Kunsthaus-Direktorin: «Gleichberechtigung ist keine links-rechts-Frage»

Mit Ann Demeester ist seit 2022 erstmals eine Frau an der Spitze des Kunsthauses Zürich. Im Interview spricht sie über die gesellschaftspolitische Relevanz der Kunst, ihre Führungsposition als Frau und die damit verbundenen Herausforderungen.

Ann Demeester Direktorin Kunsthaus Zürich
Ann Demeester in ihrem Büro in der Jugendstilvilla nahe des Kunsthauses Zürich. (Bild: Jenny Bargetzi)

Ann Demeester rüttelt am Kunsthaus Zürich. Seit Oktober 2022 dirigiert die gebürtige Belgierin als erste Frau in der 115-jährigen Geschichte das grösste Schweizer Kunstmuseum. Sie revolutioniert Konventionen, setzt markante Akzente und bewahrt gleichzeitig das kulturelle Erbe.

Demeester, ehemalige Journalistin und Literaturkritikerin, kommuniziert direkt und prägnant. Kunst bezeichnete sie einst als «Sex fürs Gehirn». Und kaum im Amt, packte sie die heikle Bührle-Sammlung an. Ihre Neuausrichtung polarisierte, doch sie blieb unbeirrt. 2023 lud sie ein feministisches Kollektiv ein, die Sammlung kritisch zu durchleuchten. Das Resultat: eine schonungslose Analyse der Geschlechterungleichheit in den Ausstellungsräumen.

Im Interview spricht Demeester über den Balanceakt zwischen Tradition und Innovation, beschreibt die Herausforderungen als Museumsdirektorin und reflektiert über die Rolle der Kunst in einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft.

Jenny Bargetzi: Sie wurden 2022 vom niederländischen Königshaus zur Ritterin geschlagen und mit dem Offiziersrang ausgezeichnet. Musste zuerst eine Ritterin kommen, um eine Frau Direktorin des Kunsthauses zu werden?

Ann Demeester: Ich hoffe, Zürich hätte mich auch genommen, wenn ich keine Ritterin wäre! Ich denke nicht, dass das eine Rolle gespielt hat. Viele wussten gar nichts von diesem Titel. In der Schweiz als Republik wäre es vielleicht sogar ein Nachteil gewesen. Und ich trage den Orden nicht, bin aber trotzdem stolz darauf.

Warum?

Zum einen war ich nie eine Monarchistin, aber ich habe grossen Respekt für das volksnahe holländische Königshaus. Es versteht seine Rolle im 21. Jahrhunderts und agiert als Vermittler, gerade in Zeiten, in denen die extreme Polarisierung dominiert.

Zum anderen habe ich mich in der Politik und in den Mainstreammedien sehr für die Kultur und Kunst in den Niederlanden eingesetzt und wollte zeigen, dass Kunst in jeder Gesellschaft relevant ist. Wir brauchen Kunst, um unser Denken zu erweitern und zu erkennen, dass es Werte jenseits des Materiellen und rein Funktionellen gibt. Denn wenn wir nur finanziell und instrumentell denken, bleibt wenig Menschliches übrig.

«Frauen sind in unserer Sammlung historisch gesehen schlecht vertreten.»

Ann Demeester, Direktorin Kunsthaus Zürich

Gibt es ein Gemälde oder eine Künstlerin im Kunsthaus Zürich, die für Sie eine solche Stärke symbolisiert?

Frauen sind in unserer Sammlung historisch gesehen schlecht vertreten. Daran können wir nichts ändern, aber wir können die Gegenwart gestalten. Darum freue ich mich besonders auf die 2025 geplanten Ausstellungen von Suzanne Duchamp und Lygia Clark.

Wer waren diese beiden Frauen?

Suzanne Duchamp war die Schwester des Objektkünstlers Marcel Duchamp. Ich bewundere sie dafür, dass sie ihren eigenen Weg gegangen ist, vom Dada-Surrealismus zur figurativen Malerei, auch wenn dieser vielleicht weniger Erfolg versprach. Lygia Clark fasziniert mich, weil sie von geometrischer Malerei zu körperbasierter Kunst und alternativen Therapien gewechselt hat. Sie zeigt, wie wir Kunst nicht nur sehen, sondern vor allem erleben sollten, mit Körper und Geist. Beide Künstlerinnen vollzogen mutige Wechsel in ihrem Schaffen und setzten ihren eigenen Weg durch.

Sie haben es bereits angesprochen, nur wenige der ausgestellten Werke in der Sammlung des Kunsthauses stammen von Frauen. 2019 waren es elf Prozent. Versuchen Sie als Direktorin, mehr Frauen hervorzubringen?

Das kann ich nicht alleine, das geschieht institutionell. Vielleicht ist es historisch gesehen schwierig, Künstlerinnen zu sammeln, da es zum Beispiel im 17. Jahrhundert weniger gab, weil sie nicht die Möglichkeit dazu hatten, sich zu positionieren. Aber jetzt ist und sollte es für uns selbstverständlich sein. Denn Gleichberechtigung ist keine links-rechts-Frage oder Ideologie, sondern ein menschlicher Wert, der Humanismus. 

Wie setzen Sie das um?

Wir suchen ständig nach einem Gleichgewicht in der Sammlung und bei Ausstellungen. Das bedeutet nicht, männliche Künstler – weisse, heterosexuelle, ältere Europäische Männer – zu diskriminieren, sondern eine ständige Diskussion darüber zu führen, welche Entscheidungen wir treffen und was das bedeutet. Das ist Dauerarbeit, keine einmalige Aktion. 

Sie haben 2023 mit dem feministischen Künstlerinnenkollektiv Hulda Zwingli zusammengearbeitet und sie aufgefordert, die Sammlung kritisch zu betrachten. Daraufhin wurde das Kunsthaus Zürich für die mangelnde Vertretung von Künstlerinnen kritisiert. Das ist mutig.

Unsere Intention war aufrichtig, für uns war es kein Gelegenheitsprojekt. Und ich fand es toll von Hulda Zwingli, auf die Einladung einzugehen. Ihre Ausstellung war für uns sehr spannend, weil sie Aspekte in unserer Sammlung gesehen und gezeigt haben, die wir nicht beachtet hatten. Das hat uns neue Perspektiven eröffnet. Wir konnten zeigen, dass wir uns weiterentwickeln und für Erweiterungen offen sind.

Sie betonen in Interviews immer wieder die gesellschaftspolitische Relevanz der Kunst. War das von Anfang an Ihre Ansicht?

Das ist langsam gewachsen. Anfangs war ich mehr auf Ästhetik ausgerichtet und sehr narrativ unterwegs. 

«Kunst mit einer politischen Dimension ist nicht automatisch links, traditionell ästhetische Kunst nicht rechts.»

Ann Demeester, Direktorin Kunsthaus Zürich

Sie sind ja auch Literaturwissenschaftlerin.

Ja, das stimmt. Im Rückblick erkenne ich die politische Dimension der Kunst, die ich bewundert habe oder die wir als Gesellschaft bewundern. Zum Beispiel James Ensor, der belgische Künstler. Er lebte für expressive Linie und Farbe, war Bourgeois und gleichzeitig Anarchist. Seine Kunst war eine Antwort auf die Gesellschaft. Oder Gustave Courbet, der französische Maler, der auf den ersten Blick nicht politisch erscheint, es aber durchaus war. Die sozialpolitische Dimension der Kunst ist für mich selbstverständlich geworden.

Warum?

Künstler:innen leben nicht isoliert auf einer Insel, wo es nur Schönheit und Form gibt, sie sind Teil unserer Gesellschaft. Politik in der Kunst ist ein Spektrum, das wir als Museum aufzeigen sollten. Ein eindimensional programmiertes Museum hat zwar einen klaren Stil, spiegelt aber nicht die Vielfalt der Kunst wider.

Wir möchten diese Vielfalt selbstverständlicher machen, ohne dass es als ideologisch gilt. Kunst mit einer politischen Dimension ist nicht automatisch links, traditionell ästhetische Kunst nicht rechts. Das Schöne an der Kunst ist ihre Multidimensionalität und dass man sie manchmal nicht eindeutig einordnen kann. «Not everything is what it seems». Das macht Kunst so spannend.

Im Literaturclub haben Sie Menschen, die andere voranbringen, als «Enablers» bezeichnet. Sind Sie und Ihr Team auch solche Enablers?

Ja, eigentlich schon, das liegt in der Natur der Museumsarbeit. Wir sind ein Medium, eine Plattform oder Schnittstelle. Wir versuchen, die künstlerische Praxis der Vergangenheit und Gegenwart so vielen neugierigen Besucher:innen wie möglich zu zeigen. Dieses Enabling findet dabei auf beiden Seiten statt: Wir machen die künstlerische Praxis sichtbar und sorgen dafür, dass sich die Leute eingeladen fühlen, sich die Ausstellungen anzuschauen, ohne dass sie dafür Vorwissen benötigen.

Immer mit Ihrem Motto «Traditionen neu denken» im Hinterkopf. Wie spiegelt sich das sonst noch in Ihrer Arbeit wider?

Wir gestalten Projekte auf zwei Ebenen: Zum einen in den Ausstellungen selbst, indem wir bekannte Künstler wie Ferdinand Hodler,von dem viele glauben zu wissen, wofür er steht und welche Werte er vertritt, auf eine neue Art zeigen. Seine Person und sein Werk sind sehr vielschichtig: Er war sehr fortschrittlich, wenn auch konservativ, wenn es um Frauen ging. Wir wollten einen so ikonischen, traditionellen Künstler aus einer neuen Perspektive zeigen.

Zum anderen geht es darum, wie wir Ausstellungen machen und präsentieren, indem wir zum Beispiel Vincent van Gogh mit dem jungen Künstler Matthew Wong kombinieren. Van Gogh wird nicht in einer Einzelstellung gezeigt, sondern im Dialog mit seinem Nachleben. Auf diese Weise vernichten wir nicht die Tradition, sondern verbinden sie mit unserer Zeit. In unserer Institution wird das Erbe gepflegt, aber es muss mit der Gegenwart vereinbar sein.

Ihre erste grosse Ausstellung war jene von Marina Abramović. Sie gilt als eine der bedeutendsten und einflussreichsten Künstlerinnen der Gegenwart und hat die Rolle der Frau in der Kunst neu definiert und gestärkt. Warum haben Sie mit einer so prominenten weiblichen Künstlerin begonnen?

Der primäre Grund war, dass sie die Kunstform der Performance als Mainstream etabliert hat. In der Kunstwelt weiss jeder, was eine Performance ist, aber ausserhalb der Kunstwelt ist es immer noch eine neue Form, dass man eine momentane Aktion mit seinem Körper macht und das dann Kunst ist. Marina Abramović hat dafür gesorgt, dass mehr Menschen diese Kunstform kennenlernen, zum Beispiel durch ihre Ausstellung im Museum of Modern Art in New York (MoMA).

Und ihre Arbeit hat sich verändert, vom Fokus auf sich selbst, ihren Körper, ihre Grenzen testen, hin zum Einbeziehen des Publikums. Abramović will die Menschen dazu befähigen, ein Gefühl des Wohlbefindens oder zumindest einen Zugang zu sich selbst zu finden. Zudem war es an der Zeit, sie in Zürich zu zeigen, vor ihrem Tod. Es ist spannend, mit einer lebenden Künstlerin den Moment noch mitzugestalten.

Wie erleben Sie als Frau die Führungsposition im Kunsthaus Zürich im Vergleich zu den Niederlanden?

Nach zwei Jahren in Zürich kann ich das nicht mit Sicherheit sagen. Aber vielleicht ist es hier weniger selbstverständlich als in den Niederlanden. Wenn ich mir die Kunstmuseen in der Schweiz anschaue, sehe ich viele Frauen in Führungspositionen, aber in Wirklichkeit sind wir wahrscheinlich immer noch in der Minderheit. Nächste Woche wird im Auftrag der Müller-Möhl Foundation eine neue Studie über Frauen in der Kunst in der Schweiz veröffentlicht. Ich habe sie noch nicht erhalten, aber die Ergebnisse sollen enttäuschend sein.

«Als Frau muss man alles zugleich sein: empathisch und stark, visionär und gut zuhörend, charmant und kräftig.»

Ann Demeester, Direktorin Kunsthaus Zürich

Denken Sie, dass sich in der Kunstwelt diesbezüglich etwas verändert hat?

Es hat sich definitiv etwas verändert, es ist keine reine Männerwelt mehr. Durch den Generationswechsel haben sich auch andere Werte eingeschlichen. Die Kunstwelt ist kollaborativer geworden. Man denkt mehr darüber nach, wie man zusammenarbeiten kann, statt territorial gegeneinander zu agieren. Es gibt mehr Fokus auf «Soft Power», Nuancen und Differenzierung.

Als Frau bleibt aber die grosse Herausforderung, dass man alles zugleich sein muss: empathisch und stark, visionär und gut zuhörend, charmant und kräftig. Von Frauen erwartet man mehr Multidimensionalität als von Männern. 

Dieser zusätzliche Druck auf Frauen kann aber auch positiv sein, da man verschiedene Aspekte seiner Persönlichkeit entwickeln kann und nicht in ein starres Muster passen muss.

Wie die Kunst. 

Genau.

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2025-01-07 Jenny Bargetzi Portrait-23 (1)

Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich und Masterstudium in Politischer Kommunikation an der Universität von Amsterdam. Einstieg in den Journalismus als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Danach folgten Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter, anschliessend ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freie Journalistin für den Beobachter und die «Zeitung» der Gessnerallee seit 2025 als Redaktorin zurück bei Tsüri.ch.

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Kommentare

rm
06. März 2025 um 17:37

extreme Grundstrukturen

Mich stört am westlichen Kunstbetrieb, dass er zu sehr extremer Finanzkraft und dementsprechenden Machtgefügen und Machtinteressen ausgesetzt ist und darum gar nicht nicht-ideologisch sein kann, sondern immer machtinteressengeleitet und ideologisch. Das ist seit den letzten 30 oder 40 Jahren tatsächlich extrem geworden und zerstört Kunst und Kultur. Solche Blue-Chip-Museen wie das Zürcher Kunsthaus oder andere sind Beispiele davon. Die Themen des inneren Kunstdiskurs wie Gleichberechtigung et cetera verschleiert diesen Blick auf die Organisations- und Produktionsbedingungen insgesamt, zumal Frauen genauso wie Männer Machtinteressen verfolgen. Aber das Thema ist wohl zu "heiss", d.h. zu gefährlich. Die Grundstrukturen einer homogenen Gruppe zu kritisieren und sichtbar zu machen ist immer gefährlich, ob es sich um den Kunstbetrieb, die Kirche, ein Verein, einen Nationalstaat oder eine transnationale Vereinigung handelt.