Raoul Meier: «Schwamendingen ist nicht so geschniegelt wie der Rest von Zürich»

Während es für die einen ein «Problemquartier» ist, feiern die anderen die kulturelle Vielfalt, die in Schwamendingen gelebt wird. Für den Filmemacher Raoul Meier ist klar: Sein Zuhause ist so, wie eine Stadt sein sollte. Unverblümt – also offen, ehrlich, direkt.

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Raoul Meier wohnt seit 20 Jahren in Schwamendingen und hat sogar eine Dokumentation über den Kreis 12 gedreht. (Bild: Lara Blatter)

Lara Blatter: Will man über Schwamendingen sprechen und das Quartier verstehen, soll man mit der kürzlich verstorbenen Quartiervereinspräsidentin Maya Burri sprechen. Das sagten viele Bewohner:innen des Kreis 12. Jetzt sitze ich hier mit Ihnen. Wer war Maya Burri?

Raoul Meier: Sie wusste alles und kannte alle im Quartier, bei ihr liefen die Fäden zusammen. Für mich ist sie die Königin von Schwamendingen und zwar nicht im hierarchischen Sinne, dass sie alles regierte. Sie hat ihre Meinung stets deutlich kundgetan, aber gleichzeitig war sie eine leidenschaftliche Schwamendingerin, die einen Grossteil ihrer Energie ins Quartier investierte. Als SP-Politikerin frass sie den Narren am Quartier, sie war 16 Jahre lang für die SP im Gemeinderat. 

Im Kreis 12 ist die SP, seit es den Kreis gibt, die stärkste Partei. Dennoch galt der Kreis lange als SVP-Hochburg der Stadt Zürich, wobei deren Wähler:innenanteil seit den letzten beiden Gemeinderatswahlen rapide sank. 2014 wählten noch knapp 28,6 Prozent die Volkspartei, 2022 waren es schon zehn Prozent weniger. 

Die Parteien agieren hier nicht nur gegeneinander. Man findet auch zwischen rechts und links immer einen Kompromiss. Dafür hat sich Maya Burri eingesetzt. Ging es etwa um den Abbau von Parkplätzen, so vertrat sie in erster Linie das Quartier und war nicht immer der gleichen Meinung wie die Partei, für die sie politisierte. Zudem ist auch die Chilbi ein wichtiges Bindeglied für die Parteien. Der Austausch zwischen SVP und SP geschieht an der Chilbi, ziemlich ungezwungen am Bratwurststand.

Warum ist die Chilbi, die es seit 1972 gibt, so wichtig?

Die Schwamendinger Chilbi ist der heilige Gral. Von der Pfadi über den türkischen Elternverein bis hin zur SVP sind alle da. Es ist keine «normale» Chilbi, sie ist ein Gemisch aus Chilbi, Klassenzusammenkunft, Politik und Vereinskultur. Das macht den Anlass so speziell. Und sie ist nicht so professionell und kommerzialisiert. Damit alle an der Chilbi sein können, gibt es einen Preisdeckel: Zehn Franken für ein Bier geht nicht. 

«Schwamendingen mag nach Aussen vielleicht asozial wirken, aber es muss einen nicht kümmern, wie man aussieht – das ist auch Lebensqualität.»

Raoul Meier

Nebst der Chilbi hat Schwamendingen sogar eine eigene Dokumentation.

Ja, zum 50. Jubiläum vom Kreis 12 habe ich 2021 zusammen mit Matthes Schaller die Doku «K12 – Der Film» gedreht. Im Zuge dessen haben wir mit Bewohner:innen, Stadtentwickler:innen und Architekt:innen gesprochen und wollten so aufzeigen, wie sich das einstige Bauerndorf zu einer kleinen Stadt entwickelte. In Schwamendingen prallen so viele Realitäten aufeinander. Zum Beispiel haben wir einen der wenigen Landwirten von Schwamendingen interviewt und waren mit einer Musikerin unterwegs, die bereits als Teenager übers Quartier rappte und davon singt, «wie krass» der Kreis 12 ist. 

Wollten Sie mit der Doku mit Vorurteilen aufräumen?

Die Vorurteile waren der Antrieb für das Projekt. Aber wir wollten auch aufzeigen, wie sich das Quartier verändert. Heute entwickelt sich der ganze Kreis 12 zu einem modernen und anonymeren Vorstadtquartier. Es wird verdichtet und immer mehr Menschen wohnen hier. Schwamendingen wird seine romantische, alte Identität wohl kaum behalten.

Was ist denn die Identität von Schwamendingen?

Die Menschen und die Vereine. Es gab früher mal einen Stripclub, einen Jelmoli und ein Kino. Alle Betriebe haben aber nicht überlebt. Der Kreis 12 ist ein Wohnquartier. Mit dem Wachstum wird es vielleicht das eine oder andere kulturelle Angebot mehr geben, aber damit das Quartier seinen Charme behält, braucht es vor allem Vereine oder andere Initiativen der Bewohner:innen. Sie bringen die Menschen zusammen. Lange war es selbstverständlich, dass man sich engagiert. Heute hat kaum mehr jemand Zeit für Freiwilligenarbeit. Das Vereinssterben betrifft zwar nicht nur den Kreis 12, das Phänomen ist in der ganzen Schweiz zu beobachten, aber für Schwamendingen ist es besonders gefährlich. Ein gutes Beispiel ist die Chilbi, wir finden nur schwer genügend Vereine, welche sie mitgestalten.

Schwamendingen sei grossstädtischer als Zürichs Innenstadt, heisst es in der Dokumentation. Wieso?

Schwamendingen ist ein unverkrampftes Quartier. In der Doku beschreibt das eine Zuzügerin aus Holland damit, dass die Menschen wie in amerikanischen Grossstädten in Trainerhosen einkaufen gehen. Das mag nach Aussen vielleicht asozial wirken, aber es muss einen nicht kümmern, wie man aussieht – das ist auch Lebensqualität. Schwamendingen ist nicht so geschniegelt wie der Rest von Zürich.

Amerikanische Grossstadt ist ein gutes Stichwort. Die «Bronx von Zürich» wird der Kreis 12 auch genannt. Oder Bauerndorf, Gartenstadt, Aufsteiger:innenquartier, Armenviertel, Vorstadt – Schwamendingen scheint sehr viele Zuschreibungen zu haben. 

Es ist jedenfalls divers. Für die Dokumentation haben wir mit vielen migrantischen Menschen gesprochen. Und mir wurde bewusst: Es gibt auch ein anderes Schwamendingen als nur die idyllische Gartenstadt. Einer erzählte, dass man, wenn man von hier stammt, sich doppelt beweisen müsse. Die Postleitzahl sei bei ihm in Kombination mit einem nicht typisch schweizerischen Namen bei Bewerbungen immer wieder ein Problem gewesen. Die Rapperin Dara Deep hat mir nochmals ein anderes Bild vermittelt. Sie erzählte von Gruppen und Gangs, die dealten und den Schwamendingerplatz beherrschten. Das darf man nicht unterschätzen. Aber auf der anderen Seite, wo gibt es das in Zürich nicht? 

«Macht mir nicht zu viel Imagewerbung!», hiess es, als wir unsere Redaktion für eine Woche in den Kreis 12 verlegten. Der schlechte Ruf sei für die tiefen Wohnungsmieten gut. Noch führt Schwamendingen nicht die Hitparade der Zürcher Quartiere an. Haben Sie Bedenken, dass Schwamendingen bald cool ist und alle hier wohnen wollen?

Nein. Es ist eine romantische Vorstellung, dass etwas so bleibt, wie es war. Zudem sind auch diese Vorstellungen immer etwas verklärt. Wir trauern einem alten Schwamendingen nach, aber das ist nunmal die normale Entwicklung einer Stadt, die wächst. Das können wir nicht stoppen. Aber ich habe Angst vor der Anonymität. Der dörfliche Charakter mit der Chilbi, der sozialen Durchmischung und den Vereinen sorgt, gespickt mit dem schlechten Ruf, für einen ganz besonderen Zusammenhalt. 

«Menschen haben immer Angst vor Abfall und Emissionen. Egal, ob sie vom Auto oder von Teenies kommen.»

Raoul Meier über die Einhausung der A1

Mit der Einhausung der Autobahn werden zwei Quartieree – Schwamendingen Mitte und Saatlen – verbunden, der Stadtteil wird ruhiger, teurer und beliebter. Seit 20 Jahren ist der Deckel über die Autobahn, der die Planungssünde von früher wieder gut machen soll, ein Thema. Wie ist die Stimmung im Quartier?

Mir war diese Sünde lange nicht bewusst. Ich fuhr früher auch nur durch und nahm das Quartier nicht wahr. Aber als die Autobahn gebaut wurde, war das schlimm – eine Trennung von Saatlen und Schwamendingen, auf die viel Lärm folgte. Jetzt baut man im Nachhinein einen Tunnel über die Strasse, begrünt das Ganze, reisst rundherum alles weg, baut neu und verdichtet. Dass eine solche Entwicklung für Verunsicherung sorgt, ist nur logisch. Witzig ist auch, dass einige Bewohner:innen jetzt wieder besorgt sind wegen neuem Lärm, der durch den neuen  Park entstehen könnte. Wer passt auf? Menschen haben immer Angst vor Abfall und Emissionen. Egal, ob sie vom Auto oder von Teenies kommen. 

Diverse ausgesteckte Gebäude prägen aktuell das Quartierbild. Baugenossenschaften gehören hier zu den wichtigsten Hausbesitzer:innen – ist das das grosse Glück vom Kreis 12; werden diese die Gentrifizierung abfedern?

Einen Teil bestimmt. Das ehemalige Bauerndorf wurde im Zuge der Industrialisierung für Arbeiter:innen umgebaut. Durch diese Entwicklung hat der Kreis 12 viele Genossenschaften. Aber auch diese Häuser müssen eines Tages saniert werden und dann müssen sie weg – ufe und meh, wird auch hier das Motto sein. 

Auch Sie wohnen in einem sehr typischen Reiheneinfamilienhaus. Ebenfalls eine Genossenschaft?

Ja. Ich wohne hier zusammen mit meiner Frau. Seit unsere Tochter ausgezogen ist, ist es unterbelegt – wir müssen raus und eines Tages werden sie diese Häuser abreissen und grössere bauen.

Heisst, Sie werden ebenfalls weg gentrifiziert?

Nein, wir beanspruchen einfach zu zweit zu viel Platz. Aber ich arbeite von zuhause aus, wir haben ein Büro, zwei Etagen, einen Garten – sich nach 20 Jahren jetzt zu verkleinern, ist der Horror. Gleichzeitig verstehe ich die Belegungsvorschrift total. In meinem Garten begegne ich Rehen und Feuersalamandern und in einer Minute bin ich am Bahnhof Stettbach, in sechs Minuten am Bellevue. Ich will nicht weg, der Umzug wird schlimm – wir stecken in einer mittleren Krise. 

Werden Sie im Quartier bleiben?

Wohl kaum. Wir werden wohl nichts Vergleichbares mehr finden. Ich bin zwiegespalten, denn eigentlich finde ich den Lokalpatriotismus, den wir Zürcher:innen an den Tag legen, bieder. Aber auf der anderen Seite ist die Stadt mein Zuhause, ich will nicht wegziehen.

Was hat Sie eigentlich in den Kreis 12 verschlagen? Sind Sie damals dem schlechten Ruf gefolgt?

Ich bin ein klassisches Beispiel von einem Alt-Hippie-Verwöhntem-Wohlstandskind, das in den 80er-Jahren auf die Strassen ging und Gutes tun wollte. Ich bin in Albisrieden aufgewachsen, anfangs kam es für mich nicht in Frage nach Schwamendingen zu ziehen. Doch dann packte auch mich der Reiz: Es war ein rohes Quartier, wo du viel mitgestalten konntest und sozial sehr durchmischt ist. Selten habe ich zudem in Zürich ein derart urbanes Gefühl, als wenn du mit dem Tram durch den Tunnel fährst und am Schwamendingerplatz ankommst. Wie in einer U-Bahn. Dabei führt die Strecke mitten in ein ehemaliges Bauerndorf herein.

Raoul Meier

Der 60-Jährige ist in Albisrieden aufgewachsen und wohnt seit 20 Jahren in Schwamendingen. Raoul Meier arbeitet als selbständiger Filmemacher. 2006 hat er zusammen mit Matthes Schaller im Zuge eines Image-Workshops der Stadt Zürich zu Schwamendingen das Tele Schwamendingen gegründet, woraus dann das Quartier TV entstand. Seitdem berichtet er über die Zürcher Quartiere und seine Bewohner:innen. 

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