Museumsdirektor Christian Brändle: «Objekte sind geboren, um mit dir zu sprechen»
Das Museum für Gestaltung in Zürich feiert sein 150-jähriges Bestehen. Im Interview erzählt Christian Brändle, was das Museum anders macht – und wie es damit erfolgreich ist.
Jenny Bargetzi: Herzlichen Glückwunsch zum 150. Geburtstag des Museums für Gestaltung. Würden Sie selbst gerne einmal so alt werden?
Christian Brändle: Wenn ich mit 150 Jahren in einem so guten Zustand wäre wie unser Museum, dann gerne.
Das Museum war 1875 als Kunstgewerbemuseum aus einer Sammlung der Lernenden der Kunstgewerbeschule entstanden. Wie viel ist davon heute noch übrig?
Wir arbeiten als Teil der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) eng mit dieser zusammen. Das beeinflusst, wie und was wir sammeln. Einerseits wollen wir den ganzen Lebenszyklus eines Objekts zeigen; von der ersten Bleistiftskizze bis zum Produkt, das im Laden steht und vielleicht sogar wie dieses wieder demontiert und entsorgt wird.
Andererseits interessieren wir uns für die Avantgarde. Das, was unserer Meinung nach eine neue Idee und Perspektive bringt.
Zum Beispiel?
Der Holzstuhl XXL von Sebastian Marbacher, den wohl nicht sehr viele kaufen. Aber man sieht ihn einmal und vergisst ihn nie wieder. Und seine Konstruktion ist hinreissend.
Nicht das typische Verständnis von einem Museum, das ausschliesslich schöne Dinge ausstellt. Trotzdem besuchten 2024 so viele Menschen ihre Ausstellungen wie noch nie.
Wir bewegen uns in einem sehr wettbewerbsintensiven Museumsmarkt. Deshalb müssen wir natürlich auch Projekte zeigen, die visuell und inhaltlich überzeugen. Aber wir sind kein Haus, das sich primär an die Bourgeoisie oder die Profis wendet.
Wie meinen Sie das?
Wir wollen diejenigen Leute abholen, die sich überlegen, ob sie ins Kino oder ins Museum gehen sollen. Es interessiert uns, neue Gäste am Rand unseres Publikumsspektrums für einen Besuch zu begeistern und die an Grafik und Design interessierte Community zu erweitern. Und wir wollen noch mehr junge Leute im Haus haben. Deshalb heben wir das Alter für den Gratiseintritt von 16 auf 20 Jahre an.
Allerdings haben die Museen weltweit mehr Besucher:innen und mehr Umsatz.
«Wir sind kein Haus, das sich primär an die Bourgeoisie oder die Profis wendet.»
Christian Brändle
Warum ist das so?
Die Museen machen ihre Hausaufgaben gut. Sie verändern die Beziehung zwischen dem Publikum und der Institution. Früher war das Museum ein Ort, an dem ein Kurator oder eine Direktorin auf einem Marmorsockel stand und einem die Welt erklärte. Das war eine einseitige Beziehung. Jetzt sind die Gäste plötzlich Teil des Projekts.
Wie zum Beispiel bei der kürzlich gezeigten Ausstellung von Oliviero Toscani, wo man in einer Fotokabine seine eigenen Fotos machen konnte und unmittelbar teil der Ausstellung wurde 17’000 Menschen haben ein Portrait hinterlassen. Das Publikum ist eingeladen, seine Meinung beizusteuern. Interaktion, Beteiligung, Spuren hinterlassen – das ist sehr wichtig.
Da fällt mir die «Swiss Design Lounge» des Museums für Gestaltung ein. Die Besucher:innen können dort kostenlos hinein, auf den Designermöbeln sitzen, die Kinder können miteinander spielen. Wird die Rolle des klassischen Museums aufgeweicht?
Objekte wie eine Malerei, eine Fotografie oder ein Plakat sind geboren, um mit dir zu sprechen, um so zu sein, wie sie sind. Bei einem Stuhl funktioniert das nicht so direkt. Du sollst sitzen können, damit er seine Botschaft vermitteln kann. Nur so kannst du ihn erleben.
Und wir freuen uns im Übrigen enorm, wie respektvoll die Leute mit unseren Möbeln umgehen.
Welche anderen Veränderungen hat es in der Geschichte des Museums für Gestaltung gegeben?
Anfangs befand sich das Museum in einem Wohnhaus in der Friedensgasse, 1896 zog es in das Landesmuseum und dann wäre es beinahe geschlossen worden. Niemand wollte die Verantwortung übernehmen, also holte man einen Belgier ins Haus. Jules de Praetere war der Direktor, der den gesamten alten historistischen Kram der Kunstgewerbesammlung verkaufte. De Praetere nahm den Erlös, fuhr nach Paris und kaufte im grossen Stil und mit viel Kompetenz exquisiten Jugendstil ein.
Das klingt mutig.
Das war mutig! Aus heutiger Sicht unvorstellbar. Heute stammt aber beinahe unsere gesamte Jugendstil--Sammlung von dort. Das war eine der grossen Initialzündungen des Museums.
Und dann?
In den 1930ern machte Alfred Altherr, der damalige Direktor, fünf Ausstellungen innerhalb von zwei Jahren, um dem Zürcher Bürgertum das moderne Gedankengut einzuprügeln. Eine Ausstellung davon waren die drei modernistischen Rotach-Häuser, beim oberen Letten an der Limmat.
Der Legende nach stand Altherr auf dem Balkon eines solchen Hauses, blickte über die Limmat auf das Gelände, auf dem heute das Museum steht, und sagte: «Dort drüben bauen wir das neue Museum und die Kunstgewerbeschule.» 1933 wurde das Haus hier an der Ausstellungsstrasse eröffnet.
Später, in den 1950er Jahren prägte Fred Schneckenburger mit der Schenkung seiner riesigen Plakatsammlung das Museum. Seine verrückten Stabmarionetten sind ein Highlight des Hauses. In den 1970er Jahren begann eine schwierige Zeit für das Museum, geprägt von den Folgen der Jugendunruhen von 1968 und dem Versuch des bürgerlichen Zürichs, an der alten Ordnung festzuhalten, die zunehmend zerfiel. Die Erlösung kam mit Martin Heller.
Was machte er?
Ihm gelang es in den 1990er-Jahren, das Museum für Gestaltung Zürich inhaltlich neu zu positionieren. Plötzlich war das Museum nicht mehr eine Dienstabteilung der Hochschule für Gestaltung und Kunst (HGKZ), wie die Kunsthochschule früher hiess, sondern eine eigenständige Institution, die sich vor allem mit gesellschaftspolitischen Themen beschäftigte. Das Museum und die Schule entfernten sich immer mehr voneinander, bis es schliesslich zu einem grossen Knall kam, der alles veränderte und das Museum in eine Krise stürzte. Das Museum war danach politisch enorm unter Druck und es kam zu einer radikalen Sparunde.
Und dann, im Jahr 2003, kamen Sie.
In diese Krise bin ich mit 32 Jahren – ich war noch ein Grünschnabel – hineingeraten. Doch das erwies sich als Chance. Es ist besser, in einer solchen Phase zu starten. So konnte ich die Dinge aktiv gestalten und vorantreiben.
Nun, 21 Jahre später, feiert das Museum für Gestaltung den 150. Geburtstag. Für das Jubiläumsjahr sind viele Ausstellungen und Aktivitäten geplant. Worauf können sich Besucher:innen freuen?
Da gibt es einiges! Wir haben uns bemüht, ein vielseitiges Programm für alle Altersgruppen zusammenzustellen. Zum Beispiel unser offenes Atelier am Wochenende zum Ausprobieren und Selbermachen; das kommt super an.
Ein weiterer Höhepunkt wird unsere neue Dauerausstellung «Swiss Design Collection» im Toni-Areal mit Highlights aus unserer Sammlung aus den Bereichen Grafik, Plakat, Kunstgewerbe und Industriedesign. Sie macht Teile des Archivs erstmals zugänglich. Dort gibt es einen Skywalk – der klingt vielleicht etwas «cheesy», ich weiss – aber dieser Glasboden lässt einen den doppelgeschossigen Raum des Archivs ganz neu erleben. Dort haben wir eine coole Lichtinstallation eingerichtet. Wenn man durchgeht, reagieren Bewegungssensoren und steuern das Licht. Man fühlt sich wie ein Glühwürmchen.
Und nicht zu vergessen: unsere Plakatausstellung am Utoquai-Seeufer. Es ging durch verschiedene Ämter, um die Genehmigung für 150 Plakate zum Thema Seen zu bekommen – aber wir haben es geschafft. Das wird der Knaller!
Was in der Geschichte des Museums ist etwas, das die meisten Leute überraschen dürfte?
Der niedrigste Versicherungswert, den wir angegeben haben, beträgt 1 Franken. Für eine Werk von Hans-Rudolf Lutz – «Die Hieroglyphen von heute» – 15'000 Piktogramme, alles Kartonausschnitte aus der ganzen Welt. Einzeln betrachtet sind sie fast wertlos, aber zusammen sind sie grossartig. Dieser lächerliche Versicherungswert kam bei der Versicherung nicht so gut an. Aber eigentlich sagt das mehr über die Absurdität des Kunstmarktes aus als über den tatsächlichen Wert der Schnipsel.
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2000 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2500 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!
Natürlich jederzeit kündbar.
Nach ihrem Bachelorstudium der Psychologie an der Universität Zürich sammelte Jenny erste journalistische Erfahrungen als Redaktionspraktikantin bei Tsüri.ch. Es folgten ein Masterstudium in Politischer Kommunikation an der Universität Amsterdam, Praktika bei der SRF Rundschau und dem Beobachter sowie ein einjähriges Volontariat bei der Neuen Zürcher Zeitung. Nach einigen Monaten als freischaffende Journalistin arbeitet Jenny seit 2025 wieder als Redaktorin bei Tsüri.ch.
Das mache ich bei Tsüri: Diskutieren, Recherchieren, Telefonieren, Schreiben.
Das mache ich ausserhalb von Tsüri: Meine Grenzen auf künstlichen Felsen austesten (manchmal auch auf echten). Ansonsten gehören die freien Nachmittage meinen Freund:innen, die Abende dem Kochen und die Nächte dem Tanzen.
Über diese Themen schreibe ich am liebsten: Über Themen, die etwas über einen Menschen erzählen oder über Dinge, die andere lieber verborgen halten würden.
Darum bin ich Journalistin: Weil es unzählige spannende Menschen, Themen und Geschichten gibt, die erzählt werden müssen.
Das mag ich an Züri am meisten: Dass die Stadt lebhaft und die Natur trotzdem nah ist. Und die lauen Sommerabende an der Limmat.