«Auf Knopfdruck lässt sich Zürich nicht auf ‹klimaneutral› trimmen»
Ein Jahr ist vergangen, seit sich die Stadt Zürich klar für das Klimaschutzziel «Netto-Null 2040» ausgesprochen hat. Der Stadtrat und Vorsteher des Umweltdepartements Andreas Hauri über die Tücken erfolgreicher Klimapolitik und welches Verbot er durchaus unterstützen würde.
Isabel Brun: Vor einem Jahr sagte die Stadtzürcher Stimmbevölkerung Ja zu Netto-Null bis 2040. Was ist Ihnen von dem Tag in Erinnerung geblieben?
Andreas Hauri: Zugegeben, ich habe etwas zwiegespaltene Gefühle, wenn ich an den Abstimmungssonntag vom 15. Mai 2022 zurückdenke. Zum einen war es natürlich toll, dass das Resultat derart klar ausfiel: Fast 75 Prozent der Stimmbevölkerung waren für das neue Klimaziel – im Kreis 4 stimmten gar über 85 Prozent dafür. Zum anderen lag ich krank im Bett, weil ich mich einige Tage zuvor mit Corona infiziert hatte. Glücklicherweise war ich danach schnell wieder auf den Beinen.
Dann konnten Sie Ihre Energie direkt in die Umsetzung der Vorlage stecken. Inwiefern hat sich die städtische Klimapolitik seit der Abstimmung verändert?
Es ist ein Ruck durch die Verwaltung gegangen. In den letzten zwölf Monaten hat die Stadt ihre Strategien neu ausgerichtet, damit alles an das neue Klimaziel angepasst ist. Das ist und bleibt viel Arbeit, aber es ist wichtig, dass alle Departemente auf Kurs sind.
Solarstrategie, Ernährungsstrategie, Biodiversitätsförderung: Pläne hat die Stadt Zürich zur Genüge – wie sieht es mit konkreten Klimaschutzmassnahmen aus?
Das eine bedingt das andere. Aber natürlich ist es wichtig, dass auf die strategischen Grundlagen auch Massnahmen folgen. Aus diesem Grund haben wir zum Beispiel das Fernwärmenetz ausgebaut, 1800 Ladestationen für Elektrofahrzeuge installiert, eine Charta für nachhaltige Gastronomie lanciert oder uns klar zur Kreislaufwirtschaft bekannt. Zudem wurden im letzten Jahr über 22 Vorlagen im Stadtzürcher Parlament eingereicht, die in irgendeiner Form mit dem Klimaziel zu tun haben.
«Die Stadt ist progressiver unterwegs als der Kanton. Das führt manchmal dazu, dass wir ungewollt auf die Bremse treten müssen.»
Andreas Hauri, Vorsteher des Gesundheits- und Umweltdepartements
Kommt der Druck zu handeln eher aus der Politik oder der Bevölkerung?
Rückblickend kam der Startschuss klar aus der Bevölkerung. Spätestens mit der Klimastreik-Bewegung, die im Jahr 2019 auch in der Schweiz an Relevanz gewann, wurde die Klimakrise vermehrt in der Politik behandelt. Der Stadtrat hat entschieden, dass auch Zürich seine Verantwortung wahrnehmen muss. Wir wollen nicht einfach CO2-Zertifikate einkaufen, sondern aktiv dazu beitragen, Emissionen zu reduzieren.
Dabei ist das System mit den CO2-Zertifikaten doch recht praktisch. Man bezahlt einen Geldbetrag und kann dafür weiterhin so viele Treibhausgase ausstossen, wie es einem beliebt.
Das ist aber nicht der Weg, den wir als Zürcher Stadtregierung einschlagen wollen. Wo immer möglich soll das Problem an der Wurzel gepackt und der CO2-Ausstoss auch wirklich minimiert werden.
Im Bereich der Gebäude scheint das relativ gut zu klappen: Gemäss CO2-Statistik der Stadt sind die Emissionen innerhalb von 30 Jahren um 40 Prozent gesunken. Bei der Mobilität sieht es weniger erfreulich aus. Seit fünf Jahren stagniert die Zahl.
Grundsätzlich möchte ich betonen, dass wir es geschafft haben, die direkten Emissionen auf Stadtgebiet seit 2010 um rund 20 Prozent pro Person zu reduzieren. Dass dabei nicht in allen Bereichen alles gleich schnell vorwärts geht, hat leider auch damit zu tun, dass wir auf die Unterstützung des Kantons und des Bundes angewiesen sind.
Dann ist der Kanton schuld daran, dass es nicht vorwärts geht?
Sagen wir es mal so: Die Stadt ist sicher progressiver unterwegs als der Kanton. Und das führt manchmal dazu, dass wir ungewollt auf die Bremse treten müssen. Dabei zeigt gerade ein aktuelles Beispiel, welchen Einfluss die kantonale Gesetzgebung haben kann.
Sie sprechen vom neuen Energiegesetz, das im Kanton Zürich seit letztem Herbst nur noch nachhaltige Heizsysteme erlaubt, wenn eine alte Öl- oder Gasheizung ersetzt werden muss.
Genau. Von diesem faktischen Verbot neuer Gas- und Ölheizungen profitiert auch die Stadt. Hier ergänzen sich unsere Massnahmen gut mit jenen des Kantons. Man zieht am gleichen Strick – was dazu führt, dass die Pläne schneller greifen.
Und im Bereich Verkehr geschieht das Gegenteil?
Nun, das Thema Mobilität ist grundsätzlich emotional sehr aufgeladen und wird in der Bevölkerung und der Politik heftig diskutiert. Geht es im Parlament um einen politischen Vorstoss, der den Stadtverkehr betrifft, scheiden sich die politischen Geister. Die einen befürchten, nicht mehr mit ihrem Auto durch die Stadt fahren respektive irgendwo parken zu können, die anderen hätten am liebsten gar keinen motorisierten Individualverkehr mehr in Zürich.
Was bleibt, ist der altbekannte Kompromiss.
Die Meinung des Stadtrats ist klar: Wir müssen die Emissionen im Bereich der Mobilität senken, damit wir unser Klimaziel Netto-Null bis ins Jahr 2040 erreichen. Deshalb sprechen wir uns vor allem dafür aus, neben dem Fuss- und Veloverkehr, sowohl den öffentlichen Verkehr als auch die Elektromobilität stärker zu fördern.
Wären Verbote hier nicht effizienter? Beim kantonalen Energiegesetz war ja genau dieser Punkt ausschlaggebend für eine erfolgreiche klimapolitische Massnahme.
Es gibt Bereiche, wo wir auf Anreize setzen, und andere, wo Verbote zielführender und auch umsetzbar sind. Gerade bei grossen Hebeln wie dem Gebäudesektor. Auch bei der Ernährung wären in gewissen Bereichen sicher Restriktionen möglich: Ich persönlich zum Beispiel wäre schon lange dafür, den Verkauf von Billigfleisch aus dem Ausland zu verbieten. Und auch die Flüge sind im Vergleich zu den Preisen, die man für Zugreisen bezahlt, immer noch zu günstig.
Aber in der Regel kommt man in einer Demokratie mit weniger einschneidenden Massnahmen weiter als mit Verboten. Es geht in erster Linie darum, die Bevölkerung zu sensibilisieren und sie dazu zu motivieren, regional einzukaufen, sich mehr pflanzlich zu ernähren, ökologische Ferien zu machen und generell nachhaltig zu leben. Dazu gehört auch das Bereitstellen von finanziellen Mitteln.
Sie hatten sich vor einigen Wochen klar dagegen ausgesprochen, in städtischen Alters- und Pflegeheimen nur noch vegetarische Menüs anzubieten. Dabei werden Senior:innen, die ihr Leben lang Fleisch gegessen haben, ja kaum durch Sensibilisierung damit aufhören?
Das mag sein – obwohl natürlich auch Menschen im hohen Alter ihre Einstellung noch ändern können. Ich bin der Meinung, dass unseren Bewohnenden, die sich im letzten Lebensabschnitt befinden und oft stark pflegebedürftig sind, sowas nicht mehr zugemutet werden soll. Einer 85-jährigen Patientin zu erklären, weshalb sie jetzt ihr Kalbsgeschnetzeltes nicht mehr bestellen kann, ist Blödsinn. Wir müssen bei der grossen Masse und jenen ansetzen, die noch viele Jahre zu leben haben, und somit auch grosses Veränderungspotenzial mitbringen.
Dann müssen die Jungen wieder für die Fehler der Alten büssen?
Damit will ich nur sagen, dass sich die Kosten und Nutzen ungefähr die Waage halten sollten. Ob es wirklich so viel CO2 einspart, wenn Menschen in den städtischen Gesundheitszentren für das Alter kein Fleisch mehr essen? Ich bezweifle es.
Bis dato weiss die Stadt auch nicht, wie viel CO2 mit einzelnen Klimaschutzmassnahmen tatsächlich eingespart wird. Ab nächstem Herbst soll das möglich werden: Gerade wird ein entsprechendes Tool erarbeitet, das die Einsparungen direkter CO2-Emissionen auf Stadtgebiet berechnen kann. Warum hat die Stadt erst nach dem Ja zu Netto-Null damit begonnen, ein solches Instrument zu erarbeiten?
Unser Ziel war schon früh, ein solches Monitoring aufzugleisen. Doch das Thema ist sehr komplex und es dauert manchmal alles länger als gewünscht. Die ersten Resultate werde ich schon bald zu Gesicht bekommen. Der Öffentlichkeit werden sie Ende Jahr vorgestellt.
Diese gibt sich oft sehr ungeduldig. Wie gehen Sie mit der Kritik um, dass die Stadt die grüne Wende verschläft?
Ein gewisser Druck ist gut, er hilft, damit wir unser Ziel nicht aus den Augen verlieren. Was mich viel eher mal irritiert, sind die hohen Erwartungen. Wir geben unser Bestes, aber es ist und bleibt ein Prozess. Auf Knopfdruck lässt sich Zürich als die grösste Stadt der Schweiz nicht auf «klimaneutral» trimmen.
Enttäuschung wird sicher auch eintreten, wenn das neue Tool aufzeigen würde, dass die bisherigen Massnahmen nicht fruchten.
Ich denke nicht, dass wir uns völlig auf dem Holzweg befinden. Aber klar, ein Restrisiko bleibt.
«Es ist weder nachhaltig noch effizient, hier produziertes CO2 tausende Kilometer quer durch Europa zu transportieren, um es dort einzulagern.»
Andreas Hauri, Vorsteher des Gesundheits- und Umweltdepartements
Mit jedem Tag rückt das Jahr 2040 näher und bis dann sollen die direkten Emissionen auf Stadtgebiet netto null betragen. In der Ansprache des Klimaforums vergangenen März meinten Sie: «Wir werden es nicht ganz auf Null schaffen, aber Technologien werden uns dabei helfen, unser Klimaziel zu erreichen.» Was meinen Sie damit konkret?
Die Rede ist von sogenannten Negativemissionstechnologien, kurz NET. Sie helfen uns dabei, Treibhausgas-Emissionen aus der Atmosphäre zu ziehen, die wir mit Klimaschutzmassnahmen nicht verhindern können. Zum Beispiel indem wir CO2 im Boden speichern. Ein Schweizer Unternehmen erprobt das gerade in Island im grossen Stil. Leider eignen sich unsere Böden nur beschränkt für diese Technologie, da sie anders zusammengesetzt sind.
CO2 aus Zürich wird also nicht auch in Zürich eingelagert werden können?
Es ist weder nachhaltig noch effizient, hier produziertes CO2 tausende Kilometer quer durch Europa zu transportieren, um es dort einzulagern. Aktuell wird viel dazu geforscht; auch an der ETH Zürich. Neue Technologien bieten auch neue Chancen.
Das hört sich alles so positiv an. Wo liegen die Hürden auf dem Weg zu Netto-Null?
Die grösste Herausforderung sehe ich bei den indirekten Emissionen. Also jenem CO2, das nicht auf Stadtgebiet ausgestossen, wohl aber durch unseren Konsum verursacht wird. Damit wir diese Emissionen, wie vom Klimaziel Netto-Null verlangt, bis ins Jahr 2040 um 30 Prozent reduzieren können, müssen alle ihre Verantwortung wahrnehmen – Verwaltung, Wirtschaft und Bevölkerung.
Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang das Klimaschutz- und Innovationsgesetz, über das die Schweizer Stimmbevölkerung in einem Monat abstimmen wird?
Dass Entscheide auf Kantons- und Bundesebene auch für lokale Klimapolitik wichtig sind, ist kein Geheimnis. Ein Ja zu dem Gesetz würde nicht nur unseren eingeschlagenen Weg legitimieren, es würde auch der Stadt Zürich dabei helfen, ihr Klimaziel zu erreichen. Es geht schliesslich auch darum, dass mehr Fördergelder für den Kampf gegen die Klimakrise fliessen sollen. Davon werden auch wir profitieren können.