Nach Angriff auf Professor: Zürcher Historiker:innen schreiben Brief an die NZZ

Die NZZ wirft dem Autor des ETH-Berichts zu umstrittenen Inschriften im Niederdorf wissenschaftliches Fehlverhalten vor – gestützt auf ein unveröffentlichtes Gutachten. Kolleg:innen kontern: Das sei keine sachliche Kritik, sondern persönliche Delegitimierung.

Mood image for Sexuelle Belästigung? ETH ermittelt gegen Professor
Zahlreiche Forscher:innen stellen sich hinter den angegriffenen Professor. (Bild: Tsüri.ch)

Eigentlich hätte die vier Jahre lang andauernde Diskussion damit besiegelt sein sollen: Am 23. Juni gab das Bundesgericht der Stadt Zürich die Erlaubnis, zwei Hausnamen, die das «M-Wort» enthalten, zu überdecken. In seinem Entscheid stützte sich der Stadtrat unter anderem auf eine Studie, die sie beim Lehrstuhl für Globalgeschichte an der ETH Zürich in Auftrag gab. Diese kam zum Schluss: Der Begriff habe zwar im Verlaufe seiner Geschichte unterschiedliche Bedeutungen angenommen, sei allerdings vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart stets abwertend gemeint worden (wir berichteten). 

Doch vor rund zwei Wochen kam die Sache erneut ins Rollen. Die NZZ warf dem ETH-Bericht «gewichtige Mängel» vor. Dabei präsentierte sie Auszüge eines bislang nicht veröffentlichten Gutachtens, das vom Heimatschutz in Auftrag gegeben wurde. Verfasst wurde es vom freischaffenden Historiker Martin Illi, der sich bestens im spätmittelalterlichen Zürich auskennt. 

Kurz darauf holt der Feuilleton-Chef der NZZ, Rico Bandle, zum Rundumschlag gegen Bernhard Schär aus. Dagegen wehren sich nun Zürcher Historiker:innen. In einem offenen Brief werfen sie Bandle vor, anstatt sachlicher Kritik persönliche Diffamierung zu betreiben. 

Von der NZZ in die Weltwoche, von der Polemik in den Hass

Auch Tsüri.ch liegt das von der NZZ erwähnte Gutachten vor. Gestützt auf eigene Archivrecherchen, wirft darin Martin Illi den Autor:innen des ETH-Berichts, Ashkira Darman und Bernhard Schär, vor, zentrale Quellen falsch gedeutet zu haben, etwa bei der Herkunft der Hausbesitzer und den Familienwappen. Dass die Inschriften als rassistisch zu bewerten sind, bestreitet Illi deswegen nicht grundsätzlich. Allerdings kritisiert er, dass im ETH-Bericht vorschnell negative Zusammenhänge angenommen wurden, obwohl auch andere, weniger abwertend gemeinte Deutungen der Hausinschriften möglich gewesen wären. Statt Überdeckung fordert er deshalb eine historische Kontextualisierung. 

Was auf den ersten Blick nach einer für den Wissenschaftsbetrieb normalen Streitigkeit aussieht, wird in den Seiten der NZZ allerdings schnell zur Polemik. 

Schär ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Lausanne. Ausgehend von Illis Gutachten wirft Bandle Schär ideologische Verblendung vor. Nicht zum ersten Mal weise ein Forscher Schär «schwere wissenschaftliche Fehler» nach, schreibt Bandle. Weil sich Schär in der Vergangenheit mehrfach als Vertreter des postkolonialen Ansatzes in der Geschichtsforschung hervorgetan habe, suggeriert Bandle im selben Atemzug eine Nähe zu Schweizer Forschungseinrichtungen, denen nach dem Massaker vom 7. Oktober Antisemitismus, Gewaltverherrlichung und eine Vermengung von wissenschaftlicher Neutralität mit politischem Aktivismus vorgeworfen wurde. Belege über allfällige Verbindungen zwischen Schär und diesen Instituten liefert Bandle nicht. 

In der Weltwoche nimmt dieser Angriff auf Schärs wissenschaftliche Glaubwürdigkeit einen noch schärferen Ton an. Schär stehe beispielhaft für «Ideologen, Mitgutachter, die nicht nur begutachten, was der Auftraggeber gerne möchte. Sondern dabei auch noch gravierende handwerkliche Fehler machen», schreibt René Zeyer. Schliesslich wirft er die Frage in den Raum, ob bei solch «offensichtlichem Ungenügen» Schär nicht der Professorentitel aberkannt werden könne.

Sowohl Bandle wie auch Zeyer werfen Schär ideologische Voreingenommenheit vor. Dafür spreche auch, dass Schär und Darman in ihrem Bericht das «M-Wort» nicht ausgeschrieben hätten. «Im Bericht wird das Wort «Mohr» nicht ausgeschrieben, stattdessen steht nur «M*****», schreibt Bandle. Bei Zeyers Artikel steht bereits fettgedruckt im Titel, Schär habe «ein Gutachten zur Entfernung des «M*» geschrieben, ohne das Wort auch nur ein einziges Mal zu schreiben». 

Ein Blick in den ETH-Bericht zeigt jedoch: Tatsächlich kommt das Wort in den Fussnoten und im Fliesstext insgesamt 100 Mal vollständig ausgeschrieben vor – inklusive auf der Titelseite. 

Martin Illi, der Verfasser des Gutachtens für den Heimatschutz, sagt gegenüber Tsüri.ch: Die Sprachpolitik des ETH-Berichts finde er per se nicht schlecht. Für ihn hätte es aber gereicht, die problematischen Wörter in Anführungs- und Schlusszeichen zu setzen. Dennoch wirft er den Verfasser:innen eine selektive Wahrnehmung vor. Ein solcher Umgang mit dem historischen Erbe habe auch politische Folgen: «Die Überfremdungsangst wird zusätzlich geschürt, wenn man das eigene, indigene Kulturgut so vorverurteilt, wie es der ETH-Bericht tut.»

Zu Bandles Artikel in der NZZ vom 12. September 2025 möchte er weder positiv noch negativ Stellung beziehen, da er einzig den Sachverhalt der ETH-Studie kenne. Aber: «Grundsätzlich finde ich es nicht gut, wenn man auf die Person spielt», sagt Illi.

Dieses Votum dürfte auch in der Kommentarspalte der Weltwoche unerhört bleiben, wo die Polemik längst in Hass umschlagen ist. Schär, dessen Mutter aus Peru stammt, wird dort kurzerhand als Ausländer abgestempelt – 31 Likes. Dass die Weltwoche-Redaktion in der Folge auch mit Content-Moderation alle Hände voll zu tun hatte, legt ein weiterer Beitrag nahe: Darin beklagt sich ein Leser darüber, dass die Verwendung des M- und des N-Worts hier wiederholt zensiert werde. Denn schliesslich seien beide Begriffe ja nicht abwertend gemeint – dafür kriegt er «nur» 8 Likes. 

Zürcher Historiker:innen kritisieren NZZ-Artikel

Mittlerweile bekommt Schär Rückendeckung aus der Schweizer Forschungscommunity. Übers Wochenende wurde ein Appell lanciert. Rund 300 Forschende haben bereits unterschrieben. 

Zu den Unterzeichnenden zählen auch zahlreiche Geschichtsprofessor:innen der Universität Zürich und der ETH Zürich. Einige von ihnen haben am Mittwochvormittag einen zusätzlichen offenen Brief an Bandle und die NZZ verfasst. «Anstatt eine sachliche Diskussion über Methoden, Thesen oder Ergebnisse zu führen, konzentriert sich der Artikel auf die gezielte persönliche Diffamierung eines Wissenschaftlers. Im Zusammenspiel mit dem Untertitel macht das grossformatige Porträt, das den Artikel begleitet, deutlich: Im Zentrum steht die Diskreditierung einer Person, nicht die Debatte oder die Entkräftung einzelner Argumente», schreiben die Autor:innen des offenen Briefs. 

Ferner hätten zum Zeitpunkt des Erscheinens des NZZ-Artikels einzig Illi, der Zürcher Heimatschutz, das Präsidialdepartement der Stadt Zürich sowie die NZZ über das Gutachten verfügt. Eine sachliche Prüfung von Illis Gutachten durch andere Expert:innen sei unter solchen Bedingungen gar nicht möglich. 

Gegenüber Tsüri.ch unterstreicht auch Monika Dommann, Professorin für Geschichte an der Universität Zürich und Mitverfasserin des offenen Briefs: «Wissenschaft muss Kontroversen erlauben – auch Kritik aus den Medien. Doch als Grundlage dafür braucht es Transparenz. Dass Bandle auf der Basis eines nicht öffentlich zugänglichen Gutachtens Schär als Wissenschaftler delegitimiert, ist medienethisch fragwürdig.» 

Dommann sieht den Angriff auf Schär noch aus einem anderen Grund kritisch. Auch wenn Bandles Vorwürfe zunächst nur gegen Schär gerichtet sind, gingen sie zugleich über ihn hinaus. Wissenschaft sei kein Soloprojekt. Sie funktioniere nach klaren Regeln: Studien werden von Fachkolleg:innen begutachtet, Ergebnisse überprüft. Schär habe in diesem System mehrfach überzeugt – er erhielt Fördergelder, Preise und internationale Anerkennung. «Bandle mag seine Einwände für berechtigt halten. Doch der entscheidende Punkt ist: Er attackiert damit nicht nur einen Historiker, sondern auch gleich die Verfahren, mit denen Forschung Qualität sichert. Dies mit dem Ziel, kritische Forschungsdisziplinen wie die postkoloniale Theorie als Ganzes in Frage zu stellen», sagt Dommann.  

Dommann, die selbst mehrere historische Gutachten und Berichte verfasst hat, erkennt darin auch ein grundsätzlich verkürztes Verständnis wissenschaftlicher Wahrheitsfindung: «Oft glauben wir, mit einem Gutachten sei eine Diskussion beendet. In Wahrheit geht es aber um das Gegenteil: sachliche Debatten zu ermöglichen und neue Perspektiven zu eröffnen. Auch wenn Gutachten etwas Abschliessendes suggerieren: Wissenschaft ist nie fertig.» Um diese Offenheit aushalten zu können, brauche es Vertrauen und Transparenz. Artikel wie jene von Bandle und Zeyer erschwerten aber genau das.

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Kommentare

Jens
24. September 2025 um 09:50

Peer Review

Gab es denn bei dem ursprünglichen Gutschten von Herrn Schär ein Peer Review? Hätten sich Vorwürfe wie Verwechslung der Familien etc. dadurch nicht erledigt bzw. Es wäre korrigiert worden. So hat die Stadt - ganz analog zu Banken - ein Gutachten dort bestellt wo das gewünschte Ergebnis relativ sicher eintreten würde. Mit einer wissenschaftlichen Veröffentlichung in einem anerkannten Journal nebst Peer Review hat das wenig zu tun.