«Wir vertreten die gesamte ausländische Community in der Stadt»

Ein Drittel der Zürcher Stadtbevölkerung hat kein Stimm- und Wahlrecht. Der Ausländer:innenbeirat will diesen Personen Gehör verschaffen. Im Interview zu seinem 20-jährigen Bestehen erklärt die Co-Präsidentin Marianne Corvera Charaf, warum es den Beirat braucht und mit welchen Herausforderungen er konfrontiert ist.

Marianne Corvera Charaf war lange Zeit selbst als Ausländerin in Zürich. Mittlerweile hat sie sich einbürgern lassen. (Bild: Isabel Brun)

Minea Pejakovic: Was ist der Ausländer:innenbeirat und weshalb braucht es ihn?

Marianne Corvera Charaf: Wir sind eine beratende Kommission des Stadtrats, bestehend aus insgesamt 25 Mitgliedern. Wir vertreten die Anliegen der ausländischen Bevölkerung in der Stadt Zürich. Dadurch wollen wir das Zusammenleben von Einheimischen und Zugezogenen verbessern.

Dabei ist nicht nur die eigene Erfahrung wichtig, sondern auch mit den Menschen ohne Schweizer Pass in Kommunikation zu sein, damit wir für diese Anliegen einstehen können. Wir müssen verstehen, was die Betroffenen beschäftigt. 

Wie funktioniert der Austausch?

Wir sind im Austausch mit den Menschen, etwa über unsere jährliche Veranstaltung mit Organisationen für Migrant:innen oder wenn sie uns zum Beispiel über die Webseite des Beirats direkt kontaktieren. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass wir keine direkte Beratung machen, das ist Aufgabe der Stadt und ihrer Fachstellen.

Wird der Ausländer:innenbeirat als Beratungsgremium eingebunden?

Ja. Er ist als beratende Kommission des Stadtrats anerkannt und gut eingebunden. Das ist wichtig, weil 33,7 Prozent der Einwohner:innen der Stadt Zürich kein Stimm- und Wahlrecht haben, aber trotzdem leben, arbeiten und engagieren sich diese Menschen hier und tragen zu den Gemeindesteuereinnahmen bei.

Es sollte also eigentlich selbstverständlicher sein, dass man als Einwohner:in entsprechend mitentscheiden kann.

Trotzdem sagte der Kantonsrat 2023 Nein zum Ausländer:innenstimmrecht. 

Diese Angelegenheit bewegt sich leider in einem langsameren Tempo, als wir uns das vielleicht wünschen. Durch den Entscheid auf kantonaler Ebene bleibt es den Gemeinden verwehrt, eigene Wege zu finden, um diese grossen Teile der Bevölkerung aktiver zu involvieren. Dennoch, wir machen in vielen Aspekten immer wieder Fortschritte und die Zusammenarbeit mit der Stadt läuft dabei sehr gut.

Sie sind seit 2018 Teil des Beirats. Was hat Sie persönlich dazu bewegt, dieses Amt zu übernehmen?

Ich hatte lange Zeit selbst keinen Schweizer Pass – letztes Jahr habe ich mich einbürgern lassen. Das bedeutet auch, dass es meine letzte Legislatur im Ausländer:innenbeirat ist.

Mit 14 Jahren bin ich von Bolivien nach Deutschland migriert und habe selbst erfahren, was es bedeutet, die Sprache nicht zu sprechen. Ich weiss auch, was es bedeutet, wenn aufgrund seiner Herkunft die eigenen Leistungen nicht anerkannt werden. 

Deshalb habe ich mich in der Schweiz im Jahr 2018 entschieden, dem Beirat beizutreten, obwohl ich eigentlich zu 100 Prozent als Partnerin in einer Beratungsfirma im IT-Bereich arbeite und auch eine Familie habe.

«Diversität ist wichtig – auch innerhalb der ausländischen Community.»

Marianne Corvera Charaf, Co-Präsidentin des Ausländer:innenbeirats

Welche Themen beschäftigen Zürcher:innen, die keinen Schweizer Pass haben? 

Die häufigsten Themen sind berufliche Integration sowie Schule, Bildungsgerechtigkeit oder auch Diskriminierung im Alltag. Neben dem direkten Austausch ziehen wir auch immer wieder Statistiken hinzu. 

So können wir die Anliegen statistisch belegen. Beispielsweise stellten wir fest, dass hochqualifizierte, ausländische Frauen oft Jobs ausüben, die nicht ihrer Ausbildung entsprechen. Aus unserer Sicht wären also Talente da, die nicht genutzt werden.

Ein weiteres ist, dass Kinder, die Zuhause kein Deutsch sprechen und die Eltern allenfalls nicht aus einem Bildungsumfeld kommen, fast keine Chance haben, aufs Gymnasium gehen zu können. Ergänzend dazu: In gewissen Quartieren liegt der Anteil der Kinder ohne Deutsch als Erstsprache bei bis zu 70 Prozent. Solche Erkenntnisse nehmen wir auf und bringen sie in unsere Arbeit ein.

Mit welchen Herausforderungen sind Sie dabei konfrontiert?

Der Workload kann manchmal herausfordernd sein. Wir haben Beiratssitzungen, für die wir eine Entschädigung erhalten. Die ganze Arbeit, die vor oder nach den Sitzungen anfällt, ist jedoch ehrenamtlich und wird in Randstunden erledigt, da viele von uns Vollzeitjobs und Familie haben. Doch genau diese Arbeit ist eigentlich der Kern unserer Tätigkeit.

«Kinder mit nicht-deutscher Herkunftssprache brauchen bessere Chancen», findet Marianne Corvera Charaf. (Bild: Isabel Brun)

Zudem sind wir alle sehr unterschiedlich. Egal ob Herkunftsland, Religion, Berufsfelder oder Bildungswege. Diese Verteilung ist natürlich sehr bewusst so gemacht. Die verschiedenen Ansichten können zu Diskussionen führen. Da gilt es, einen gemeinsamen Weg zu finden. Denn schlussendlich vertreten wir nicht einzelne Herkunftsländer, sondern die gesamte ausländische Bevölkerung der Stadt Zürich. Diversität ist wichtig – auch innerhalb der ausländischen Community.

Heute feiert der Beirat sein 20-jähriges Bestehen. Welche Erfolge sind Ihnen besonders wichtig?

Wichtig waren der Beitritt zur Europäischen Städtekoalition gegen Rassismus im Jahr 2007, der auf unsere Empfehlung hin geschah und die Einführung des Runden Tischs gegen Rassismus. Beim Runden Tisch trifft sich die Stadtpolizei Zürich regelmässig mit Akteur:innen aus der Verwaltung und auch der Zivilgesellschaft – so soll ein Austausch gefördert werden.

Das Thema berufliche Integration ist auch etwas, was den Beirat von Anfang an immer begleitet hat. Jüngst haben wir zusammen mit einer Partnerorganisation eine Veranstaltung zur IT-Integration für Ausländer:innen organisiert, woraus sogar ein Mentoring-Pilotprojekt im Bereich der IT entstanden ist. Das ist ein Beispiel dafür, dass es manchmal auch einfach darum geht, die richtigen Leute zusammenzubringen.

Ein weiterer Erfolg ist das Projekt der Schulbotschafter:innen vom Schul- und Sportdepartement, welches wir initiiert haben. Als Pilotprojekt gestartet, zählt es heute zum festen Angebot der Stadt Zürich.

Ziel ist es, dass sich Eltern bei Fragen zum Schulsystem an die Fachstelle melden können und dann in ihrer Sprache beraten werden. Dadurch wird die Chancengerechtigkeit in der Bildung gestärkt und die Kinder können den Weg gehen, der für sie am besten ist.

In welchen Bereichen möchte der Beirat künftig stärker sichtbar werden?

Dem Ausländer:innenbeirat steht nächstes Jahr ein Legislaturwechsel bevor. Es ist dennoch absehbar, dass viele unserer aktuellen Schwerpunkte auch in Zukunft zentrale Themen bleiben: Berufliche Integration, Bildungsgerechtigkeit und das Zusammenleben in der Stadt.

Gerade Kinder mit nicht-deutscher Herkunftssprache brauchen bessere Chancen – das weiss aber auch die Stadt, der Kanton und der Bund. Auch das Thema Diskriminierung verlangt kontinuierliche Aufmerksamkeit und ständige Begleitung.

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