Kultur während Corona: Vom Theater zum Performance-Supermarkt

Kulturelle Grundversorgung kauft man zurzeit jeweils wochentags von sieben bis elf Uhr abends im «7/11-Performance-Supermarket» des Theater Neumarkts. Allein in einer Box erhält man gegen Münzeinwurf 15-minütige Einblicke in Performancestücke. Die sind nicht immer leicht verdaulich, machen aber Lust auf mehr.

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Bild: Philip Frowein

«Ich bitte die Nummern 13, 14 und 15, vor den Eingang des Theatersaals zu kommen», sagt ein Mann mit schwarzem Mundschutz und Megaphon. Ich habe die 13 und werde deswegen als erster von einem weiteren maskierten Angestellten an meinen Platz geführt, einer auf beiden Seiten verspiegelten Boxen. Ich setze mich auf das schwarze Ledersofa in der Mitte des Raumes. Vor mir steht ein Münzautomat, dahinter ein schwarzer Vorhang. Ich werfe eine Goldmünze ein. Der Vorhang geht auf, Bühne frei.

Im Kanaken-Beautysalon

Auf der Bühne, im Grunde auch ein Kubus, der von zwei weiteren Boxen flankiert wird, in denen das Publikum sitzt, schneidet eine blondhaarige Frau (Yara Bou Nassar) einem Mann (Alireza Bayram) die Haare. Der Mann hält ein Handy vor dem Gesicht und redet via Instagram mit einer Frau (Tina Keserovic). «Was ist ein Kanake?», fragt die Stimme aus dem Telefon. Ich lerne, dass das Wort Ursprünglich ein abschätziger Begriff für Seemänner aus der Südsee war. Deutsche hingegen nenne man «Kartoffeln». Ich wäre am liebsten eine Aubergine. Themenwechsel. «Ein Haircut bezeichnet auch die Hyperinflation der Währung», sagt die blonde Frau und schneidet dem Mann ein grosses Büschel Haare ab. Das passiere gerade im Libanon. «Die ganze Wirtschaft steht vor dem Kollaps.» Zwei Minuten Später squatte ich zusammen mit den anderen Zuschauer*innen wie ein «Tschutsch» auf dem Boden, das sei auch gut zum Kacken. Tschutsch, so bezeichnet man in Österreich, ebenfalls abschätzig, Immigrant*innen aus dem Osten, lerne ich von der Frau am anderen Ende der Leitung.

Wie ich mit diesen improvisierten Eindrücken umgehen sollte, ist mir nicht ganz klar. Die Performance, die mir anfangs noch ein bisschen stockend schien, funktioniert aber gerade wegen der kleinen Fehler, die sich einschleichen, gut. Die Projektion des Livechats auf die Wand hinter den beiden Schauspieler*innen ist um einige Sekunden verzögert, was einen ungewollten Verzerrungseffekt verursacht. Mehrmals setzt die Interverbindung aus. Die Schauspieler*innen schauen verdutzt ins Publikum. In der Realität funktioniert eben nicht alles wie geplant.

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Bild: Philip Frowein

Mehr Penisse

Nachgespräch im Foyer. Ich frage eine junge Frau, was sie gerade gesehen hat. «Einen Raum mit Zettelchen an der Wand», sagt sie, «darauf lauter Skizzen von Penissen.» Auf einem Zettel stand: «Ich will Sperma, so viel ich möchte.» Irgend etwas muss da vorher passiert sein, aber sie weiss nicht genau was. Glücklicherweise setzt sich in dem Moment Ilknur Bahadir zu uns. Es ist ihr Stück. Was hat es mit diesen Penisskizzen auf sich? «Ich habe diesen wunderschönen Mann gezeichnet.» Sie blickt auf den grossen, schlanken Mann mit kantigem Gesicht und stechenden blauen Augen neben ihr, eines ihrer Aktmodele. «Ich liebe Penisse, das ist Feminismus. Und ich liebe Sperma.» Für solche Aussagen kassiere sie immer wieder komische Blicke. Als Nicht-Biodeutsche kritisiere sie die Engführung des europäischen Feminismus auf die Vulva. «Aber Penisse sind doch überall, überall sind Phallussymbole. Nur das weibliche Geschlechtsorgan bleibt verborgen», entgegne ich ihr. «Nein, Vulvas sind überall. Pornos sind voll davon.» Was in ihren Augen Ziel des Feminismus sei, frage ich. «Die Vergötterung des Penisses. Das ist das Ziel feministischer Kunst». Daraufhin muss sie los, auf den Zug zurück nach Basel. Und ich in die nächste Performance: «Die Nummern 19, 20 und 21 bitte vor den Eingang des Saals....»

7/11-Performance-Supermarket im Theater Neumarkt

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