Mensch, polarisier’ dich nicht!

Wir sollten die Polarisierung nicht als Kampf wahrnehmen, heisst es in einem Buch, das Jane Mumford aktuell liest. Eine Perspektive, die unserer Kolumnistin Bauchschmerzen bereitet – und doch empfiehlt sie die Lektüre weiter.

Polarisierung
Die Polarisierung beschäftigt unsere Kolumnistin – deshalb liest sie aktuell ein Buch dazu. (Bild: Unsplash)

«POLARISIERUNG!» Kriegt ihr auch gleich einen Knopf im Magen, wenn ihr dieses Wort lest? So ein richtig harter Fondue-Knopf?

Wer News konsumiert, kommt kaum an diesem Wort vorbei. Und bei der Masse an News, die täglich auf uns herunterprasselt, kommt unser Magen kaum nach mit Verdauen! «Polarisierung hier, Polarisierung da, alles wird schlimmer, nichts kann es aufhalten.» Uff. Schade, gibt’s kein Digestif fürs Hirn.

Darum versuche ich, auch ab und zu auch Slow-News zu konsumieren! Die gärt länger, die ist auch besser verdaubar, und sogar nahrhafter. Ich spreche natürlich von: Büchern. Bücher dauern nicht nur sehr lange zum Schreiben, sie dauern auch sehr lange zum Lesen!

Und genau deshalb erlösen sie mich vom hektischen und nervenaufreibenden «JETZT!» des Tagesaktuellen und lassen mich Themen mit mehr Ruhe verdauen.  Zum Beispiel eben: diese Polarisierung zwischen Menschen. Uff.

Momentan lese ich, meiner Verdauung zuliebe «Ten conversations we’re scared to have» von Deborah Frances-White. Das Buch behauptet, wir sollten diese Polarisierung zwischen Menschen nicht als Kampf wahrnehmen.

Wir sollten es auch innerlich nicht so kategorisieren (und schon gar nicht so inszenieren!), denn daraus entstünde kein Verständnis, kein gutes Gespräch – und auch kein innerer Wandel.

Es kann so unendlich schwer sein, mit Menschen zu sprechen, ohne sich innerhalb von den ersten drei Sätzen auf die Palme treiben zu lassen. Darum erstaunt es mich nicht, wenn einige Menschen sagen: wenn jemand aus einer provozierenden Grundhaltung heraus mit mir über etwas diskutieren möchte, dann mache ich nicht mit.

Ich tue mir das nicht mehr an. Ich verweise sie auf Google, oder Wikipedia, auf YouTube (ok vielleicht besser nicht auf YouTube, dort radikalisieren sie sich wohl noch weiter) oder, eben, am besten: AUF EIN BUCH!

Wobei sich provokationsfreudige Menschen wohl kaum die Zeit nehmen würden, sich mit einem ganzen Buch über ein Thema, welches sie ärgert, auseinanderzusetzen. Warum auch? Am Ende entwickelt man noch Verständnis mit den Feind:innen, was die eigene moralische Überlegenheit infrage stellen könnte. Im schlimmsten Fall müssten man sogar einräumen, Empathie mit der polaren Gegenseite zu empfinden. Und was käme dann?!

Was mich an Frances-White’s Buch am kontroversesten dünkt, ist ihre Überzeugung der Notwendigkeit der unendlichen Geduld.

Gemäss der Autorin müssten wir uns immer von Neuem mit einer komplett unvoreingenommenen Haltung auf genau die Menschen einlassen, die schnaubend mit Argumenten auf uns zurennen, aus denen jede:n Psycholog:in von weiter Entfernung Verlustangst und eigene Unsicherheit herausriechen könnte.

«Müssten wir jetzt doch wieder mit Nazis ein Bier trinken gehen?!»

Jane Mumford

Kann mir die Autorin wenigstens verraten, von welcher höheren Macht wir diese innere Ruhe schöpfen sollten? Woher wir die Empathie hervorzaubern sollten, um uns in die Schuhe von jemandem zu versetzen, dessen Weltsicht die Existenzberechtigung vieler unserer Freund:innen abspricht?

Will die Autorin etwa behaupten, wir müssten jetzt doch wieder mit Nazis ein Bier trinken gehen?!

Ich will nichts spoilern – kann ich auch nicht, denn mir fehlen die letzten drei Kapitel, wie gesagt: SLOW! – aber wisst ihr was? Ich kann das Buch jetzt schon empfehlen.

Ja, ich weiss, das klang bisher nicht wie eine Empfehlung! Aber genau das ist es, was am Buch besticht: wie sich das Hirn windet und wehrt gegen einige ihrer Argumente, ist wie psychisches Stretching. Es ist ein Marathonlauf mit angehaltener Luft, mit Fragezeichen links und rechts der Rennbahn, mit weniger als einem kleinen Licht am anderen Ende des Argumenttunnels.

Und ich bin immer noch am Joggen, ein Buch ist ein Marathonlauf und kein Sprint – zum Glück! Diese Diskussion gibt es schon auch in unter 140 Zeichen zu lesen, aber Entschleunigung war ja das Ziel. Langsam verdauen.

Am anderen Ende des Buches angekommen erwarte ich nicht, dass ich eine 180 Grad andere Denkweise haben werde als am Anfang. Aber ich mache mir jetzt schon sehr viele Gedanken dazu, warum ich so denke, wie ich denke.

Das fühlt sich an, wie wenn ein Teig, der schon lange an der Luft steht und aussen hart wurde, wieder neu durchgeknetet wird. Und der Gärungsprozess, der dabei neu angekurbelt wird, ist unsere Auseinandersetzung mit uns selbst.

Vielleicht ist dieser Knoten im Magen ja genau der Teig, den wir kneten müssen, damit er leichter zu verdauen wird. Vielleicht hält diese Metapher überhaupt nicht, was sie verspricht – ich bin keine Bäckerin!

Aber was klar ist: wenn ich am Ende dieses Buches immer noch dasselbe denke wie am Anfang, dann weiss ich wenigstens etwas klarer warum. Und argumentiere fortan mit dem saftigsten Sauerteigbrot aller Zeiten.

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