Essay zum 7. Oktober: Unerträgliche Gleichzeitigkeit

Was bleibt ein Jahr nach dem 7. Oktober? Von Verletzungen, Einsamkeit – und dem Versuch, eine Sprache zu finden.

Helvetiaplatz Versammlung gegen Antisemitismus
Im März versammelten sich mehrere hundert Menschen zu einem Trauermarsch – der gelbe Regenschirm wird als Zeichen gegen Antisemitismus verstanden. (Bild: Kai Vogt)

Dieser Essay wurde am 3. Oktober in der Wochenzeitung WOZ veröffentlicht. Die WOZ ist wie Tsüri.ch verlagsunabhängig.

Es war an einem heissen Sommertag, als lieb gewonnene Glaubenssätze an der Realität zerschellten. Ich sass auf dem Betonboden einer Zürcher Badi, den Blick auf das überlebensgrosse Wandbild auf der anderen Flussseite gerichtet. Inmitten des Schriftzugs «Smash Zionism» prangte das rote Dreieck, mit dem auch die Hamas Feind:innen markiert; gesprüht hatte es nach eigenen Angaben eine lokale autonome Jugendgruppe.

Meine damalige Sommerlektüre, das Buch eines israelischen Historikers über die Geschichte seines Landes, hatte ich zu Hause in letzter Minute gegen ein anderes getauscht. Bloss nicht öffentlich auffallen bei diesem Thema, mich nicht exponieren. Aber woher das plötzliche ungute Gefühl an einem Ort, an dem ich mich seit Jahren sicher fühle? War da so etwas wie Angst? Und wenn ja, wovor?

Bis zum 7. Oktober 2023 hatte ich zum jüdischen Teil meiner Identität ein distanziertes Verhältnis. Als jüdisch sah ich mich überhaupt nur deshalb, weil das Attribut meiner Familie Anfang der neunziger Jahre die Ausreise ermöglicht hatte: nach Deutschland, das mit der Aufnahme jüdischer Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion historisch Abbitte leisten wollte.

Das Einzige, was der deutsche Staat von uns verlangte, war, irgendwie «jüdisch» zu sein. Welche Implikationen das hatte, wusste niemand aus meiner Familie; das jüdische Gemeindezentrum der Stadt, in der wir lebten, besuchten wir kaum.

«Kontingentflüchtlinge» war der bürokratiedeutsche Begriff für Leute wie uns, dabei war es aus meiner Sicht nie eine Flucht gewesen, schliesslich waren wir mit dem Zug gekommen und nicht in einem Boot übers Mittelmeer. Für meine Eltern sah die Sache schon anders aus: Sie flohen vor dem Eintrag unter Paragraf 5 im sowjetischen Pass, ethnische Zugehörigkeit: «jüdisch».

Vor dem (staatlich geförderten) Antisemitismus, dessentwegen meiner Familie Studienplätze und Jobs verwehrt blieben. Vor einem gesellschaftlichen Klima auch, in dem die Schuldigen für die damals leeren Supermarktregale schnell gefunden waren.

Viele mit einem solchen Eintrag im Pass gingen nach Israel oder in die USA. Wir landeten in Deutschland. Auch später spielte das Jüdischsein für mich keine Rolle. Israel als Versicherung, falls es schlimmer werden sollte in Europa, Eretz Israel – hebräisch für Heimat – war für mich nie eine Verheissung, so konnte sie mit dem Massaker der Hamas auch nicht zerschlagen werden. Seit dem 7. Oktober aber kommt mir die Behauptung, ich würde nicht, wann immer ich etwas sage oder schreibe, als Jüdin sprechen, lächerlich vor.

In einem Essay schreibt Kulturvermittler:in Julia Alfandari über die derzeitige Stimmung in Deutschland: «Seit dem 7. Oktober hat die Figur des Juden eine weitere Dimension eingenommen.» Jüdinnen und Juden würden für die Rechtfertigung einer rassistischen Asylpolitik instrumentalisiert. «Hinter jedem ‹Migranten› steckt potenziell ein Antisemit. Inmitten einer aufgeheizten Antisemitismusdebatte, inmitten ansteigender antisemitischer Vorfälle wird über Abschiebungen im grossen Stil gesprochen. Damit buhlt man um Wählerstimmen am rechten Rand, bekämpft aber sicher keinen Antisemitismus», so Alfandari.

Beim Lesen denke ich über den Schweizer Diskurs nach: über die rechte Publizistik (und Politik), die sich für Israel in die Bresche wirft, um ihrem antimuslimischen Rassismus zu frönen.

Vor dem Ersten Weltkrieg, so schreibt es der Schweizerische Israelitische Gemeindebund, seien die meisten der ausländischen jüdischen Menschen in Zürich «Ostjuden» gewesen. «Ostjude» ist ein völkisch-antisemitisches Schlagwort, in der NS-Propaganda mit den Attributen «faul», «arbeitsscheu» und «unproduktiv» verknüpft. In der Schweiz erhielten Jüdinnen und Juden erst 1866 Bürger:innenrechte.

1917 schrieb sich Heinrich Rothmund, der Chef der soeben gegründeten Fremdenpolizei, den Kampf gegen die «Verjudung» auf die Fahne. Im Kopf hatte er dabei jene, die nach der Russischen Revolution nach Westen flohen: die «jüdischen Bolschewisten», wie es die Propaganda nannte. «Bei typischen Ostjuden wird stets die erste Generation von der Einbürgerung auszuschliessen sein», hielt Rothmund fest.

«Zerstörte Existenzen, Familien werden auseinandergerissen, Verwundete, Versehrte. Hunderttausende in die Flucht Geschlagene, aber wohin?»

Anna Jikhareva

Unerträgliche Gleichzeitigkeiten. Während jene, die vom 7. Oktober mit seinen 1200 Toten und dem Krieg in Gaza betroffen sind oder sich betroffen fühlen, zu ersticken drohen, während die Zunge damit ringt, Sätze zu bilden, ist die Mehrheitsgesellschaft sehr bald schon mit Antworten zur Stelle, weiss, wer Freund und wer Feindin ist, hat die Betroffenen und Zugewandten fein säuberlich in Schubladen gesteckt. Nur wenige Stunden vergehen damals – dann bombardiert die israelische Armee Gaza.

Ein Jahr später, viele Geiseln leben nicht mehr, Zehntausende tote Palästinenser:innen – keine der publizierten Zahlen wird dem Grauen gerecht – und kein Ende in Sicht. Pogrome und Vertreibungen in der Westbank. Jetzt der Libanon. Zerstörte Existenzen, Familien werden auseinandergerissen, Verwundete, Versehrte. Hunderttausende in die Flucht Geschlagene, aber wohin? Von «Kollateralschäden» spricht die israelische Armee. Die Grausamkeit spiegelt sich in der Sprache. Eine Sprache, die auf Entmenschlichung zielt.

Wie lange es dauern wird, bis Gaza wiederaufgebaut wird, wieder Menschen auf diesem winzigen Landstrich leben können? Jahre, Jahrzehnte. Bis die seelischen Wunden heilen, wird es viel länger dauern. Und wie lange, bis in der Wüste wieder getanzt wird, bis die Kibbuzim zum Leben erwachen? Kehrt auch nur eine der verbliebenen Geiseln heil zurück?

Eine technologisch hochgerüstete Armee, ein Regierungschef, der sich von religiösen Rechtsextremen seine Kriegsverbrechen diktieren lässt. Demgegenüber eine islamistische Terrortruppe mit Todeskult, Meisterin der Asymmetrien, deren Kriegsführung auch die Verbreitung ihres Narrativs umfasst. Beiden gemeinsam ist die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid: jenem der nach Gaza Verschleppten, jenem der Palästinenser:innen, jenem der von Raketen Beschossenen. Islamisten und Rechtsextreme, sie waren schon immer zwei Seiten derselben Medaille.

Hierzulande plötzlich neun Millionen Nahostexpert:innen. Ein Strudel an Meinungen, der alle wegdrückt, die es wagen, in ach so eindeutigen Zeiten zu zweifeln. Die zu ersticken drohen, nach Luft schnappen. «Es gibt Schweigen und Schweigen. Das Schweigen der Freund:innen und das Schweigen der Welt. Ich schwöre dir, was hätte ich darum gegeben, dass die Welt mehr geschwiegen hätte nach dem 7. Oktober. Ich hätte alles drum gegeben», schreibt Autor:in Sasha Marianna Salzmann in Berlin.

Jenen, die jüdische Menschen für rassistische Politik benutzen, sind deren Traumata egal. Aber was ist mit denen, die eigentlich Verbündete wären? Auf den Demos, die im Wochentakt durch Schweizer Städte ziehen: die Parolen zu einseitig, die Worte zu laut, die Begriffe zu gross.

Woher aber diese Eindeutigkeit? Ein Ende des jüdischen Staates wird gefordert, auf Veranstaltungen der Spaltung das Wort geredet. Zerwürfnisse in linken, feministischen, queeren Zusammenhängen. Für progressive jüdische Sichtweisen bleibt oft kein Platz – und wenn doch, dann nur, wenn sie den eigenen Positionen Legitimität verleihen.

Das Sprechen darüber spielt den Rechten in die Hände, die Spaltung ist umso fataler in Zeiten, in denen die extreme Rechte überall durch die Institutionen marschiert. Die rechte Publizistik schlachtet Kontroversen in linken Räumen gnadenlos aus, fordert Veranstaltungsverbote und Subventionsentzug. Kritik an linken Positionen ruft falsche Bewunder:innen auf den Plan. Aber wem hilft das Wegschauen?

Theodor W. Adorno begriff den Antisemitismus als «Gerücht über die Juden». Seit dem 7. Oktober haben antisemitische Vorfälle auch hierzulande stark zugenommen. Immer wieder Zürich. Eine Messerattacke auf einen religiösen Juden, «No art for genocide» vor einer jüdischen Kunstgalerie, «Zionismus = Terror» auf Häuserwänden.

Im Dezember 1991 veröffentlichten die Revolutionären Zellen in Deutschland ein wegweisendes Papier. In «Gerd Albartus ist tot» setzte sich die linksextreme Gruppe mit dem eigenen Antisemitismus auseinander. In der Zürcher radikalen Linken blieb die Aufarbeitung des eigenen Antisemitismus marginal – und gab es Kritik, ging sie von Jüdinnen und Juden aus. Einmal, zu Beginn der nuller Jahre, führten antisemitische Postings auf dem Portal «Indymedia» zu einer Debatte. Wer weiss überhaupt noch, was «Indymedia» war?

Am 7. Oktober sei der «unterdrückende Normalzustand durchbrochen» worden, schreibt eine lokale autonome Jugendgruppe letzten Winter. Von «Befreiungskampf» ist die Rede. Ist dieses Verhältnis zu den «Unterdrückten» nicht auch ein instrumentelles? Warum haben in ihrer Solidarität jene keinen Platz, die sich vor Ort für die Utopie einer gerechten Koexistenz einsetzen? Ist Solidarität, dieses grosse Wort, zur Leerformel verkommen?

Sie wolle «keine falsche Solidarität von Menschen, die mein Leid missbrauchen, um andere zu diskreditieren», sagt die deutsch-palästinensische Autorin Jouanna Hassoun, die gerade ein Buch zur Frage geschrieben hat, wie sich über Israel/Palästina sprechen lässt, in einem Podcast.

Linke Zusammenhänge, die sich nicht sicher anfühlen. Einsamkeit bricht sich Bahn. Zerrissenheit auch. «Ein Teil von mir schreit Parolen gegen Faschisten, und der andere flüstert weiter die Namen der noch immer verschleppten Geiseln. Nennt die Zahl der Toten in Gaza. Das ist unsere Gleichzeit», schreibt Sasha Marianna Salzmann.

«Was uns bleibt: die Scherben aufzusammeln, eine eigene Sprache zu finden, eigene Orte für unsere Trauer zu schaffen, für gegenseitige Empathie.»

Anna Jikhareva

Manchmal frage ich mich, ob schon allein das Sprechen über Antisemitismus das Leid in Gaza vergessen macht. Ob ich selbst zu wenig empathisch bin. Doch was wäre eine passende Messgrösse für Empathie? Ist es wirklich unmöglich, betrauerbare Leben universell zu sehen? Unmöglich, Gleichzeitigkeiten auszuhalten?

Auf Instagram schreibt Alfandari: «Bei all dieser Analyse über unseren Zustand hier toben die Bomben und sterben die Menschen. Die Feindseligkeit und die Ohnmacht des Agierens verschärfen sich. Unsere Blicke, unsere Herzen wissen nicht, wohin sie scharf stellen sollen, wir laufen Gefahr, unseren Fokus zu verlieren, während die Rauchwolken mit Menschenleben in Luft aufgehen.»

Kürzlich las ich eine Reportage über die «Kinder der ‹Exodus›»: Auf einem Ausflugsdampfer versuchten 1947 rund 4500 Holocaustüberlebende, ins damals britische Mandatsgebiet Palästina zu gelangen – «in der Hoffnung, dass das Fürchten für immer zu Ende ist».

Die Briten aber verweigerten den Flüchtenden die Einreise, brachten das Schiff zurück nach Europa, was weltweit für Empörung sorgte und international die Stimmung zugunsten eines israelischen Staates wendete. In dem Artikel kommen vierzehn ehemalige Passagiere der «Exodus» zu Wort. Die Nachfahren jener, die 1947 während der Nakba aus Palästina vertrieben wurden oder flohen, sind fast nie Protagonist:innen grosser Reportagen.

Was bleibt ein Jahr nach dem 7. Oktober? Unerträgliche Gleichzeitigkeiten. Falsche Freund:innen. Weder ist das Entsetzen über die Gewalt gewichen, noch ist ein Ende in Sicht. Ich fürchte, dass meine Angst instrumentalisiert wird, dass ich mich instrumentalisieren lasse. Was uns bleibt, die wir hier vom 7. Oktober und dem Krieg in Gaza und dem Libanon betroffen sind: die Scherben aufzusammeln, eine eigene Sprache zu finden, eigene Orte für unsere Trauer zu schaffen, für gegenseitige Empathie.

Jene zu unterstützen, die vor Ort dafür streiten, dass nicht nur die Waffen schweigen – sondern dass auch das, was danach kommt, Gerechtigkeit verspricht. Was uns auch bleibt: die uns zugedachten Rollen zu verweigern. Tröstlich, immerhin, ist die Vorstellung, tragfähige Bande jenseits der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Projektionen zu schmieden.

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