Kündigung für Bewohner:innen von drei Sugus-Häusern – wegen Totalsanierung
Im Röntgenareal müssen weit über 200 Mieter:innen überraschend ihre Wohnungen verlassen. Viele von ihnen fühlen sich von der Verwaltung im Stich gelassen.
«Wir wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute und hoffen, dass Sie schnell ein neues Zuhause finden.» Ein nüchterner Satz, der weit in das Leben der Mieter:innen der Neugasse 81, 83 und 85 einschneidet. Laut Berechnungen von Tsüri.ch könnten bis zu 270 Personen betroffenen sein. Sie alle müssen für immer ihre Wohnungen verlassen – bereits auf Ende März. Denn die drei Sugus-Häuser, einst als Vorzeigeprojekt für erschwinglichen Wohnraum gedacht, sollen totalsaniert werden.
Einer, der von der Kündigung betroffen ist, ist Theo Manser. Sein Name wurde für diesen Text geändert. Er, seine Frau und zwei Kinder im Alter von neun und elf Jahren leben seit zehn Jahren in einer Wohnung an der Neugasse. Die Kündigung kam für sie, wie für die anderen Mieter:innen, aus dem Nichts, Anzeigen dafür gab es keine. «Gestern wurde einer nach dem anderen vom Pöstler herausgeklingelt, um die Kündigung in Empfang zu nehmen», erzählt er. «Das, obwohl die Häuser funktionieren. Sie sind zwar günstig gebaut, aber sie erfüllen ihren Zweck.»
«Es ist ein grausames Weihnachtsgeschenk.»
Bewohnerin der Sugus-Häuser
Wie Manser muss auch Hanna Camenisch ihre Dreizimmerwohnung bis Ende März verlassen. Ihr Name wurde ebenfalls geändert. Camenisch ist 71 Jahre alt und Rentnerin. Sie lebt mittlerweile seit 18 Jahren im Röntgenareal. Bereits zehn Jahre zuvor wohnte sie im Quartier, auf der anderen Seite der Langstrasse.
Camenisch betont, dass ihre Wohnung in einem guten Zustand sei – Anfang Jahr wurden die Wände sogar frisch gestrichen. Und das Quietschen der vorbeifahrenden Züge störe sie nicht. Auch nicht der Lärm der Partygänger:innen, die durch das Quartier zum nächsten Club ziehen würden, sagt Camenisch. Die Fenster seien «tipptopp» und isolierten gut.
«Die Kündigungen sind eine Sauerei», sagt Hanna Camenisch. «In der Siedlung leben viele Familien, deren Kinder hier zur Schule gehen.» Daneben seien auch sozial benachteiligte Menschen und Personen mit Beeinträchtigungen, die auf barrierefreien Wohnraum angewiesen sind, betroffen. «Es ist ein grausames Weihnachtsgeschenk.»
Die Methode Bachmann
Die Siedlung Röntgenareal entstand auf Grundlage eines Wettbewerbsprojekts. Die SBB spielten bei der Vergabe des Projekts eine entscheidende Rolle. Sie legten beim Verkauf des Grundstücks Anfang der neunziger Jahre fest, dass sowohl Bürogebäude als auch Wohnbauten auf dem Gelände realisiert werden sollten.
1998 stiess Leopold Bachmann, Bauingenieur und Unternehmer, als Bauherr zum Projekt hinzu. Er verfolgte für den Bau der Häuser an der Neugasse ein Ziel: viele Wohnungen für wenig Geld.
Es entstanden neun siebengeschossige Würfel, bunt wie Kaubonbons, einige davon mit Graffitis besprüht, die direkt an den Gleisen des Zürcher Hauptbahnhofs stehen. Je 35 Wohnungen, plus zwei zusätzliche, von 1.5 bis 5.5-Zimmer, 2010 zwischen 910 und 2115 Franken. Gebaut wurden die insgesamt 317 Wohnungen in nur wenigen Monaten.
Die Siedlung Röntgenareal galt als Symbol für eine neue Bauweise und erschwinglichen Wohnraum in zentraler Lage.
Bachmann baute bereits in den 1970er-Jahren Wohnsiedlungen in Zürich. 5000 Wohnungen waren es bis zu seinem Tod im Jahr 2022. Zusätzlich gründete er die Leopold Bachmann Stiftung, die sich aus einem Teil der Immobilienerträge weltweit für soziale Hilfswerke und Projekte einsetzt.
Bachmanns Strategie zum günstigen Bauen brachte ihm nebst dem Titel «Billigbauer der Nation» auch Kritik ein. Bauexpert:innen warnten, dass die Verwendung kostengünstiger Materialien und schneller Bauweisen die Wohnstandards und die Bauqualität gefährden könnten. Eine Langzeitstudie im Auftrag der Stadt Zürich aus dem Jahr 2010 bestätigte letztere Bedenken und stellte fest, dass einige Bewohner:innen mit der Qualität unzufrieden waren. Doch sie zeigte auch, dass die Sugus-Häuser bei den Bewohner:innen dennoch beliebt blieben.
Wider den Willen des Vaters
Trotzdem liess Regina Bachmann, Tochter von Leopold Bachmann und die neue Eigentümerin der drei Sugus-Häuser, die Bausubstanz und die Modernisierungsstandards der Liegenschaften 81, 83 und 85 neu bewerten. Die Liegenschaften seien in die Jahre gekommen, heisst es im Kündigungsschreiben vom 28. November, und würden darum totalsaniert werden.
Die tiefgreifenden Instandsetzungsarbeiten seien unumgänglich, um den Wohnstandard an die aktuellen Bedürfnisse anzupassen und zukunftsorientiert zu optimieren.
Und diese Arbeiten sind durchaus umfassend: Küchen, Bäder, Treppenhäuser und Leitungen werden erneuert, alte Wand- und Bodenbeläge ausgetauscht. Geplant ist zudem, die Grundrisse anzupassen: Die 1.5-Zimmer-Wohnungen werden auf 2.5 Zimmer erweitert, die 5.5-Zimmer-Wohnungen schrumpfen auf 4.5 Zimmer.
Die Entscheidung überrascht, galt die Siedlung doch bisher als ideal für Familien, gerade wegen ihrer grossen Wohnungen. Der Architekt Leopold Bachmann sagte einst in einem Interview im Heft «Stadtblick» der Fachstelle für Stadtentwicklung Zürich: «Ich fühle mich ein bisschen verpflichtet, Wohnungen für Familien zu bauen, die sonst keine Wohnung finden würden, die zahlbar ist.»
Trotz dieser Absicht werden Ende März Menschen wie Hanna Camenisch und Theo Manser aus ihren Wohnungen vertrieben.
«Das Röntgenareal ist unser Dorf, die Josefwiese unser Park, die Nachbarn unsere Freund:innen», sagt Manser. «Auf die Schnelle in ein anderes Quartier oder gar in eine andere Stadt ziehen zu müssen, fühlt sich so fremd an, wie auf den Mars zu gehen. Wir haben grosse Angst.»
Angst spürt auch Camenisch. Mit einer AHV-Rente habe sie Schwierigkeiten, eine neue, bezahlbare Wohnung in Zürich zu finden – in so kurzer Zeit. Selbst wenn sie bereit sei, auf eine kleinere Wohnung umzusteigen.
Ein bekannter Firmeninhaber
Die Massenkündigungen im Röntgenareal werfen Fragen auf. Insbesondere in Bezug auf den Wechsel der Verwaltung. So erhielten die Mieter:innen der Neugasse 81, 83 und 85 Anfang Juni ein Schreiben von der Verwaltung Simo Immobilien GmbH, dass sich diese ändern werde, zusammen mit der Besitzerin. In einem Schreiben, datiert auf den 6. September, informierte die neue Verwaltung Allgood Property AG die Mieter:innen über eine Mietzinserhöhung um zehn Prozent ab Anfang 2025.
Fragen werfe auch die Allgood Property AG auf, sagt Theo Manser. Gegründet wurde sie 2021 von Goran Zeindler, der als Inhaber agiert. Zeindler ist bei neun Firmen als Gründer aufgelistet, die meisten dieser sind im Bereich der Immobilienentwicklung und Bauwesen tätig. Das kam in der Vergangenheit nicht immer gut an. Bereits mehrfach stand er wegen seiner geschäftlichen Praktiken in der medialen Kritik.
Das Vertrauen in die Verwaltungsfirma sei gebrochen, sagt Manser: «Plötzlich steht der Pöstler mit einem Stapel Kündigungsbriefen von Allgood im Quartier. Es ist ironisch – nichts ist hier gut.»
«Wir als Verwaltung sind nicht das Problem, sondern die Gesellschaftspolitik und die Stadtentwicklung.»
Vertreter der Allgood Property AG
Gleichzeitig sei unverständlich, warum alle drei Häuser gleichzeitig saniert werden sollen, anstatt eine Teilsanierung durchzuführen. Ein Vertreter der Allgood Property AG erklärt auf Anfrage: «Die Kernsanierung erfolgt aus Kostengründen.» Dadurch könnte die Bauzeit verkürzt und Materialkosten gespart werden. Alte Baumaterialien würden durch ökologische Alternativen ersetzt und die Wohnungsgrössen an die Marktnachfrage angepasst werden. Laut dem Vertreter ist es «besser, alles einmal richtigzumachen, als Pflästerlipolitik zu betreiben».
Trotzdem, sagt der Vertreter, ziele die Totalsanierung nicht darauf ab, Renditen möglichst schnell zu erhöhen. «Wir können noch nicht einmal sagen, wie viel die Wohnungen am Ende kosten werden oder wie sich das auf die Mietzinsen auswirken wird.» Das sei erst mit dem Baufortschritt zu beziffern.
«Wir als Verwaltung sind nicht das Problem», sagt er. «Sondern die Gesellschaftspolitik und die Stadtentwicklung.»
Dennoch sei man den Mieter:innen entgegengekommen und habe ihnen einen zusätzlichen Monat Zeit eingeräumt.
Wie viele Mieter:innen tatsächlich von den Kündigungen betroffen sind, konnte der Vertreter nicht sagen. Auch nicht, ob die anderen sechs Sugus-Häuser ebenfalls umgebaut werden sollen. Diese unterliegen noch immer der Verwaltung Simo Immobilien GmbH.
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