Kolumne: Mandy Abou Shoak über die Magie des Teilens - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Mandy Abou Shoak

Kolumnistin

9. April 2023 um 05:00

«Ich möchte mit jeder Türe, die sich mir öffnet, einer anderen Person eine Türe öffnen»

Ende März hat Ramadan begonnen. Während des muslimischen Fastenmonats denkt Mandy Abou Shoak viel darüber nach, wie sie ihr Glück mit anderen teilen könnte. Den Anfang ihrer persönlichen Verteilaktion macht diese Kolumne.

Illustration: Zana Selimi

Anm. d. Red.: In diesem Beitrag wird der Begriff «Migra-Kind» verwendet. Es ist eine Selbstbezeichnung von Menschen mit Migrationsgeschichte oder Migrationsvorsprung. Hier gibt es mehr Infos.

Ramadan ist angebrochen. Während des muslimischen Fastenmonats sage ich öffentliche Auftritte in der Regel ab, gehe nur an sehr ausgewählte Veranstaltungen. Stattdessen lade ich Menschen zum Iftar, dem Abendessen nach Sonnenuntergang, ein oder gehe spazieren. Ich bin selten allein zum Fastenbrechen. Oft ist meine Familie bei mir oder ich begrüsse Bekannte oder Freund:innen bei mir Zuhause. Auch heute waren drei Herzensmenschen zu Besuch.

Um 19.53 Uhr haben wir das Fasten mit einer Dattel gebrochen. Danach gab es Linsensuppe, Safran Reis, Poulet, eine Gemüsepfanne und Salat. Meistens gehe ich so gegen Mitternacht schlafen. Bevor ich mich an diesem Abend ins Bett legte, öffnete ich kurz meine Instagram-App und sah, dass mich jemand (@labellaperla) in einem Post im Zusammenhang mit meiner Kolumne markiert hatte. Ich erinnerte mich: Meine Kolumne. Shit, ich muss sie heute noch verschicken.

So sitze ich um 1.28 Uhr vor meinem Laptop und schreibe diese Zeilen. Zeilen, die ich in meinem Kopf schon einige Male geschrieben habe, denn ich weiss schon seit geraumer Zeit, dass ich die folgenden Gedanken mit euch teilen möchte. 

Ich bin davon überzeugt, dass wir in Zeiten, in denen wir Macht erhalten, auch die Verantwortung haben, diese zu teilen. Insbesondere dann, wenn uns eigentlich verschlossene Türen zugänglich gemacht werden und uns Eintritt in eine neue Welt gewährt wird. Manchmal wird uns etwas geschenkt, von dem wir bis anhin nicht mal zu träumen gewagt haben. Im Grunde ist es ganz einfach: Wenn wir etwas erhalten, sind wir dazu angehalten, etwas anderes zu teilen.

«Die Versuchung ist gross, nach dem Öffnen der Türe eine Treppe nach der anderen hoch zu steigen.»

Mandy Abou Shoak

Es ist mittlerweile 1.44 Uhr. Ich sitze auf meinem Sofa und überlege kurz. Und denke mir: «Grossartige Gedanken, Mandy! Toll! Aber was hast du geteilt, als du deinen Bachelor-Abschluss gemacht hast?» Eine leise Stimme in mir sagt: «Naa na, bleib mal cool, also das habe ich mir hart erarbeitet. Zuschreibungen und Erzählungen über Menschen, wie ich es bin, haben mir das Studium nicht einfach gemacht. Es wurde mir auf keinen Fall geschenkt.»

Eine andere Stimme in mir sagt: «Ja ja, alles gut, aber natürlich hast du gearbeitet, dir den Abschluss selber erarbeitet, aber deine Voraussetzungen waren schon einfach auch, hmm, wie soll ich das sagen. Privilegiert? Du musstest keine Stipendienanträge schreiben, du musstest nebenher nicht arbeiten gehen.»

Ich schiebe die Stimmen und die Gedanken beiseite und frage mich weiter: «Was habe ich mit anderen geteilt, als ich meinen Master-Abschluss gemacht habe, was habe ich geteilt, als ich in die Frauensession gewählt wurde, was habe ich geteilt, als ich die Zusage zu unserer Wohnung erhalten habe. Was wäre, wenn ich zu all diesen Ereignissen bewusst etwas geteilt hätte? Was genau hätte ich geteilt, wie hätte ich was geteilt und mit wem?»

Teilen als kollektive Verantwortung

Die Versuchung ist gross, nach dem Öffnen der Türe eine Treppe nach der anderen hoch zu steigen. Sich selbst anzuspornen, das Tempo nicht zu verlieren und vor allem nicht nach hinten zu blicken. Okay, in der zweiten Etage gestartet, bin ich schnell in der dritten, der vierten, der fünften Etage angekommen. Ab der sechsten Etage wird es anspruchsvoller, das Tempo zu halten. Aber wie ist es wohl für Menschen, die im zweiten Untergeschoss gestartet sind?

Ich wurde im vergangenen Februar in den Zürcher Kantonsrat gewählt. In wenigen Wochen startet mein Mandat. In den nächsten Tagen wird entschieden, in welche Kommission ich komme. Mir wurden die Tore zur kantonalen Politik geöffnet und nun möchte ich im Gegenzug etwas teilen.

Auch wenn bei mir in der Vergangenheit nicht jedes Erfolgserlebnis gekoppelt war an eine Verteilaktion, heute möchte ich damit beginnen. Ich möchte mich dazu verpflichten, mit jeder Türe, die sich mir öffnet, einer anderen Person eine Türe zu öffnen. Ein Tor zu einer Person oder zu einem Ort; die Möglichkeiten sind sehr vielfältig. Ich möchte das tun als Teil einer kollektiven Verantwortung. In der Konsequenz habe ich mich entschieden, meine Kolumne zu teilen. Mit Menschen, die mich inspirieren, mich bewegen und mich berühren.

Ich möchte euch an dieser Stelle einer dieser Menschen vorstellen: Ihr Name ist Özge Eren. Özge und ich haben uns im Alter von etwa 15 Jahren über unseren gemeinsamen Freund Samir kennengelernt. Während ich nach der Sekundarschule eine Kaufmännische Lehre absolvierte, schaffte er den Übertritt ins Gymnasium. Dort lernte Samir Özge kennen. Ich glaube, die beiden waren zwei der wenigen Migra-Kindern an der Kantonsschule Wetzikon.

Schon damals war ich sehr berührt von Özges Wärme und ihrer Herzlichkeit. In ihren dunkelbraunen Augen blitze eine unheimliche Neugier. In den wenigen Begegnungen, die wir damals hatten, schaffte sie es immer wieder, mit wenigen Worten grosse Dinge einzufangen und einzuordnen. Danach hatten wir uns lange Zeit aus den Augen verloren. Bis sie mir vor etwa einem Jahr in Altstetten über den Weg gelaufen ist.

Es stellte sich heraus: Wir sind Nachbarinnen. Was für ein Segen. Ich freue mich sehr, meine Kolumne in Zukunft unter anderem mit Özge zu teilen. Auch, weil sie eine wundervolle Poetin ist. Sie hat mir erlaubt, eines ihrer Gedichte mit euch zu teilen. Ein Gedicht, das die Erfahrungen von so vielen von uns auf eine unglaublich präzise Art beschreibt.

Daughter (25.1.2023) 

Don't mention your period cramps.
Listen to the elders, let the men talk, stay silent.
Be a good daughter. 

Don't relax on the couch after a school day.
Do your homework, help with dinner, clean the bathtub.
Be a good daughter. 

Don't act against assault.
Dress more conservative, hide your bruises, keep your head low.
Be a good daughter. 

Don't invest in yourself.
Get married, bear a child, exist for them.
Be a good daughter. 

Give your body, give your soul,
give your mind, give your life.
Be a good daughter. 

Yes, be a good daughter says Patriarchy. 
So here we all are.
Daughters of a system that does not care about us. 

Enough! 
We deserve protection, care, justice, power,
rest and empathy.
We deserve to just be. 

Join me my sisters to redefine:
Fight for your rights, be loud, make your own choices 
and love yourself first.
Be a good daughter. 

Be human.

(Foto: Elio Donauer)

Mandy Abou Shoak

Menschen beschreiben sie als erfrischend unbequem. Unsere Kolumnistin Mandy Abou Shoak ist in Khartum im Sudan geboren, mit ihrer Familie in die Schweiz geflüchtet und im Zürcher Oberland aufgewachsen. Schon früh beschäftigte sie sich mit Ungerechtigkeiten. Einer der erweckensten Momente war jener, in dem sie realisierte, dass marginalisierte Menschen, wie sie selbst, im Kontext von Diskriminierungs- sowie Gewalterfahrungen meist verstummen. Sie verstand, dass das Heraustreten aus der Scham, das Teilen von Erfahrungen, fundamental ist, um in ein Verständnis darüber zu kommen, dass gewisse Erfahrungen kollektiv und damit strukturell sind. Diese Erkenntnis durchzog ihr Leben.

Mandy hat Soziokultur im Bachelor und Menschenrechte im Master studiert. Hauptberuflich arbeitet sie heute bei Brava als Expertin für Gewaltprävention und gibt Weiterbildungen im Bereich geschlechtsspezifischer Gewalt. Als Selbstständige berät sie Organisationen zu Themen rund um Diskriminierung und rassismussensiblen Strukturen. Auch in den zwei Podcasts «Wort.Macht.Widerstand» und «Reden wir! 20 Stimmen zu Rassismus» spricht sie über genau diese Thematiken. Sie ist zudem im Schwarz Feministischen Netzwerk Bla*sh, im Berufsverband der Sozialen Arbeit AvenirSocial und in der SP engagiert. Im Februar 2023 wurde sie in den Zürcher Kantonsrat gewählt.

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