«Es wird nicht alles besser, wenn man weniger arbeitet»
Immer mehr Arbeitnehmer:innen fordern neue Arbeitsmodelle wie die 4-Tage-Woche. Können solche neuen Arbeitsmodelle gar den Fachkräftemangel bekämpfen? Wie gelingt uns die Arbeitszeitreduktion? Über diese Fragen haben vier Podiumsgäst:innen am vergangenen Dienstag diskutiert.
«Wenn wir über Arbeitszeitreduktion reden, dürfen wir die Kosten, die dabei entstehen, nicht vergessen.» Diese Aussage machte Marco Salvi von Avenir Suisse bei der Podiumsdiskussion. Peppina Beeli, Leiterin der Abteilung Politik bei Unia, sieht eher einen Gewinn in der Arbeitsreduktion. Über die 4-Tage-Woche, mehr Flexibilität und Individualität haben Marco Salvi, Peppina Beeli, Lukas Meier, General Manager bei 25h Hotel, und Birgitta Borghott, ZHAW-Dozentin, am Tsüri-Podium diskutiert.
Peppina Beeli über die gestresste Generation Z
Zu Beginn der Diskussion zählt Peppina Beeli einige Zahlen auf. Besonders auffallend ist der Job-Stress-Index: Ein Drittel der Arbeitnehmer:innen fühlt sich am Arbeitsplatz gestresst. Bei den Jungen ist diese Zahl sogar noch höher. 40 Prozent fühlen sich sehr gestresst und weitere 40 Prozent liegen im sensiblen Bereich. Es sei deswegen kein Wunder, dass sich die Jungen andere Arbeitsmodelle wünschen, sagt Beeli. Es könne keine Norm sein, dass so viele Personen Burnout gefährdet sind. Darum sei es umso wichtiger, dass wir über die Arbeitszeitreduktion sprechen.
Die 4-Tage-Woche funktioniert im 25h Hotel
Bei Lukas Meier im Unternehmen wurde das Thema Arbeitsreduktion bereits diskutiert. Mit Erfolg: Die 4-Tage-Woche hat sich durchgesetzt. Seine Mitarbeiter:innen arbeiten 38 Stunden pro Woche und dürfen an drei Tagen frei machen. Die Arbeitsplätze seien dadurch um einiges attraktiver geworden, erklärt er. Es hätten sich mehr Personen für die Stellen beworben. Nicht nur das, die Arbeitnehmer:innen beim 25h Hotel waren auch weniger krank, es gab weniger Fluktuation und weniger Unfälle. Trotzdem betont er, dass solche Modelle nicht einfach der heilige Grad seien. «Es wird nicht alles besser, wenn man weniger arbeitet», sagt er. Zum Beispiel ist ihm aufgefallen, dass es länger braucht, bis sich Teams bilden. Das führt er auf die teilweise grossen zeitlichen Abstände zurück, in denen sich die Personen nicht sehen.
Arbeiten wir wirklich zu viel?
Anders als seine Kolleg:innen auf dem Podium sieht Marco Salvi keine Dringlichkeit in der Schweiz, die Arbeitsstunden zu reduzieren. Er erklärt, dass es der Mehrheit der Schweizer:innen sehr gut gehe. Von dem enormen Stress sei eine kleine Minderheit betroffen. “Ein Verlust von Bodenhaftigkeit”, sagt Beeli dazu. Sie rede regelmässig mit den Mitgliedern der Branchenkonferenzen. Dort hört sie, wie es den Menschen in ihrer Arbeitssituation geht. Der Vollzeit Standard sei enorm hoch und die Planbarkeit in vielen Bereichen fast unmöglich. Das mache den Arbeitnehmenden das Leben schwer. Salvi betont, dass Schweizer:innen im Durchschnitt bereits vier Tage arbeiten, weil es mehrere Personen gibt, die Teilzeit beschäftigt sind. Beeli argumentiert, dass der Grund dafür sei, dass gewisse Berufe im Vollzeit-Modus gar nicht möglich seien. Sie spricht von Berufen im Pflegebereich, bei denen sogar von den Arbeitgeber:innen geraten wird, Teilzeit zu arbeiten. Diese Personen nehmen freiwillig in Kauf, weniger zu arbeiten, um die restlichen Aufgaben im Leben unter einen Hut zu kriegen.
Mehr Individualität statt einheitliche Arbeitsreduktion
Damit die Arbeitnehmenden ihren Beruf besser mit ihrem Alltag vereinbaren können, fordert Birgitta Borghoff einen Fokus auf mehr Individualität. Das müsse nicht zwingend eine 4-Tage-Woche sein. Es sollte mehrere Modelle geben, die Arbeit einzuteilen. Dabei komme es auf die individuellen Bedürfnisse der Arbeitnehmer:innen an. «Warum nicht eine sechs-Tage-Woche mit sechs Stunden Arbeitszeit?», sagt sie. Der ZHAW-Dozentin ist aufgefallen, dass Studierende mehr Freiraum brauchen. Erst so werde es möglich, kreativ und schöpferisch zu sein.
Mehr Flexibilität in unserem Arbeitssystem fordert auch Salvi. «Die erwerbstätige Zeit ist auf einen Zeitraum zwischen 30 und 65 geballt, warum?», sagt er. Der Ökonom erklärt, dass man sich auf andere Aspekte als die reine Arbeitszeitreduktion konzentrieren sollte. Mehr Ferien und eine Änderung des Rentenalters könnten zu einer besseren Verteilung führen. Diesen Vorschlag hat das Volk jedoch letzten Sonntag abgelehnt.
Die Kosten, die bei einer Arbeitsreduktion entstehen können, variieren also. Einige Beispiele zeigen, dass es durch eine Anpassung eher Gewinne gibt: Die Arbeitnehmenden sind durch den grösseren Spielraum produktiver und somit auch zufriedener. «Allerdings wird es auch eine Kategorie geben, wo Ausprobieren angesagt ist», sagt Beeli.
Die ganze Podiumsdiskussion gibt es hier als Video.
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