Phänomen «Second-Hand-Swiping»: Wenn Freund:innen für uns daten
Swipe Fatigue, Ghosting, Dating-Burnout – die moderne Partnersuche über Datingplattformen kann erschöpfend sein. In Zürich übernehmen immer häufiger Freund:innen das Dating und suchen die Liebe im Auftrag der Singles.
«Swipe Fatigue» und «Dating Burnout», das Vokabular der Dating-Erschöpften wächst. Es beschreibt das Müde-sein vom Swipen und der modernen Partnersuche.
Sarah Berger, die eigentlich anders heisst und ihren Namen hier nicht lesen möchte, kennt das Gefühl. Seit mehreren Jahren nutzt sie Dating-Apps. «Ich bin brutal im Dating-Koller, ich habe gar keinen Bock mehr», sagt sie. «Das Swipen macht müde und frustriert.»
Damit ist Berger nicht alleine: Eine Studie von Forbes Health zeigt, dass von 1000 Personen, die im vergangenen Jahr eine Dating-App genutzt haben, sich über drei Viertel emotional, mental oder körperlich ausgelaugt fühlten.
Und wenn Einzelne nicht mehr können, springt das Kollektiv ein und Freund:innen übernehmen die Partnersuche. Was hat es damit auf sich?
Gemeinsam swipen macht mehr Spass
Auf Apps wie «Swipemate» oder «Wingman» schreiben Freund:innen Profile, formulieren Pitches, matchen potenzielle Lovers. Chatten dürfen die Singles dann wieder selbst.
Doch warum geben Menschen die Kontrolle über etwas so Intimes wie die Partnersuche ab?
«Es ist spannend zu sehen, wen sie für mich aussuchen», sagt Berger, die seit Kurzem ihre Freund:innen für sich swipen lässt. «Sie achten auf Dinge, die ich vielleicht übersehen würde, auf Red Flags.» Die roten Flaggen sind Warnzeichen in zwischenmenschlichen Beziehungen, die man selbst oft übersieht. Und diese erkennen Freund:innen besonders gut, wie eine Studie aus dem Jahr 2011 zeigt. Demnach erkennen Freund:innen Aspekte unserer Persönlichkeit, für die wir selbst blind sind.
Anders gesagt: Freund:innen filtern für uns, während man selbst im Überangebot an Selbstinszenierung beinahe untergeht. «Es ist eine Entlastung im Entscheidungsstress», sagt Berger, «und das Swipen macht mehr Spass, wenn man es gemeinsam macht.»
Das «Secondhand-Swiping», das die schmerzlose Leichtigkeit zurückbringt, die vielen beim eigenen Dating verloren geht.
Vom Swipen zum Pitchen
Auch offline übernehmen Freund:innen die Rolle der Partnervermittlung. Schon mehrfach organisierte die Moderatorin Gülsha Adilji in Zürich die Eventreihne «Pitch Your Single Friend». Eine Bühne, ein Mikrofon, fünf Minuten Zeit, um den eigenen Single-Freund oder die Single-Freundin vor Publikum zu präsentieren. Danach bleibt eine Telefonnummer, und manchmal die Chance auf ein Date.
«Die Freund:innen dürfen präsentieren, doch wählen müssen die Singles selbst», sagt Gülsha Adilji. Und manchmal, erzählt sie, entstehen daraus kleine Geschichten: Inside-Jokes, Begegnungen, vielleicht sogar etwas Dauerhaftes.
Klingt nach der Kuppelshow «Herzblatt»? Weit gefehlt, erklärt Adilji. «Es geht um Liebe, aber primär um freundschaftliche Liebe.» Darum, zu zeigen, wie einen die eigenen Freund:innen sehen. Eine Liebeserklärung an die Freundschaft.
Die Idee stammt ursprünglich aus New York und findet mittlerweile in europäischen Städten Anklang. Das Format scheint jene Generation zu treffen, die das endlose Suchen online satthat, die echten Blickkontakt zurückwill. Weitere Termine sind geplant, bald auch in Bern mit einer Queer-Edition. Gewünscht vom Publikum, sagt Adilji.
Belinda Daniele vom Kompetenzzentrum Paarberatung im Kanton Zürich erklärt: «Dahinter steckt der Wunsch nach etwas Echtem im Gegenzug zur virtuellen Welt.» Dabei verrate das Umfeld einiges über den Menschen. «Es ist wie eine Drittmeinung, es wirkt vertrauenswürdiger», sagt Daniele. Und es reduziere die Komplexität in der Überfülle an Möglichkeiten.
Ähnliche Formate gibt es speziell für ältere Singles. Im Restaurant Roter Delfin in Zürich werden Menschen zwischen 50 und 70 Jahren von ihren Kindern, Nichten, Neffen oder anderen Verwandten vorgestellt: «Date My Mom (or dad, aunt, you name it)», heisst das Format, das in diesem Jahr zum ersten Mal stattgefunden hat. Eine Minute, um die Singles zu präsentieren, dann sind sie selbst an der Reihe.
Freund:innen als menschlicher Algorithmus
Ob online oder im echten Leben: Müssen wir die Suche nach der Liebe also künftig aus der Hand geben, um erfolgreich zu sein?
«Nein», sagt Belinda Daniele. Dating sei intim und bleibe «immer ein Stück Eigenverantwortung und Selbstschutz, indem wir entscheiden, wie wir uns im Aussen zeigen wollen». Doch Freund:innen könnten helfen, die Komplexität zu reduzieren. «Wie ein Filter in der riesigen Masse, der die Reizüberflutung reduziert und die Schwelle senkt, sich einzulassen.»
Auch Single Sarah Berger relativiert: «Meine Freund:innen haben nicht denselben Geschmack wie ich und manche Profiltexte fühlten sich nicht nach mir an.» In anderen Worten: Unterstützung ja, aber eben nicht Stellvertretung.
Am Ende geht es also nicht um den perfekten Match, sondern um das Gefühl, dass jemand an der eigenen Seite sucht. Oder, wie es die Spice Girls längst wussten: If you wanna be my lover, you gotta get with my friends.
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Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.