Orte des Widerstands: Bier für unter 6 Franken im Röschibach-Kiosk

Der Röschibachplatz in Wipkingen hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Statt des Kleingewerbes dominieren heute Ketten. Der Veränderung trotzt ein Kiosk. Doch auch er muss sich in Zeiten der Aufwertungswelle neu erfinden.

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Die Gesichter hinter dem Röschibach-Kiosk: Freddy (links) und Anja mit Sohn Karim. (Bild: Noëmi Laux)

Freddy unterhält sich mit einer älteren Dame, die am Tresen ein Glas Rotwein trinkt. Ihr Handy sei kaputt, klagt sie dem Kioskbesitzer. Und «jesses», sie kenne sich mit diesen Geräten überhaupt nicht aus. Freddy winkt ab. «Du kannst mein altes haben», bietet er seiner Kundin an, «das läuft noch super.» Freddy ist ein aufgeschlossener Mann mit einem lauten Lachen. Der 54-Jährige trägt Jeans, einen weissen Hoodie, das Haar ist zurückgegelt.

Seine Partnerin Anja geht neben seiner Erscheinung fast etwas unter. Sie ist mindestens zwei Köpfe kleiner, zierlich und zurückhaltender als ihr Partner. Sie scheint den Überblick zu behalten, fängt die Leute ab, wenn sie den Laden betreten, bringt die Getränke und kassiert die Tische ab. Ist es gerade ruhig, raucht sie vor dem Kiosk eine Zigarette und unterhält sich mit den Kund:innen.

Gut und günstig statt schick und fancy

Im Januar 2023 konnten Anja und Freddy den Kiosk übernehmen, nachdem der Vorbesitzer überraschend gestorben war. «Am Anfang ging es uns vor allem darum, den Kiosk am Leben zu erhalten», erinnert sich Anja. Hätte keine Nachfolge gefunden werden können, wäre das nicht nur für das Quartier ein Verlust gewesen, sondern auch für sie persönlich. Mehr als zehn Jahre schon steht Anja hier hinter dem Tresen; früher als Angestellte, heute als Inhaberin. Auch Freddy lernte sie hier kennen. Als Anwohner war er oft Gast, trank sein Feierabendbier. Vor einigen Monaten ist Anjas Sohn Karim ins Geschäft mit eingestiegen. Seither führen sie den Kiosk als Familienunternehmen.

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Man kennt sich meist beim Vornamen: Anja und Freddy tauschen sich mit einer Kundin aus. (Bild: Noëmi Laux)
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Hier kostet das Bier noch unter sechs Franken – in Zürich muss man dafür sonst lange suchen. (Bild: Noëmi Laux)

In den letzten Jahren hat sich der Röschibachplatz stark verändert. Fast alle Gebäude rund um den Quartier-Hotspot wurden saniert, umgebaut und neu bezogen. Anstelle des Solariums kam die bunte Kinderkleiderbörse Kiwi, das heruntergekommene Bahnhofgebäude wurde durch ein neues, komplett saniertes ersetzt. Die neu gefundene Attraktivität des Platzes ist auch den Hauseigentümer:innen nicht entgangen. Und so steigen die Mietpreise rasant in die Höhe.

Symbolisch für die Gentrifizierungswelle steht ein Neubau direkt am Röschibachplatz. Nach zwei Jahren Bauzeit wurde der Ersatzneubau letzten Herbst bezogen, neben Wohnungen im Hochpreissegment haben im Erdgeschoss unter anderem auch Ableger des Vicafe und der Gelateria di Berna ihren Platz gefunden.

Inmitten dieser schicken und urbanen Umgebung wirkt der Kiosk am Röschibachplatz mit der grossen Aufschrift an den Schaufenstern und den Plastikstühlen vor dem Laden fast etwas aus der Zeit gefallen. Aber: «Die Leute kommen gern hier her, weil wir einen Kontrast bilden zu den umliegenden Lokalen», sagt Freddy. «Bei uns bekommt man keinen Kaffee für acht Franken, sondern nette Gespräche und selbst belegte Brötchen.» Anja zeigt auf die kleine Auswahl an Sandwiches in der Vitrine. Als die Bäckerei Jung gleich nebenan eröffnete, hatte sie ein bisschen Angst, ihre Sandwiches nicht mehr verkauft zu bekommen. «Aber das war zum Glück gar nicht so.»

Da drüben sei es schick und fancy, sagt Anja, «und bei uns ist es einfach und günstig». Ein grosses Bier kostet 5 Franken und 90 Rappen – dafür muss man sonst lange suchen in Zürich.

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Der Röschibachplatz 1974, fernab der Neubauten und Szenelokalen. (Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Comet Photo AG)

Orte des Widerstands

In den letzten Jahren haben sich viele Plätze in Zürich gewandelt. Befreit vom motorisierten Verkehr wurden sie zum Quartiertreffpunkt, wo sich Stadtmenschen gerne aufhalten. Mit der Aufwertung veränderte sich auch ihre Ausstrahlung: Kleine Läden verschwanden, stattdessen dominieren immer öfters grosse Ketten. Doch es gibt sie noch: Jene Cafés, Kioske und Dienstleister:innen, die sich nicht recht ins Bild einfügen wollen, die Plätze lebendig halten. Wir nennen sie «Orte des Widerstands» – und statten ihnen einen Besuch ab:

Vom Kiosk zum Kulturlokal

Dennoch ist die Veränderung des Platzes auch im Kiosk spürbar. «Das Publikum ist durchmischter als früher», sagt Anja. Während vor einigen Jahren noch vor allem Familien und ältere Leute hier lebten, ziehe Wipkingen heute immer mehr junge Menschen und Besserverdienende an. «Und», ergänzt Freddy und zeigt auf den Neubau auf der anderen Seite des Platzes, «aus diesem Haus kennen wir niemanden, da war bislang noch nie jemand bei uns im Kiosk».

Am Nebentisch hat gerade ein älterer Herr ein Bier bestellt. Er komme schon seit Jahren in den Kiosk, «hier ist immer jemand, den man kennt», sagt er und setzt das Glas zum Trinken an. Bei ihm am Tisch sitzen zwei Frauen. Man spricht wenig, doch das scheint niemanden zu stören.

Immer wieder kommt jemand herein und kauft ein Softgetränk oder eine Schachtel Zigaretten. Eine junge Frau in einem bunten Strickpullover betritt den Laden und erkundigt sich nach einer bestimmten Tabakmarke. «Die haben wir leider nicht», sagt Anjas Sohn Karim, der gerade Zigaretten ins Regal räumt.

Der Kiosk am Röschibachplatz sei nicht einfach nur ein Kiosk, indem Alteingesessene sich zum Bier treffen. «Auch, aber nicht nur», betont Freddy. «Wir wollen, dass sich hier alle willkommen fühlen.» Damit das gelingt, können sie den Wandel in der Nachbarschaft nicht ganz ausblenden. Neue Ideen müssen her, um die Kundschaft bei Stange zu halten. Seit das Paar den Laden übernommen hat, organisiert es deshalb am Wochenende sporadisch Veranstaltungen. Im hinteren Teil des Kiosks haben sie extra eine Bühne gebaut.

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Sohn Karim bedient die Gäst:innen am Kiosk. (Bild: Noëmi Laux)
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Bis in die späten Stunden kann man hier Tabak, Pizza und andere Snacks kaufen. (Bild: Noëmi Laux)

Einige Konzerte habe es schon gegeben, Karaoke-Nächte und einmal eine Lesung. Gerade bereiten sie sich für ein Hip-Hop-Konzert am kommenden Samstag vor. «Gerappt hat hier drin noch niemand», sagt Anja, während sie das Plakat aufhängt. «Reyan Rami im Röschibachkiosk» steht in pinker Schrift auf dem Aushang. «Mal schauen, ob das funktioniert», fügt sie an und streicht das Papier in der Tür glatt. 

Durch die Veranstaltungen wollen sie sich von einem Kiosk zu einem Kulturlokal entwickeln. Einerseits, um lokalen Künstler:innen eine Plattform zu bieten. Vor allem gehe es ihnen aber darum, das Quartier, mit dem sie beide tief verwurzelt sind, auch kulturell mitzugestalten.

Für Freddy und Anja ist es ein Spagat, an Bewährtem festzuhalten und trotzdem Veränderungen zuzulassen. Dabei wirken sie recht gelassen und optimistisch, dass das schon gelingen wird. Der Kiosk habe sich immer schon verändert, auch wenn das vielleicht nicht so scheine. «Als ich hier angefangen habe, gab es das Bistro noch nicht und am Kiosk konnte man nur Zigaretten und Pornohefte kaufen», erinnert sich Anja zurück.

Auf die Frage, ob sie sich auch manchmal Sorgen machen, dass ihr Kiosk irgendwann nicht mehr den Bedürfnissen der Menschen hier entspricht, überlegen sie kurz. «Nein, eigentlich nicht», sagt Anja. Und wenn doch, dann müsse man eben weitermachen. Die Zukunft sei ohnehin nicht planbar, man müsse die Dinge nehmen, wie sie kommen.

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