Roman über Polizeigewalt: «Es geht darum, blinde Flecken zu überwinden»
In «so öppis wie d wahrheit» schreibt Olga Lakritz über rassistische Polizeigewalt und kratzt damit am Selbstbild der Schweiz – und das auf Mundart. Warum? Wir haben die gebürtige Zürcherin in ihrer Wahlheimat Biel besucht.
Ein nasskalter Montag in Biel. Nebel hängt über dem Juramassiv, das sich hinter der Stadt erhebt. Hier wohnt Olga Lakritz, gebürtige Zürcherin und Schriftstellerin. Sie ist für das Studium am Literaturinstitut hergezogen – und geblieben.
«Im Gegensatz zu Zürich ist Biel weniger mit Fassaden beschäftigt», sagt die 29-Jährige in einem Café unweit des Bieler Bahnhofs. Die Stadt sei dreckiger und erinnere sie daran, dass nicht alles gut ist in der Schweiz.
Davon erzählt Lakritz auch in ihrem neuen Roman «so öppis wie d wahrheit», der Anfang Monat erschienen ist und am 23. Oktober am «Zürich liest» im Gespräch mit Fatima Moumouni vorgestellt wird.
Die eigene Sprache finden
Es geht um den Tod eines linken Aktivisten durch rassisitische Polizeigewalt. Die Partnerin des Verstorbenen sucht einen Weg durch die Trauer und die eigenen Erinnerungen.
Es ist Lakritz’ erster langer Text in Mundart. Ihren Debütroman und ihre Slams schrieb sie auf Hochdeutsch, manchmal auf Englisch. Diesmal wollte sie näher an ihrer eigenen Sprache schreiben.
«Das war überhaupt nicht einfach», sagt sie. Während des Schreibprozesses habe sie die Mundart oft genervt. Es sei mühsam gewesen, Einheitlichkeit in der Sprache zu finden. Erst habe sie einige Wörter ständig anders geschrieben. Irgendwann einigte sie sich auf feste Schreibweisen: «Krähe» wurde zu «Chräye», «Polizei» zu «Polizey», «selten» zu «sälte». Eine Gewöhnungssache für die Lesenden und die Schriftstellerin gleichermassen.
Beim Entscheid für Mundart sei es ihr auch um die Suche nach einer eigenen poetischen Sprache gegangen, «wie im Mundart-Rap», sagt Lakritz. Auch dort entstehe eine Kunstsprache, geformt durch Rhythmus und Reim. Trotz des Schweizerdeutschen, das ein kleineres Vokabular kennt als Hochdeutsch, ist die Sprache des Romans vielfältig: Lakritz verwendet mal eingedeutschte Wörter wie «Mundwinkel», mal neudeutsche wie «Cops», dann wieder alte Schweizer Begriffe wie «Gnusch» oder «Gmurks».
Von «Chräyen» umgeben
Auf 245 Seiten erzählt die Ich-Erzählerin ihrem verstorbenen Freund, was sie macht, denkt und fühlt. Das geht von Beschreibungen, wie sie Mühe hat aufzustehen oder mit ihren Eltern schweigend am Tisch sitzt, bis zur detaillierten Schilderung etlicher Therapiesitzungen, in denen sich die Protagonistin lange weigert, über den Tod ihres Freundes und dessen Gründe zu reden.
Wenn die Therapeutin versucht, zu ihr durchzudringen, blockt sie oft ab und schaut stattdessen aus dem Fenster, wo sich der von Krähen umgebene Stadtturm befindet. Ein Symbol, das sich durch den Roman zieht.
«Ich nehme in der Schweiz einen starken Drang nach Normalität wahr.»
Olga Lakritz
Die Krähen begleiten die Protagonistin, sind da, wenn sie keine Worte findet, verdecken aber auch die Sicht, wenn Wesentliches geschieht. Ihre Rolle sei ambivalent, sagt Lakritz. «Zuerst helfen sie, dann werden sie hinderlich. Wie ein Coping-Mechanismus, der irgendwann zur Last wird.»
Die Hautfarbe entscheidet
Lange bleibt im Roman unklar, was genau geschah. Die Erzählerin erinnert sich bruchstückhaft, verdrängt, verwechselt. Die Lesenden wissen nie mehr, als sie weiss. Nur allmählich zeichnen sich Umrisse ab: eine linke Demonstration, ein Polizeieinsatz, Gewalt.
Erst am Ende wird ausgesprochen, was den Roman trägt. Da kommt die Protagonistin zur Einsicht: «Und ich weiss, dass de Grund, warum ich läb und du nöd, nur s Wiise vo minere Huut isch.»
Dass es um rassistische Polizeigewalt gehen würde, sei kein Plan, sondern eine Folge des Schreibens gewesen, sagt Lakritz. Als sie vor drei Jahren mit dem Schreiben begann, sei noch offen gewesen, wohin er führen würde. «Ich begann mit der Figur», sagt sie, «der Rest ergab sich eher unbewusst». Rassismus und Polizeigewalt seien allerdings Themen, die sie schon lange beschäftigten – und die in der Schweizer Öffentlichkeit zu wenig Raum bekämen.
«Wie alles, was nicht ins Schweizer Selbstverständnis passt», sagt Lakritz. Etwa die kolonialen Verstrickungen des Landes oder seine Rolle im Zweiten Weltkrieg. Unangenehmes werde hier gern ausgeblendet. Stattdessen nehme sie in der Schweiz einen starken Drang nach Normalität wahr. «Normalität aufrechtzuerhalten, ist mühsam.» Sie mache nicht mal die glücklich, die sie schützen solle. «Und die, die offensichtlich anders sind, leiden doppelt.»
Die Protagonistin übersieht vieles
Mit ihrem Roman kratzt die Autorin am Selbstbild der Schweiz, ohne Zahlen oder Statistiken zu nennen. Sie nähert sich dem Thema über die menschliche Perspektive eines traumatischen Erlebnisses, ausgelöst durch Staatsgewalt. Und zeigt, wie schwer es ist, Worte dafür zu finden, und wie nötig es ist, die eigenen Privilegien, vielleicht auch die eigene Komplizenschaft, zu reflektieren.
«Für mich steht das Weiss-Sein der Hauptfigur und die Frage, ob sie das je erkennen kann, im Zentrum», sagt Lakritz. Die Protagonistin sehe vieles nicht, habe blinde Flecken. «Es geht darum, diese blinden Flecken zu überwinden.»
Eine leichte Lektüre ist «so öppis wie d wahrheit» nicht, schon allein durch die Dunkelheit, aus der heraus erzählt wird. Dafür blitzen immer wieder originelle Sätze auf wie: «Wänn ich es Wort wär, so wär ich vilicht s Wort umsortiere.» Damit wird das Innenleben der Erzählerin unmittelbar erfahrbar. Das schafft Verständnis für ihre Sichtweise, auch für ihre blinden Flecken.
So ist es letztlich die Sprache, die das Buch ausmacht. Wer Schweizerdeutsch versteht, kann sich der Geschichte kaum entziehen. Und verlässt sie mit einem geschärften Sensorium und einem ehrlichen Blick auf die Machtverhältnisse hierzulande.
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2600 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 3000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!
Studium der Politikwissenschaft und Philosophie. Erste journalistische Erfahrungen beim Branchenportal Klein Report und der Zürcher Studierendenzeitung (ZS), zuletzt als Co-Redaktionsleiter. Seit 2023 medienpolitisch engagiert im Verband Medien mit Zukunft. 2024 Einstieg bei Tsüri.ch als Autor des Züri Briefings und Berichterstatter zur Lokalpolitik, ab Juni 2025 Redaktor in Vollzeit. Im Frühjahr 2025 Praktikum im Inlandsressort der tageszeitung taz in Berlin.