Alt-Stadtrat Wolff zur «Anti-Chaoten-Initiative»: «Ein Angriff auf die Stadt»

Der ehemalige Zürcher Polizeichef Richard Wolff lässt kein gutes Haar an der «Anti-Chaoten-Initiative». Diese sei ein Angriff auf die Stadt und die Grundrechte, zudem sei das Anliegen falsch und nicht umsetzbar.

Alt-Stadtrat Richard Wolff
«Wenn bei Ihnen Zuhause eingebrochen wird, müssen Sie die Kosten des Polizeieinsatzes auch nicht übernehmen» (Quelle: Tsüri.ch / Ladina Cavelti)

Hätten Sie als Polizeivorsteher gerne auf die Instrumente der «Anti-Chaoten-Initiative» zurückgreifen können?

Nein, überhaupt nicht. Die Forderung, dass die Kosten des Polizeieinsatzes weiter verrechnet werden, ist ja nicht neu. Das haben wir auch in meiner Zeit als Polizeichef in der Verwaltung und auch in der Politik mehrmals besprochen und sind immer zum gleichen Schluss gekommen: Die Idee ist falsch, weil die Polizei ja da ist, um Störungen zu beheben. 

Wie meinen Sie das?

Die Polizei muss für die öffentliche Ordnung sorgen, das ist ihre Aufgabe und dafür wird sie bezahlt – über die Steuern, als Teil des Service public gewissermassen. Es widerspricht dem Grundauftrag der Polizei, wenn jemand nach einer Demonstration separat bezahlen muss. Wenn bei Ihnen Zuhause eingebrochen wird oder Sie einen Autounfall haben, müssen Sie die Kosten des Polizeieinsatzes auch nicht übernehmen. Ausserdem wirkt die Androhung von Kostenfolgen abschreckend für alle, die das Demonstrationsrecht wahrnehmen wollen.

Was soll die Polizei tun, um Gewalteskalationen an Demonstrationen wirkungsvoll einschränken zu können?

Die Polizei muss immer im Einzelfall abwägen, ob es einen Einsatz braucht, wie sie auftritt, wer und was geschützt werden muss. Wenn es nicht gelingt, Gewalt zu verhindern, kann man nur versuchen, jene, die Sachbeschädigungen begehen zu identifizieren und zu verfolgen. Dies ist bereits mit dem aktuellen Gesetz möglich. Die tieferen Ursachen von Gewalt kann die Polizei nicht verhindern, das muss die Gesellschaft als Ganzes angehen.

«Selbst hundert Franken wären zu viel, um an einer Demonstration teilzunehmen. Dafür könnte ich fünfmal ins Kino!»

Richard Wolff

Wer entscheidet jeweils, ob es einen Polizeieinsatz braucht – sind es die gleichen, die gemäss der Initiative auch die Kosten weiter verrechnen würden?

Ja, ob es einen Einsatz braucht oder nicht, entscheidet die Polizei, in einigen Fällen auch der oder die politische Vorgesetzte. Mit der «Anti-Chaoten-Initiative» müsste man als Teilnehmende einer Demonstration für etwas bezahlen, das man gar nicht bestellt hat. Die Verursacher:innen der Kosten können dann sagen, der Polizeieinsatz sei gar nicht nötig gewesen beziehungsweise sie seien nicht die Verursacher:innen. Auch die Lagebeurteilung der Polizei kann mal danebenliegen. Bereits heute können die Kosten überwälzt werden, neu wäre dies zwingend. Es müssen also immer Schuldige gefunden werden. Man muss die Kosten überwälzen, ohne zu wissen, wem. Das ist nicht umsetzbar und zudem rechtlich fragwürdig. 

Menschenrechtsorganisationen sehen die Grundrechte in Gefahr, wenn die Initiative angenommen wird. Sie auch?

Ja, sehr sogar. Man wird sich fragen, ob man an einer Demonstration teilnehmen soll, wenn unklar ist, ob man im Nachhinein Kosten aufgebrummt bekommt. Stellen Sie sich vor, Sie schliessen sich spontan einer Demonstration an, weil Sie das Anliegen wichtig finden. Danach stellt sich heraus, dass keine Bewilligung vorlag und Sie eine Rechnung bezahlen müssen. Das geht nicht auf, es ist nicht durchdacht. Man muss fast annehmen, dass die Initiative bewusst so formuliert worden ist, obwohl man mit klarem Verstand sieht, dass es nicht geht. Sie ist ein Angriff auf die Meinungsäusserungsfreiheit, das Demonstrationsrecht und damit auf die Grundrechte. 

Falls der Gegenvorschlag durchkommt, muss das Parlament ein Gesetz dazu schreiben. Was ist dort wichtig?

Ich will mich nicht mit der Ausgestaltung eines Gesetzes befassen zu einer Idee, die ich für falsch halte. Es ist durchaus möglich, dass der vorgeschlagene Artikel nie zum Tragen kommt, weil er angefochten wird. Falls die Initiative oder der Gegenvorschlag angenommen werden, wird sich das Parlament den Kopf zerbrechen, wie das Gesetz überhaupt anwendbar gemacht werden kann. Der Kantonsrat müsste beispielsweise die Höchstbeträge festlegen, die weiterverrechnet werden können. Aber selbst hundert Franken wären zu viel, um an einer Demonstration teilzunehmen. Dafür könnte ich fünfmal ins Kino!

Die Stadt Zürich wollte die Bewilligungspflicht für Demonstrationen abschaffen. Mit der «Anti-Chaoten-Initiative» wäre diese Gemeindeautonomie ausgehebelt und jede Demonstration müsste zwingend bewilligt werden. Kann die Stadt etwas dagegen tun?

Es ist ein direkter Angriff auf die Stadt. Das Abschaffen der Bewilligungspflicht ist nichts anderes als konsequentes Umsetzen der Menschenrechte. Denn seine Meinung muss man auch ohne Bewilligung äussern dürfen. Alles andere widerspricht diesem Recht. Initiative und Gegenvorschlag verstossen gegen übergeordnetes Recht und sind anfechtbar. 

Es ist unüblich, dass sich ehemalige Regierungsmitglieder zu Abstimmungen äussern. Fürchten Sie sich vor dem Bedeutungsverlust?

(Lacht) Nein, aber ich sage gerne, was ich denke. Woher kommt denn dieser Mythos? Recherchieren Sie das mal. Ich sehe keinen Grund, das Recht eines Menschen zu beschneiden, der früher einmal ein Amt bekleidet hat. Derzeit mischen sich ganze Scharen ehemaliger Bundesrät:innen in den Abstimmungskampf um die 13. AHV-Rente ein. Die scheinen auch nicht an den Mythos des «Nicht-mehr-Einmischens» zu glauben.

Ohne deine Unterstützung geht es nicht

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1500 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!

Jetzt unterstützen!

Das könnte dich auch interessieren

schule
Initiative eingereicht

Bürgerliche Politiker:innen fordern Rückkehr von Förderklassen

Laut bürgerlichen Politiker:innen ist das integrative Schulsystem in Zürich gescheitert. Am Donnerstag reichen sie eine kantonale Volksinitiative ein, welche die Wiedereinführung von Förderklassen fordert.

Von Isabel Brun
josip-ivankovic-yZW-3LPsss8-unsplash
Petition gegen Erhöhung

ETH-Studierende wehren sich gegen höhere Studiengebühren für Ausländer:innen

Die ETH will die Studiengebühren für ausländische Studierende um ein Dreifaches erhöhen. Der Verband der Studierenden wehrt sich mit einer Petition.

Von Anna Pfister
überwachung kamera
Rechtsanwalt im Interview

«Sicherheitsbehörden interessieren sich für Gesichtserkennung»

Recherchen von Tsüri.ch deuten darauf hin, dass die Zürcher Stadtpolizei Gesichtserkennungssoftware verwendet. Martin Steiger, Anwalt für Recht im digitalen Raum, überrascht das nicht.

Von Tim Haag
Interview über Wohnungsnot

«In Schwamendingen haben wir keine Verdrängung beobachten können»

Kein Thema treibt die Zürcher:innen so stark um wie das Wohnen. In Schwamendingen werde niemand verdrängt, finden Katrin Gügler und Anna Schindler von der Stadt.

Von Lara Blatter

Kommentare