«Das komisch Schmeckende im Wasser ist das Heilende»

Die Hausregeln in «Mimikry: Wellness Retrotopia» sind einfach: Sprich leise, gib den anderen Gästen Raum, dein Körper ist gut und im Saunabereich darfst du nackt sein – musst es aber nicht. Das Theater Neumarkt bietet Kultur und Entspannen in einem Package – alles, was der gestresste Stadtmensch heutzutage braucht.

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Bild: Philip Frowein

Eine Kulturinstitution verwandelt sich in ein Sanatorium – wird zur Badeanstalt. Das scheint im Trend zu liegen. In Baden konnten Besucher*innen letztes Jahr anlässlich «Körper.Baden.Flow» ins (Kunst)Becken tauchen oder im «Sanatorium Langmatt» ihre Füsse und Waden in einem Kneippbad benetzen. Das Theater Neumarkt erweitert das Angebot durch einen Floating Tank – einem dunklen, geschlossenen Behälter mit seichtem, thermoneutralem Salzwasser. Floating nennt man das in Fachkreisen. Die ersten Tanks seien in den 1950er Jahren als Folterinstrumente konzipiert worden, um zu untersuchen, ob sich das Hirn bei Reizentzug ausschaltet. Aber wider Erwartung (oder Hoffnung) krochen die Patient*innen nach acht Stunden floaten ziemlich entspannt wieder aus dem Behälter. So wurden Patient*innen zu Klient*innen und schliesslich zu Gästen.

Zwischen Theater und Sauna

Im selbstgebauten Tank riecht es angenehm nach Holz. Der Körper schwimmt in 500 Kilogramm aufgelöstem Salz und schwebt schwerelos hin und her, wobei das Übergeben des Kopfes ins Wasser etwas ungewohnt ist. Das sanfte, bedeutungslose Hin- und Herpendeln schafft eine gute Grundlage zu vergessen, dass man Teil eines Theaterstücks ist und die Verschmelzung von kultureller Aktivität und Entspannungsdiktat eigentlich hinterfragen sollte. Das löst Druck aus. Aber hier, alleine im Tank, lässt sich das für einen kurzen Moment vergessen.

Es herrscht reger Betrieb im Wellness Retrotopia, dem reaktivierten Sanatorium im Neumarkt 5. In Folge Bauarbeiten wurde die alte «Bilgeri-Quelle» der ehemaligen Heilanstalt wieder gefunden, die den diversen Zwischennutzungen des Neumarkts weichen musste und nun in neuem, stilvollen Gewand erstrahlt. Eine fein säuberlich inszenierte Wellnesswelt: Hochwertige und wohlige Materialien wie Holz und Marmor mit Erd- und Blautönen in organischen Formen präsentiert.

Das Personal schwebt mit abgeklärtem so-schön-bist-du-da-es-ist-wundervoll-dürfen-wir-dein-Geld-abnehmen-Lächeln durch die Nass- und Ruhebereiche mit Verpflegungsmöglichkeiten. Durch einfache Signaletik im Retrotopia-Design finden Besucher*innen ihren Weg zur Arktischen Dusche auch ohne Googlemaps. Notwendig, denn das Mobiltelefon muss am Empfang in die Hände des Wellnesspersonals abgegeben werden. Ohne Aufpreis und auf Wunsch nimmt dieses Anrufe entgegen und informiert persönlich, wenn es sich um etwas Wichtiges handelt. Keine Ausrede für Workaholics, sich nicht zu entspannen.

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Bild: Stefan Burger

Saaltöchter und Saalsöhne kümmern sich um Entspannung und Wohlergehen

Die Schauspieler*innen sind mit ihren Vornamen beschriftet und tragen weiche Kutten aus dickem Filz in beruhigenden Farben – gelb, rosa, braunviolett. Sie plaudern leise, holen Besucher*innen zu bestimmten Treatments ab und stellen den neuen, in Bademäntel und Schlappen steckenden Gästen ein nach den persönlichen Bedürfnissen gestaltetes Package zusammen: «Emotional-Cleansing», «Youtube-Meditation», «Dying Well» oder «Fasten nach Dr. Bilgin», könnten darin verordnet werden. Letzteres beinhaltet ein intimes Tête-à-Tête, das einem die Absurditäten von Fasten- und Diättrends vor Augen führt. Mit gespieltem Genuss und nur wenigen Kalorien reicher kann in einer Entschlackungs- Haupt- und Aufbauphase das eigene Essverhalten reflektiert werden.

Die Treatments laufen parallel und werden ab und an von Kuhglocken unterbrochen. Die sogenannten Saalbrüder und -schwestern begeben sich mit konzentriertem Blick in eine Reihe, um singend von der offengelegten Heilquelle zu trinken und danach eine Gruppenchoreografie mit entschleunigten Harlem-Shake und Tai-Chi-Bewegungen zu zelebrieren. Zuschauen ist befremdlich, mitmachen auch. Aber nicht so befremdlich wie der eigene Disput, in welche Rolle man schlüpfen will: Kopfloser Wellnessbesucher oder kritische Zuschauerin? Für Spa-Laien, die sich im ungeschriebenen Spa-Sittenjargon unwohl fühlen eine willkommene Möglichkeit zur Eingewöhnung und Annäherung: Von Laien für Laien sozusagen.

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Bild: Philip Frowein

Es ist wie so oft bei erzwungenen Entspannungssettings ein selbstauferlegtes Aushalten: Den Kopf ausschalten und versuchen, nicht in stumme Panik auszubrechen, wenn die Youtube-Meditation noch weitere zehn Minuten dauern wird. Eine Erkenntnis, die im Theater wie auch im Spa kommen kann und in den meisten Fällen schnell wieder vergessen wird. Zurück im Alltag lässt nur das Salz in den Ohren die gerade erlebte Parallelwelt wirklich real werden und erinnert einem auch noch morgen an den Besuch im Theater Neumarkt.

Theater Neumarkt

Mimikry: Wellness Retrotopia

Theater und Sauna – eine immersive Wellnessarchäologie (geöffnet täglich 17-22:00, Montag Ruhetag)

Do, 6. Februar – So, 16. Februar 2020

Saaltöchter und Saalsöhne: Alireza Bayram, Brandy Butler, Hannah Drill, Jeremy Nedd, Janna Rottmann, Jakob Leo Stark, Stefanie Steffen, Sascha Ö. Soydan, Nora Wagner; Chefärzte: Prof. Dr. rer. nat. Hennric Jokeit, Prof. Dr. Claus Pias, Dr. nar. Anneke Janssen, Prof. Dr. med. Cornelius Borck, Dr. Dawid Kasprowicz, Prof. Dr. Jan Müggenburg, Prof. dig. nat. Angel Schmocker; Special Guests: Die Brunnenheizer*innen, Dr. Niklaus Ingold, Army of Love (Ingo Niermann, Alessandro Schiattarella u. a.); Künstlerische Leitung: Dr. Philipp Hauß, Hayat Erdoğan, Julia Reichert; Raumkonzept & Bühne: Simeon Meier; Kostüm: von Sono; Assistanz der Künstlerischen Leitung: Lisa Witzig; Ausstattungsassistenz: Viviane Rapp; Ausstattungshospitanz: Ikonija Stanimirovic.

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