«Bei einem ‹Papi-Tag› wird häufig nur über die Kinderbetreuung gesprochen»

Gleichberechtigte Familienplanung brauche mehr, als Kinder zu hüten, sagt Tobias Oberli. Wo Checklisten helfen und warum es dennoch vor allem stärkere politische Rahmenbedingungen erfordert, erläutert der Berater für Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Interview.

Patchwork Familie Symbolbild Unsplash
«Unterstützt man die Unternehmen, damit sie wiederum ihre Angestellten unterstützen können, dann ist schon viel getan», sagt Berater Tobias Oberli.

Ende Mai sprachen sich Kommissionen im National- und Ständerat gegen einen Ausbau des Mutter- und Vaterschaftsurlaub aus: Statt mehr Wochen sollen Eltern die bestehenden 16 flexibel aufteilen. Kritik kam von Links bis GLP – ein Angriff auf den Mutterschutz. Gleichzeitig sammelt eine Allianz Unterschriften für je 18 Wochen Elternzeit. Bürgerliche warnen vor den Kosten.

Wie lange haben Eltern Anspruch auf eine bezahlte Auszeit nach der Geburt ihres Kindes? Und wer darf sie nutzen? Nina Graf: Tobias Oberli, bei der Fachstelle «UND» beraten Sie Paare und Einzelpersonen zu Vereinbarkeit von Beruf und weiteren Lebensbereichen. Was sagen Sie – ist die aktuelle Elternzeit zu kurz?

Tobias Oberli: Dass viele Mütter – wenn sie es sich leisten können – nach der Geburt ein halbes Jahr unbezahlten Urlaub nehmen, deutet darauf hin, dass die aktuelle Elternzeit in der Schweiz zu kurz ist. Das lässt sich feststellen, ohne dass man sich dabei politisch auf einer Seite positioniert. Gleichzeitig zeigt auch der Blick in andere europäische Länder, dass unsere Elternzeit im Vergleich kurz ist.

Was wäre denn ideal?

Das lässt sich so schwer sagen. Die Modelle des Nordens gehen in Richtung einer längeren Elternzeit, wo beide Elternteile die Zeit zumindest teilweise frei unter sich aufteilen können. Je nach Modell beträgt die Dauer bis zu einem Jahr. Diese Modelle zeigen, dass die Erwerbstätigkeit beider Elternteile erhalten werden kann und so auch die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern gefördert wird.

Fachstelle UND Tobias Oberli
Tobias Oberli berät Privatpersonen und Unternehmen zur Vereinbarkeit von Beruf und den weiteren Lebensbereichen, mitunter zu einer gleichberechtigteren Rollenteilung in der Familienplanung. (Bild: Lea Della Zassa)

Was fällt Ihnen bei der aktuellen Diskussion um die Aufteilung der Elternzeit in der Schweiz auf?

Im politischen Kontext sind es zwar eher die konservativen Parteien, die die Kinderbetreuung als Aufgabe der Frau sehen. Aber ganz grundsätzlich sind wir als gesamte Bevölkerung noch immer sehr stark von Rollenvorstellungen geprägt. Diese spielen in die öffentliche Diskussion hinein. 

«Allein die Tatsache, dass die Mutter nach einer Geburt 14 Wochen und der Vater zwei Wochen Urlaub hat, zeigt, welche Rollenverteilung in der Schweiz vorgesehen ist.»

Tobias Oberli, Fachstelle «UND»

Wo merken sie das bei ihrer Arbeit?

Die Emanzipation hat dazu geführt, dass Frauen häufiger erwerbstätig sind. Gleichzeitig gilt immer noch die Erwartung, dass eine Frau die perfekte Mutter sein muss. Vom Vater wird erwartet, dass er Karriere macht und trotzdem ein fürsorglicher Vater ist. Es gibt also Widersprüche, mit denen sich heutige junge Eltern auseinandersetzen müssen. 

Und dann ist es rein strukturell in der Schweiz oft auch einfacher, wenn jemand zumindest teilweise zuhause bleibt und der andere der Erwerbsarbeit nachgeht, sofern man sich das leisten kann.

Sie meinen, dass es für viele Familien «günstiger» ist, wenn der schlechter verdienende Elternteil zu Hause bleibt, als für Fremdbetreuung zu zahlen.

Genau. Allein die Tatsache, dass die Mutter nach einer Geburt 14 Wochen und der Vater zwei Wochen Urlaub hat, zeigt, welche Rollenverteilung in der Schweiz vorgesehen ist. Dies führt häufig dazu, dass Mütter ihre Erwerbstätigkeit reduzieren – sei es, weil sie es selbst wünschen oder weil es von ihnen erwartet wird.

Faktisch ist Teilzeitarbeit bei Müttern gesellschaftlich wie institutionell deutlich stärker akzeptiert als bei Vätern, was bestehende Rollenmuster zusätzlich verfestigt. Somit gibt es von der Geburt eines Kindes an eine ungleiche Rollenverteilung in der Familie.

Sie sind seit zehn Jahren Berater, seit 15 Jahren Vater. Beobachten Sie, dass sich die Kommunikation oder das Rollenverständnis innerhalb von Paaren über die Jahre verändert hat?

Auf jeden Fall. Bei Paaren ist die Veränderung insofern bemerkbar, als dass öfter eine egalitäre Rollenteilung angestrebt wird. Das zeigt sich auch darin, dass gemäss einer Erhebung des Bundesamts für Statistik knapp 50 Prozent der jungen Eltern sich wünschen, dass beide Teilzeit arbeiten können.

Der Anteil teilzeiterwerbstätiger Väter ist innerhalb der letzten 15 Jahre von acht Prozent auf rund 16 Prozent gestiegen. In vielen Familien hat sich ein «Papi-Tag» etabliert.

«Besteht ein grosses Ungleichgewicht, kann das Paar etwa finanzielle Ausgleichsmassnahmen prüfen.»

Tobias Oberli, Fachstelle «UND»

Wenn Sie «Papi-Tag» sagen, denke ich an einen «Spass-Tag». Da gehts in den Zoo oder ins Hallenbad. Die Mutter oder die hauptverantwortliche Betreuungsperson kann dann zwar arbeiten, die meiste Organisations- und Haushaltsarbeit bleibt trotzdem an ihr hängen. 

Diese Gefahr besteht tatsächlich. Es ist auch unsere Beobachtung, dass bei einem «Papi-Tag» häufig nur über die Kinderbetreuung gesprochen wird, während die Organisation und Verantwortung der Hausarbeit eher Sache der Frau bleiben.

Was ist hier die Lösung?

In unseren Beratungen geht es darum, dass das Paar reflektiert, wer welche Arbeit macht und wie die Haus- und Familienarbeit aufgeteilt wird. Hier kann mit einer Checkliste objektiv überprüft werden, wer wie viele Stunden bezahlte Erwerbsarbeit und unbezahlte Haus- und Familienarbeit leistet. Besteht ein grosses Ungleichgewicht, kann das Paar etwa finanzielle Ausgleichsmassnahmen prüfen.

Haben Sie dazu ein Beispiel?

Beispielsweise indem für die Person, die mehrheitlich unbezahlte Stunden leistet, in eine separate Altersvorsorge eingezahlt wird. Oder indem die Aufteilung des Haushaltskontos prozentual untereinander aufgeteilt wird. 

«Eine Verlängerung der Elternzeit und Investitionen in familienergänzende Betreuungsstrukturen tragen dazu bei, dass Mütter erwerbstätig bleiben und hochprozentiger arbeiten.»

Tobias Oberli, Fachstelle «UND»

In der öffentlichen und politischen Debatte um eine Verlängerung der Elternzeit wird oft die Wirtschaft als Argument vorgebracht. Wie gewichten Sie dieses Argument?

Wir schauen es aus der Sicht einer nachhaltigen Wirtschaft an. Das heisst, eine, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch ökologisch und sozial nachhaltig ist.

Was verstehen Sie in diesem Kontext unter «sozial nachhaltig»?

Die Kosten, die auch für die Gemeinschaft entstehen, wenn gut qualifizierte Mütter aufgrund von Elternschaft nur noch in kleinen Teilzeitpensen arbeiten oder gar ganz aus Arbeitsleben fallen, werden viel zu wenig berücksichtigt. Insbesondere die langfristigen Kosten, wie etwa die Altersarmut, können erhebliche Auswirkungen haben.

Die nordischen Modelle zeigen: Eine Verlängerung der Elternzeit und Investitionen in familienergänzende Betreuungsstrukturen tragen dazu bei, dass Mütter in ihrem angestammten Beruf erwerbstätig bleiben und hochprozentiger arbeiten. Gesamtwirtschaftlich lohnen sich diese Investitionen also – auch auf einer ökonomischen Ebene.

Aber ist dieser Fokus auf die Wirtschaft eine Schweizer Besonderheit?

Wir sind sicher eine sehr leistungsorientierte Gesellschaft. Und man darf eins nicht ignorieren: Unser hoher Lebensstandard hängt von einer gut funktionierenden Wirtschaft ab.  In der Schweiz sind 99 Prozent der Unternehmen KMU, davon sind wiederum 90 Prozent Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitenden. Kostenintensive Massnahmen werden für sie schnell untragbar.

«Am schnellsten kommen wir in Sachen Gleichstellung voran, wenn wir den Paaren eine effektive Wahlfreiheit ermöglichen.»

Tobias Oberli, Fachstelle «UND»

Wie reagieren KMU auf den Wunsch nach mehr Elternzeit oder flexibleren Arbeitsmodellen?

Unsere Erfahrung aus der Beratungsarbeit zeigt, dass die meisten Arbeitgebenden ihren Mitarbeitenden gerne Flexibilität ermöglichen wollen. In vielen kleineren, familiären Betrieben ist es selbstverständlich, dass man zu Hause bleiben kann, wenn beispielsweise ein Kind krank ist. 

Gerade bei kleinen Unternehmen ist es aber so, dass sie es sich oftmals nicht leisten können, 18 Wochen Elternzeit aus der eigenen Tasche zu zahlen.

Wer kann die Vereinbarkeit von Beruf und Familie am stärksten verbessern, wie viel kann die Politik steuern und wie viel müssen Gesellschaft und Unternehmen ändern?

Ein grosser Hebel wäre es, politische Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Unternehmen ermöglichen, eine grosszügigere Elternzeit zu bieten. Etwa durch einen Ausbau der Erwerbsersatzordnung. Unterstützt man hier die Unternehmen, damit sie wiederum ihre Angestellten unterstützen können, dann ist schon viel getan. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass man familienergänzende Kinderbetreuung für alle günstiger macht. Dann haben werdende Eltern mehr Optionen bei der Rollenteilung in der Familienplanung. Denn darum geht es im Kern: Am schnellsten kommen wir in Sachen Gleichstellung voran, wenn wir den Paaren eine effektive Wahlfreiheit ermöglichen.

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2023-05-02 Nina Graf Portrait-13

Aufgewachsen am linken Zürichseeufer, Studium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft an den Universitäten Freiburg (CH) und Basel. Sie machte ein Praktikum beim SRF Kassensturz und begann während dem Studium als Journalistin bei der Zürichsee-Zeitung. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin untersuchte sie Innovationen im Lokaljournalismus in einem SNF-Forschungsprojekt, wechselte dann von der Forschung in die Praxis und ist seit 2021 Mitglied der Geschäftsleitung von We.Publish. Seit 2023 schreibt Nina als Redaktorin für Tsüri.ch.

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