Zürichs Unorte – Teil 2 - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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17. August 2023 um 04:00

Zürichs Unorte: «Was an der Langstrasse verschwindet, bleibt an der Rosengartenstrasse bestehen»

Zürich kann ganz schön hässlich sein. Wir haben unsere liebsten Unorte in Szene gesetzt und in Worte gefasst. Das Fifa-Museum, die Rosengartenstrasse, die Tankstelle an der Seebahnstrass sowie das Untergeschoss des Hauptbahnhofs machen den Schluss.

Der Geist der Fifa und ihres Museums sei Geld, schreibt Steffen Kolberg. Doch das Museum schreibt seit der Gründung nur Verluste.

Fifa-Museum: Geld und Beliebigkeit

Würde sich das Fifa-Museum dem Fussball widmen, hätte man sich eventuell die Mühe gemacht, den Namen dieses Sports noch im Museumsnamen unterzubringen. Doch es ist benannt nach der Institution, die für sich beansprucht, für den Weltfussball zu stehen und atmet deshalb auch deren Geist, der mit vier Buchstaben sehr gut zusammengefasst ist: G-E-L-D.

Für Eintrittspreise von über 20 Franken kriegt man eine Ahnengalerie der Fifa-Präsidenten, die mit keinem Wort auf die vielen Korruptionsvorwürfe in der letzten Amtszeit eingeht: Dass «Izzy» zur Männer-WM im letzten Winter einen Geldumschlag als neues Exponat ins Museum schmuggelte, war eigentlich schon der beste Kommentar, der zu dieser Institution gemacht werden konnte. Für nochmals 10 Franken gibt es eine «VR-Experience», bei der die Teilnehmer:innen laut Webseite eine Verzichtserklärung unterzeichnen müssen, für was auch immer genau.

Dass das Museum in Zürich beheimatet ist, liegt übrigens allein daran, dass die Fifa in Zürich ihren Sitz hat. Man richtet sich nicht unbedingt an Zürcher:innen, sondern eher an ein internationales Publikum, das mit genügend Kleingeld im Gepäck auf der Durchreise in einer der teuersten Städte der Welt Station macht. Das mündet aber nicht in kosmopolitischer Offenheit und einer Atmosphäre des Austauschs, sondern in der ganz grossen Beliebigkeit: Man will niemandem wehtun und möglichst alle zum Geldausgeben animieren. Man gibt sich Mühe, lachende Fan-Gesichter möglichst aller Nationalitäten abzubilden. Man schafft es sogar, noch beliebigere und uninteressantere Warteschleifenmusik für das Telefon auszusuchen als irgendwer sonst. Dagegen ist jeder Quartiers-Senior:innen-Cup Spannung und Emotion pur.

Steffen Kolberg

Romantik: 1 von 5 Punkten (Wer weirde Date-Orte mag, könnte Gefallen daran finden.)

Coolness-Faktor:  0 von 5 Punkten

Gut zu wissen: Das Fifa-Museum wurde 2016 eröffnet und schreibt seither Verluste. Bis zum Jahr 2045 rechne man damit, eine halbe Milliarde in dem Haus zu versenken, hiess es 2020 vonseiten der Fifa. Das «Haus zur Enge», in dem es untergebracht ist, wurde für das Museum aufwendig umgebaut. Der von Werner Stücheli entworfene, dunkelrot schimmernde Bau gegenüber dem Bahnhof Enge wurde ursprünglich in den 1970er Jahren errichtet. In den oberen Stockwerken befinden sich heute Luxuswohnungen, die mit dem Slogan «Live on top of the World» beworben werden.

Isabel Brun fühlt der Rosengartenstrasse auf den Zahn und findet heraus, dass die Strasse das ist, was in Zürich viele sein wollen: laut, unbequem, rebellisch. (Foto: Jula Zwinggi)

Rosengartenstrasse: Das «Enfant Terrible» Zürichs

Es ist die verlorene Seele Zürichs. Das Problemkind mit dem wohlklingenden Namen, von vielen vernachlässigt, weshalb es nur langsam in die Gänge kommt und im Rausch der Stadt beinahe verloren geht. Die Rosengartenstrasse ist vieles: Wichtigste Transitachse, Ergebnis missratener Verkehrsplanung, günstiger Wohnraum, ein warmes Bett in der Not und Biotop für alles, was nirgendwo sonst mehr in der Stadt Platz findet.

Von der zwielichtigen Shisha-Bar über einen Coiffeur für Haarextensions bis hin zum Traditionslokal, einem Lederwarengeschäft: Was an der Langstrasse langsam verschwindet, bleibt an der Rosengartenstrasse bestehen.

Noch zumindest: Zwar sprach sich die Zürcher Stimmbevölkerung 2020 gegen einen Tunnel aus, aber Tempo 30 soll auch auf dem 900 Meter langen Streckenabschnitt zwischen Hardbrücke und Bucheggplatz bald Einzug halten und somit das Quartier beruhigen. Ob die Rosengartenstrasse ihr hässliches Gesicht trotz Facelifting behalten wird? Ein bisschen wäre es zu hoffen. Denn laut, unbequem, rebellisch – das wollen in Zürich viele sein. Die Rosengartenstrasse ist es, ohne es gewollt zu haben. Wie es sich für ein «Enfant Terrible» gehört.

Isabel Brun

Romantik:  3 von 5 Punkten (Was ist romantischer, als nicht miteinander sprechen zu können, weil die Strasse zu laut ist? In der Stille liegt die Kraft.)

Coolness-Faktor: 5 von 5 Punkten (Real, realer, Rosengarten!)

Gut zu wissen: Die Rosengartenstrasse wurde bis ins Jahr 1965 zweispurig geführt und ursprünglich als Provisorium im Rahmen der Westtangente auf vier Spuren erweitert. Dadurch wurde sie zu einer der meistfrequentierten Strassen der Schweiz: Heute fahren täglich 56’000 Autos über das knapp 1 Kilometer lange Strassenstück. Funfact: Bis in die 60er-Jahre gab es eine Tram, die vom Wipkingerplatz zur Nordbrücke fuhr. 

Shop-Ville, du monströse Ausgeburt eines Einkaufszentrums mit eigenem Hauptbahnhof wirst immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben, so Yann Bartal. (Foto: Jula Zwinggi)

Shop-Ville my Chérie

In den 50er-Jahren war das Verkehrschaos auf dem Bahnhofplatz so gross, dass Konsequenzen getroffen werden mussten: entweder die Autos, die Trams oder die Passant:innen müssen weg. Warum in alles in der Welt hat man sich dafür entschieden, die Fussgänger:innen in den Stollen zu verbannen? Na ja. Die englisch-französische Bastardmischung «Shop-Ville» entstand. 

Vom ersten Bau bis zur jüngsten Shop-Ville-Erweiterung vergingen 44 Jahre und damit 44 triste Jahre, bis man merkte, dass komplett schwarzer Granit in einer unterirdischen Einkaufspassage eventuell nicht die menschenfreundlichste Bauweise ist.

Aller Tristesse zum Trotz war der alte, dunkle Shop-Ville-Teil eine wichtige Spielwiese meiner frühen Jugend. Der Mikrokosmos mit den vielen Treppen, verwinkelten Gängen und versteckten Zugängen hat es mir besonders angetan. Meine Freunde und ich verbrachten so viel Zeit unter Tage, dass ich auch heute noch von mir behaupten kann, von jedem erdenklichen Punkt am Bahnhofplatz den schnellsten Weg zum nächsten unterirdischen Interdiscount zu finden. Das ganze verwegene Spektrum des Detailhandels findet sich im Shop-Ville. Zum Glück kann man an 365 Tagen im Jahr bei Chicorée einkaufen. 

Nachdem wir jeweils den ganzen Nachmittag von Laden zu Laden vagabundiert sind, bestand die Königsdisziplin schliesslich darin, durch den würfelförmigen Brunnen zu springen. Immer mit geschlossenem Mund, das Wasser war anscheinend hochgiftig. Wer sagt, in der Stadt könne man keine schöne Kindheit verbringen?

Yann Bartal

Romantik: 5 von 5 Punkten (Romantisches Diner im Nordsee, daneben das Plätschern des Würfelbrunnens. Anschliessend in einem Spaziergang ein halbes Jahrhundert Architektur-Entwicklung von schwarzem zu weissem Granit erleben.)

Coolness-Faktor: 3 von 5 Punkten (In den heissen Monaten sind die unterirdischen Passagen einigermassen kühl.)

Gut zu wissen: Um einen Namen zu finden, gab es im Frühling 1970 einen öffentlichen Wettbewerb. Dem:der Gewinner:in versprach man einen VW-Porsche. Aus 5000 Vorschlägen wie «Ladeschacht», «Power City» und «unedure» schafften es «Ladorado», «Shoppikon» und eben «Shop-Ville» unter die ersten Drei.

Jula Zwinggi über eine Tankstelle: «Hier tankt man mit Aussicht auf die Kalkbreite und wenn man an der richtigen Stelle steht, strahlt sogar das Lochergut im Hintergrund hervor.» (Foto: Jula Zwinggi)

Tankstelle Wiedikon: Back to the 80’s, Baby!

Dort, wo so viele wohnen wollen, zwischen dem Bahnhof Wiedikon und der Kalkbreite, macht sie sich breit: die Tankstelle an der Seebahnstrasse. Auch bekannt als BP Service Wiedikon. Hier tankt man mit Aussicht auf die Kalkbreite und wenn man an der richtigen Stelle steht, strahlt sogar das Lochergut im Hintergrund hervor. Die Tankstelle wirkt, als hätte sie seit den 80er-Jahren keine grosse Aufmerksamkeit geschenkt bekommen. Ausser vielleicht als an einem Samstagmorgen im Jahr 2020 ein bewaffneter Raubüberfall in ihr geschah. 

Die willkürlich gewordene Tankstelle beherbergt jedoch einen guten Querschnitt der Zürcher Bevölkerung. Studis, die gerade in die neue WG gezogen sind und das Zügelauto noch volltanken müssen, bevor sie es zurückbringen, mischen sich unter Protzer:innen, die ihren heissen Schlitten auftanken. Danach geht es mit 100 PS und nach Aufmerksamkeit geifernd ans Seebecken. Und am Abend verwandelt sich die Tankstelle in einen Treffpunkt für alkoholisierte Macker. 

Obwohl, oder vielleicht auch weil die Tankstelle wegen des Wild Bean Cafes einen gruseligen 80er-Touch hat, strahlt sie in dem immer mehr gentrifizierten Quartier eine am Boden gebliebene Stimmung aus. Und ich merke, wieso solche Unorte eben doch wichtig sind fürs Quartier und seine Durchmischung.

Jula Zwinggi

Romantik: 2 von 5 Punkten (Beim nächtlichen Spaziergang kann man sich beim Vorbeilaufen gut aneinander kuscheln, um sich sicherer zu fühlen.)

Coolness-Faktor: 2 von 5 Punkten 

Gut zu wissen: Das Wild Bean Cafe hat 24/7 offen. Warum also am Sonntag in die volle Migros am HB, wenn du auch einfach in der Tanki einen Snack holen kannst?

Hier gelangst du zu Teil 1 der Unorte unserer Redaktion.

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