Eric Gujers gekränkte Freiheit

Der Chefredaktor der NZZ, Eric Gujer, rechnete an der diesjährigen Generalversammlung mit der linken Stadtregierung ab. Die Rede war voller Ressentiments und beschwor den «Deep State». Zeichen einer politischen Kränkung. Ein Kommentar.

NZZ
Die NZZ gehört zu den grossen Schweizer Leitmedien. (Bild: Nina Schneider)

Traditionell findet die Generalversammlung der Neuen Zürcher Zeitung kurz vor dem Sechseläuten statt. Doch für Eric Gujer, Chefredaktor der NZZ, gab es dieses Jahr nichts zu feiern. Das ist allerdings nicht ganz ungewöhnlich, denn in seiner zu diesem Anlass gehaltenen Rede versucht Gujer immer wieder der Schweiz den Spiegel vors Gesicht zu halten.

Neben Witzen und gelegentlichem Spott hatte es in der Vergangenheit darin auch Platz für konstruktive Kritik: So präsentierte er 2017 seine zehn Prinzipien des guten Journalismus. Letztes Jahr formulierte er zum Schluss vier Vorschläge für eine moderne Neutralitätspolitik. 

Doch genau das blieb vergangene Woche aus. Stattdessen richtete Gujer seine Kanonen starr auf den linken «Kulturkampf» und das «woke» Zürich. Seine Rede war prall gefüllt mit Hass und Ressentiments. 

Zuerst spielte er seine üblichen Platten ab: Die städtische Linke betreibe Gesinnungspolitik, moralisiere alle Lebensbereiche, vom Verkehr bis hin zum Essen, wolle statt Leistungsgesellschaft lieber einen «Kuschelstaat».

Als er auflistete, was Zürich seinen Angestellten alles biete, geriet er rasch ausser Atem. Dazwischen sprenkelte er Tiraden gegen die abtretende Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP). Am liebsten würde er sie jetzt schon mit dem «Nachtzug ins Nirvana» schicken, so Gujer. 

Auf den Spuren des «tiefen Staats»

Hinter all dem lauert natürlich das ganz grosse Übel: der stetig wachsende Staatsapparat. Wenn Gujer nach Bern blickt, dann sieht er nur eines: hohe Löhne, hohe Steuern und hohe Schulden. Neu ist seine Angst nicht.

Vor einigen Wochen lud Gujer den Schweizer Publizisten und Verleger Roger de Weck zur NZZ-Gesprächsrunde «Standpunkte» ein. Gujer sprach mit ihm über die Bundesratswahlen, die Neutralitätspolitik und den Wert des Liberalismus.

Am Ende drehte Gujer das Gespräch auf sein Lieblingsthema: die überbordende Bürokratie. Gujer meint, man müsse doch den «Apparat mästen». Anders sah das De Weck. Für ihn klinge das zu sehr nach der «Deep State» Verschwörungstheorie, die man bereits aus den USA kenne. Sie behauptet, dass hinter dem demokratisch legitimierten Staatsapparat eine geheime Machtelite die Fäden ziehe. 

An der Generalversammlung von letzter Woche wehte Gujer kein solcher Gegenwind entgegen. Entsprechend unverhohlen konnte er seine steilen Thesen zum «tiefen Staat» Zürichs präsentieren.

Auch hier «wuchert eine Bürokratie, gegen die kein Kraut gewachsen ist», so Gujer. Ohne Zweifel habe der «tiefe Staat» in links-grün dominierten Städten wie Zürich seine Lebensader. Hier befänden sich «die Medien und die Universitäten» und hier rekrutiere auch die «Bundesverwaltung».

Gujer nimmt kein Blatt vor den Mund: «Dieses akademische Milieu prägt direkt und indirekt die ganze Schweiz. Kulturelle Hegemonie nennt sich das. Sie ist erfolgreich, gerade weil sie in keinem Amtsblatt steht. Sie ist die unsichtbare Hand des tiefen Staats.»

«Eric Gujer hat gute Gründe, um gekränkt zu sein.»

Jonas Staehelin, Redaktor

Eine bessere Definition der «Deep State» Verschwörungstheorie gibt es kaum. Man ersetze nur Gujers «kulturelle Hegemonie» der akademischen Linken durch sogenannte «Globalist:innen» und schon landet man bei Steve Bannon. 

Von der gekränkten Freiheit in den libertären Autoritarismus

Der zunehmende Rechtsdrall der NZZ unter Gujers Führung hat schon mehrfach zu reden gegeben. Vor einigen Monaten auf Tsüri.ch und jüngst im Onlinemagazin Republik

In der Soziologie haben Gujers aggressiv vorgetragene Ressentiments einen Namen: sie sind Symptome einer «gekränkten Freiheit». Am Beispiel von Coronaleugner:innen und AfD-Sympathisant:innen haben die beiden Soziolog:innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey nachgezeichnet, weshalb Personen aus ehemals progressiven Milieus auch zu autoritären Ansichten neigten.

Ihren Aussagen zufolge entsteht das Gefühl der Kränkung aus dem Widerspruch zwischen dem Versprechen nach freier Selbstentfaltung und den gesellschaftlichen Schranken, die dieser immer wieder auferlegt werden. Im Namen eines noch verbisseneren Freiheitsbegriffs werde dann gegen Coronamassnahmen, Ausländer:innen und linke «Cancel Culture» gewettert.

Das könne schliesslich in einen «liberalen Autoritarismus» münden, wenn alles, was der individuellen Selbstbestimmung im Wege zu stehen scheint, feindselig abgewertet und zur Projektionsfläche der eigenen Aggression wird. 

Gujer erlebt wohl nicht in gleicher Weise einen gefühlten Statusverlust wie die deutsche Mittelschicht. Dennoch passt seine Rede gut in das sozialpsychologische Profil der gekränkten Freiheit. Ein guter Indikator dafür war sein wiederholtes Eindreschen auf Corine Mauch, die er zur Karikatur der links-grünen Stadtpolitik verklärte. Wie alle anderen Linken betreibe sie reine Selbstbewirtschaftung. «Die Frau ist einfach unersetzlich.»

Hinter solch frivol anmutenden Eingeständnissen verbirgt sich ein aggressiver Tonfall. Argumente werden durch Feindbilder ersetzt.

Tatsächlich hat Gujer gute Gründe, um gekränkt zu sein. 

Eine grosse Mehrheit der Zürcher Stimmbevölkerung möchte weniger Autos und bessere Velowege, dass die Stadt mehr gegen die steigende Wohnungsnot tut und insgesamt klimaverträglicher wird. Auch wird in der Schweiz jährlich weniger Fleisch gegessen, während ein beträchtlicher Teil der landwirtschaftlichen Subventionen nach wie vor dem Fleischverzehr zugutekommen.

«In einer Zeit, wo auf der ganzen Welt autoritäre Kräfte sich derselben Rhetorik bedienen, ist das eine gefährliche Position.»

Jonas Staehelin, Redaktor

Dass eine Zeitung wie die NZZ der politischen Mehrheit Zürichs kritisch gegenübersteht, ist zwar gut und wichtig. Auch an Mauchs Politik gibt es einiges zu kritisieren. Problematisch ist allerdings das Argumentarium des «tiefen Staats», das Gujer in seiner Kritik mobilisiert. Anstelle von demokratisch abgestützten gesellschaftlichen Transformationsprozessen sieht Gujer überall nur das stille Wirken einer links-grünen Elite und ihrer «kulturellen Hegemonie».

In einer Zeit, wo auf der ganzen Welt autoritäre Kräfte sich derselben Rhetorik bedienen, um die Legitimität demokratischer Institutionen grundsätzlich anzuzweifeln, ist das eine gefährliche Position.

Auch Guyers gekränkter Liberalismus flirtet mit antidemokratischen Ressentiments: «Ja, auch der Schweiz würde ein bisschen mehr Musk und Milei gut tun.» Am Ende gehe es halt nur noch mit der Kettensäge. 

Bei einem hat Gujer zwar recht: Trump ist in Amerika. 

Aber die Schweiz ist auch nicht Argentinien. Und Zürich nicht X. Diese brachiale Sehnsucht nach gewaltvoller Veränderung ist letztlich Ausdruck einer tiefen Frustration über eine Realität, die sich nicht mehr nach seinen Begriffen richten will. Sie zeigt, wie weit sich der Chefredaktor der NZZ von der politischen Kultur entfernt hat, deren liberale Werte er doch zu verteidigen vorgibt.

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