Kritik an Studie

ETH-Stadtforscher: «Jede Leerkündigung ist eine Verdrängung»

Eine neue Studie zum Wohnraum in der Schweiz wies jüngst Ersatzneubauten eine wichtige Rolle zu. Doch soziale und ökonomische Aspekte gingen in der Untersuchung unter, mahnt der ETH-Stadtforscher David Kaufmann im Interview.

ETH Stadtforscher David Kaufmann
Der ETH-Assistenzprofessor für Raumentwicklung und Stadtpolitik David Kaufmann gibt im Interview einen differenzierten Blick auf die jüngst erschienene Studie. (Bild: Giulia Marthaler)

Im September veröffentlichte das Zürcher Forschungsinstitut Sotomo die Studie «Wohnraum für Zürich und die Schweiz – Wohnbau- und Bevölkerungsdynamik im Agglomerationsvergleich». Ersatzneubauten, die immer mit einer Leerkündigung einhergehen, wurden darin in ein überraschend positives Licht gerückt, weshalb die Ergebnisse medial breit aufgegriffen wurden.

So titelte etwa die NZZ: «Wird im Quartier ein Haus abgerissen, ist das eine gute Nachricht». In Auftrag gegeben hat die Studie «Fürschi Züri», eine Initiative der Zürcher Handelskammer.

Dominik Fischer: Die jüngste Studie des Forschungsinstituts Sotomo im Auftrag der Zürcher Handelskammer wurde eifrig diskutiert. Sie hat ein ziemlich positives Bild von Leerkündigungen und Neubauten gezeichnet. Wie schätzen Sie die Studie ein? 

David Kaufmann: Die Studie hat Erkenntnisse zu den sogenannten Umzugsketten hervorgebracht, aber ansonsten liefert sie nicht viel Neues. In der Diskussion in Architektur- und Planungskreisen ist man eigentlich schon einen Schritt weiter. Dort geht es nicht um Neubauten, sondern darum, wie wir besser, anders und sinnvoll bauen können. Aus meiner Sicht trägt diese Studie und die Berichterstattung nicht viel zur Debatte bei, sondern ist eher ein Rückschritt.

Was sind Umzugsketten genau und was hat die Studie dazu herausgefunden?`

Wer für Neubauten argumentiert, stützt sich explizit oder implizit auf das Konzept der Umzugsketten und dessen «Trickle-Down-Effekt». Soll heissen: Wenn neue Wohnungen entstehen, ziehen dort Menschen ein, die es sich leisten können, ihre alte Wohnung wird frei. Dort ziehen wiederum Menschen ein, die sich die mittel-teure Wohnung leisten können, und am Ende ist günstiger Wohnraum frei geworden. 

Die Studie konnte zeigen, dass in der Zürcher Agglomeration primär Menschen aus der direkten Umgebung in Neubauten ziehen. Das Argument, dass Neubauten nur Auswärtige aufnehmen und den Ansässigen gar nicht zugutekommen, konnte sie widerlegen.

«Die Studie sagt, Neubau helfe gegen Verdrängung, aber er hilft eben nur einer reichen Bevölkerungsschicht.»

David Kaufmann, ETH-Stadtforscher

Man baut teure Wohnungen und hofft, dass am Ende einer Umzugskette günstige Wohnungen frei werden. Das klingt ziemlich um die Ecke gedacht. Man könnte ja auch einfach günstigen Wohnraum schaffen?

Genau. Und der Wohnraum, der nach einer solchen Umzugskette frei wird, ist meist alter Wohnbestand, der sich in der Peripherie befindet. Und dieser steht dann wieder unter Druck, abgerissen zu werden. Das kann auch zum Effekt der Mehrfachverdrängung führen, wenn einige Jahre später auch dieses Haus saniert oder ersetzt wird.

Auch das Problem einer Segregation in arme und reiche Gegenden wird verschärft. Man muss dieses «Trickle-Down-And-Out-Argument» deshalb kritisch hinterfragen. Ausserdem gibt es Probleme mit der Vorgehensweise der Studie.

Zum Beispiel? 

Die Studie schaut sich nur die Anzahl Wegzüge an, aber prüft nicht, ob die Wohnung wirklich frei wird. Bei einer Trennung, wenn erwachsene Kinder ausziehen oder jemand aus einer WG auszieht, wird aber keine Wohnung frei.

Und meine grösste Kritik ist: Es gibt keine Einkommensdaten. Die Studie konnte nicht zeigen, ob es einen positiven Effekt für Menschen mit tiefem Einkommen gibt, sondern nur für Menschen, die in der Nähe wohnen. Und das Wichtige an der Debatte ist ja, ob sich die Wohnsituation auch für einkommensschwache Menschen verbessert.

Während die Wohlhabenden sich die zentrale Neubauwohnung leisten können, müssen die Einkommensschwächeren in den Altbau in der Peripherie ausweichen?  

Das irritiert mich an dieser Studie: Sie sagt, Neubau helfe gegen Verdrängung, aber er hilft eben nur einer reichen Bevölkerungsschicht – und verdrängt eine arme Bevölkerungsschicht. Das wird einfach ignoriert, und die Berichterstattung hat dieses Framing noch verstärkt. Nicht alle tragen die Kosten der Verdrängung im gleichen Ausmass. Das Risiko trifft die vulnerable Bevölkerungsschicht ungleich stärker. Und das ist ein sozialpolitisches Problem.

Laut der Studie gehen nur ein Prozent der Wegzüge auf Leerkündigungen zurück. Ab wann spricht man eigentlich von Verdrängung?

Aus der Forschungsperspektive ist jede Leerkündigung eine Verdrängung. Denn nur aufgrund der Kündigung müssen die Mieter:innen etwas Neues suchen. Andere Phänomene, beispielsweise wenn man sich die Miete nicht mehr leisten kann, sind indirekte Verdrängungen. Aber Gemeinden, Wirtschaftsakteure und auch diese Studie setzen andere Massstäbe und behaupten, wenn jemand im gleichen Quartier, der gleichen Gemeinde oder gar der gleichen Region eine neue Wohnung findet, sei das keine Verdrängung. 

Zürich Panorama
Entsteht in Zürich neuer Wohnraum durch Ersatzneubauten, kommt das zwar der lokalen Bevölkerung zugute, aber fast nur den Wohlhabenden. (Bild: Unsplash/Patrick Federi)

Die Studienautor:innen singen ein Loblied auf den Ersatzneubau. Aber in der Stadt Zürich bringen diese oft nur wenige neue Wohnungen hervor, zeigt die Studie.

Ein paar Punkte dazu: Auch wenn ich 100 Wohnungen durch 500 ersetze, gibt es immer noch 100 Parteien, die verdrängt werden – und zwar erneut vor allem Personen mit tiefem Einkommen. Zweitens wird in Zürich extrem viel abgerissen, weil der Platz knapp ist, aber der Effizienzgewinn dabei ist sehr gering. Wenn ein zweistöckiges Haus durch ein vierstöckiges ersetzt wird, ist das nicht effizient.

Man müsste hier den Fokus auf Einfamilienhäuser richten, denn dort kann es grosse Effizienzgewinne geben. Aufstockungen sind in Zürich noch viel weniger üblich als etwa in Genf. Aufstocken ist eine gute Möglichkeit, ebenso wie das Neubauen in Siedlungslücken oder am gut angeschlossenen Rand von Siedlungsflächen.

Bei einer Aufstockung können die bisherigen Mieter:innen in der Wohnung bleiben und werden somit nicht verdrängt. Auch die Mieten sollten eigentlich gleich bleiben.

Deshalb gelten Aufstockungen als sanftere Form der Verdichtung. Dass die Mieten gleich bleiben, wäre das Ziel. In Genf ist das der Fall, aber in Zürich oftmals nicht, weil es keine Mietpreisregulation gibt, die das verlangen würde. Hauseigentümer:innen haben immer den finanziellen Anreiz, eine Totalsanierung durchzuführen, um die bestehenden Wohnungen teurer vermieten zu können. Hier gibt es ein Regulationsloch. 

Die Studie streicht positiv hervor, dass Neubauten gar nicht viel teurer seien als Bestandswohnungen nach einem Umzug. Woran liegt das?

Die Studie hält zwar fest, dass Neubauten die Mietpreise nicht so stark anheizen, das liegt aber daran, dass die Mieten sowieso schon so hoch sind und die Vermieter:innen sehr stark auf den Markt und auf Quartierüblichkeit reagieren können. Bestandsmieten werden nach einem Mieter:innenwechsel stark erhöht, sodass diese sich den Neubauten angleichen. 

Ohne deine Unterstützung geht es nicht

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2600 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 3000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!

Jetzt unterstützen!
tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare