdruck, der Niedlichkeit feiert. Doch was macht etwas wirklich «härzig»? Lucia Gränicher erforscht am Theater Neumarkt die ambivalenten Facetten des «Jö-Effekts» und wie er unsere Wahrnehmung prägt.

Lucia Gränicher: «Härzig»
Die Dramaturgin Lucia Gränicher erforscht am Theater Neumarkt die Welt der «Härzigkeit». (Bild: Flavio Karrer)

«Jö! Isch das härzig», ist ein Satz, der in der Schweiz tagtäglich geäussert wird. Auf Social Media, wenn eines Video auftaucht, in dem winzige Katzenbabys mit riesigen Augen in die Kamera blicken. Beim Anblick eines kleinen Kindes, das in übergrossen Gummistiefeln durch eine Pfütze stapft, oder in der Familie, wenn Oma erzählt, wie sie damals Opa kennenlernte. 

Es ist ein universeller Ausdruck, der Momente der Freude und Rührung einfängt, aber auch tief in unserer Kultur und unseren sozialen Verhaltensmustern verankert ist. Was steckt wirklich hinter diesem spontanen «Jö»? Wo beginnt die Niedlichkeit, und wo wird sie vielleicht sogar manipulativ?

Mit dem Stück «härzig» am Theater Neumarkt untersucht Lucia Salomé Gränicher die Ambivalenz von Niedlichkeit. Vom typisch schweizerischen «Jö-Effekt» bis hin zur globalen Kawaii-Kultur hinterfragt das Stück die Macht des Blicks und die Manipulation durch Niedlichkeit.

Im Interview spricht die Dramaturgin über die Vielschichtigkeit von «härzig», die Verbindung zu gesellschaftlichen Normen und wie das Stück traditionelle Machtstrukturen spielerisch aufbricht.

Härzig: Theater Neumarkt
Kermit, Kawaii und Hello Kitty: Die vielseitigen Facetten von Härzig. (Bild: PHILIP FROWEIN)

Severin Miszkiewicz: Wenn die Performance eine Farbe oder einen Geschmack hätte, was wäre sie? Lucia Gränicher: Der Geschmack wäre wie geschmolzene Marshmallows – süss, klebrig, aber auch ein bisschen eklig. Die Farbe? Ein sanftes Pfirsich-Rosa, beruhigend, aber nicht zu unschuldig.

Und welches Emoji beschreibt «härzig» am besten?

Das lächelnde Emoji mit tränenden Augen – es bringt diese Mischung aus Freude, Rührung und Überwältigung perfekt auf den Punkt.

Was bedeutet «härzig» für Sie?

Härzig beschreibt etwas, das in uns spontan ein bestimmtes Gefühl auslöst. Es kann ein Bild, ein Verhalten oder ein Moment sein, der uns emotional berührt – oft beim ersten Anblick. Aber härzig ist nicht universell. Es bleibt ein subjektives Gefühl, das für jeden Menschen anders sein kann.

Subjektiv? Warum empfinden wir Härzigkeit unterschiedlich?

Weil es auf rationalen und emotionalen Ebenen wirken kann. Auf einer rationalen Ebene wissen wir, dass ein Baby oder ein Hundewelpe «härzig» ist. Ihr unschuldiges, hilfloses Aussehen möchte unbedrohlich wirken und Schutzinstinkte auslösen – das wissen wir, obwohl wir es vielleicht gar nicht so fühlen.

Doch die emotionale Ebene geht weiter: Dieses «ich will es knuddeln» oder – extremer – «ich hab es so lieb, ich könnte es zerdrücken». Das ist ein körperliches Gefühl, das nicht bei allen gleich stark auftritt. Das hat mit dem Charakter zu tun, aber auch mit der Sozialisierung. 

«Das Phänomen ‹Cute Aggression› beschreibt den Moment, in dem Niedlichkeit in Aggression umschlägt.»

Lucia Gränicher

Zerdrücken klingt fast brutal. 

Genau das macht es spannend. Es gibt ein Phänomen namens «Cute Aggression». Das beschreibt den Moment, in dem Niedlichkeit in Aggression umschlägt. Härzig ist nicht nur süss und unschuldig – es kann auch manipulativ oder überwältigend sein. Nehmen Sie den Satz: «Ich hab dich zum Fressen gern.» Er klingt liebevoll, birgt aber unterschwellig Gewalt. Diese Ambivalenz ist für mich der Schlüssel, warum «härzig» so spannend ist.

  • Härzig: Theater Neumarkt

    Härzig: Eine Spiellandschaft voller Plüschtiere, Graswiesen und Miniaturen.

  • Härzig: Theater Neumarkt

    Härzig: Eine Spiellandschaft mit Plüschtieren, Graswiesen und niedlichen, kleinen Objekten.

  • Härzig: Theater Neumarkt

    Härzig: Eine Spiellandschaft mit Plüschtieren, Graswiesen und niedlichen, kleinen Objekten.

Die Performance «härzig» dreht sich um den «Jö-Effekt», ein typisch schweizerisches Phänomen. Warum haben Sie diesen Begriff gewählt?

Den Effekt an sich würde ich nicht als typisch schweizerisch beschreiben, das Wort schon. Ich finde es ein sehr treffendes Wort für jenes Gefühl, das uns überkommt, wenn wir etwas «härzig» finden. Besonders schweizerisch empfinde ich jedoch das Bedürfnis, nach aussen unbedrohlich wirken zu wollen.

Vielleicht ist «härzig» und mit ihm der Ausruf «jö» auch deshalb hier so einzigartig im deutschen Sprachraum. Gleichzeitig habe ich beobachtet, wie Begriffe wie «cute» in unserer Sprache immer dominanter werden. «Cute» nutzen wir mittlerweile für fast alles – egal, ob es wirklich härzig ist oder nicht. Das wollte ich untersuchen.

Also ist das Stück eine Reaktion auf den inflationären Gebrauch von «cute»?

Unter anderem. Es geht aber auch um die tiefere Bedeutung von Niedlichkeit. Wussten Sie, dass «cute» ursprünglich von «acute» kommt, was «scharf» oder «spitz» bedeutet? Das zeigt, wie ambivalent der Begriff ist: etwas Feines und Unschuldiges, was aber gleichzeitig auch etwas Verletzendes, vielleicht sogar Bedrohliches birgt. Diese Zweischneidigkeit hat mich inspiriert.

Härzig: Theater Neumarkt
Ein dreibeiniger Einhorn-Brunnen bildet das Herzstück der Inszenierung. (Bild: PHILIP FROWEIN)

Das Stück wird von ihnen als «anti-patriarchaler Intimität» beschrieben. Was bedeutet das?

Die Kultur- und Medienwissenschaftlerin Annekathrin Kohout beschreibt so Niedlichkeit. Ich finde das ganz passend. Für mich beinhaltet diese Worte eine Form von Intimität, die auf wechselseitiger Gleichberechtigung und Verletzlichkeit basiert – nicht auf patriarchalen Machtstrukturen. Niedlichkeit schafft solche Räume, weil sie durch ihr reziprokes Spiel mit Blicken und angeblickt werden Machtverhältnisse aufbricht.

Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Niedliche Objekte wirken unschuldig und hilflos – sie unterwerfen sich dem blickenden Subjekt. Aber in Wahrheit manipulieren sie unseren Blick, sie wollen so angeblickt werden. Wer hat die Kontrolle – der:die Betrachter:in oder das Niedliche? Diese Frage ist zentral für die Arbeit «härzig».

Härzig: Theater Neumarkt
Süsse Sinne: Ein farbenfrohes Highlight auf der Bühne

Wie setzen Sie das auf der Bühne um?

Das Publikum betritt ein verwunschenes Zimmer, szenografisch umgesetzt von Julia im Obersteg: eine Spiellandschaft mit Plüschtieren, Graswiesen und niedlichen, kleinen Objekten. Eines davon ist ein Wesen, das wie eine Mischung aus Brunnen und Pony aussieht – runde Formen und Fell.

Dort, in dieser Welt begegnen die Zuschauenden der Spielerin Edith Kaupp Rivadeneira, die durch die Auseinandersetzungen mit den Höhen und Tiefen des niedlichen Gefühls führt. Begleitet wird sie dabei vom Musiker David Brändlin, dessen Sound die Performance entscheidend trägt. Zu sehen gibt es ausserdem ein besonderes Objekt, das Musik macht und mit Verdauung zu tun hat – mehr verrate ich nicht.

«Härzig ist nicht nur klebrig oder lieblich, es kann auch kantig und scharf sein.»

Lucia Gränicher

Niedlichkeit wird oft als harmlos wahrgenommen. Würden Sie sagen, das Stück «härzig» übt Kritik an gesellschaftlichen Normen?

Es ist weniger eine Kritik als eine Untersuchung. Ich möchte zeigen, wie Niedlichkeit Beziehungen beeinflusst – von Machtverhältnissen bis hin zu Intimität – und warum wir sie ernster nehmen sollten. Was wir als «härzig» empfinden, ist sehr unterschiedlich und spiegelt gesellschaftliche Werte wider. Besonders heute, in Zeiten von Social Media und viralen Videos, hat Niedlichkeit eine besondere Dynamik.

Sie dient oft als Flucht aus der Realität – stundenlang niedliche Reels auf Instagram zu schauen, ist dafür ein gutes Beispiel. Doch Niedlichkeit ist nicht nur online präsent, sondern tief in unserer Realität verwurzelt. Es ist wichtig, «härzig» nicht mit bloss «süss» gleichzusetzen. Härzig ist nicht nur klebrig oder lieblich, es kann auch kantig und scharf sein.

Das klingt alles ziemlich komplex. Braucht man einen Master in Kulturanalyse, um das Stück zu verstehen?

Absolut nicht! Die Performance soll visuell und emotional ansprechen. Jede:r hat eine Beziehung zu Niedlichkeit, sei es durch Instagram-Videos, das alltägliche «Jö» oder Erinnerungen an die Kindheit. Es geht nicht um theoretisches Wissen, sondern darum, wie Niedlichkeit unser Leben und unsere Wahrnehmung prägt.

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