Kolumne: Das Märchen der toxischen Weiblichkeit - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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28. Oktober 2023 um 11:00

«Es ist absurd, toxische Weiblichkeit als Gegenstück für toxische Männlichkeit zu sehen» 

Seit einiger Zeit ist immer wieder von toxischer Weiblichkeit die Rede. Dabei gebe es das Phänomen gar nicht, sagt unsere Kolumnistin Jessica Sigerist. «Typisch weibliche» Verhaltensweisen seien in aller Regel Antworten auf die Stellung der Frau im Patriarchat.

Illustration: Artemisia Astolfi

Es gibt da einen Begriff, über den ich letzter Zeit immer wieder gestolpert bin. Der Begriff der «toxischen Weiblichkeit». Gemeint ist «typisch weibliches» Verhalten von Frauen, welches für sie selber oder andere schädlich sein kann. Toxische Weiblichkeit ist dabei eine Antwort auf den Ausdruck toxische Männlichkeit, ein seit den Achtzigerjahren etablierter Begriff, der destruktive, gewalt- und dominanzlegitimierende Männlichkeitsnormen beschreibt.

Und somit wären wir schon beim ersten Punkt, warum wir dem Begriff skeptisch gegenüber stehen sollten: Er kommt nämlich in den meisten Fällen dann zum Zuge, wenn es eigentlich um toxische Männlichkeit geht. Wenn Männer in Situationen, wo Männlichkeit kritisch hinterfragt wird, direkt mit dem Argument kommen «Aber es gibt auch toxische Weiblichkeit», wirkt das immer sehr verdächtig auf mich. Tönt fast ein bisschen so, als wolle man einfach vom Grundproblem ablenken.

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Wie so oft, wenn man versucht, Männer bei Gleichstellungsthemen in die Verantwortung zu nehmen, rufen sie gerne als erstes, wo sie selber benachteiligt sind. Zum Beispiel, wenn sie in den Militärdienst müssen. Es ist fast ein bisschen die Hufeisentheorie der Geschlechterfragen: Es wird argumentiert, dass beide Geschlechter (ja, ich schreibe bewusst beide, denn Menschen, die so argumentieren, vergessen in der Regel, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt) unter Rollenbildern leiden, beide Vor- und Nachteile haben, und beide durch stereotypes Verhalten den Geschlechtergraben aufrecht erhalten – toxische Männlichkeit und toxische Weiblichkeit also beide existieren und gleich schlimm sind.

Konstrukte in einer patriarchalen Welt

Tatsache ist: Es stimmt nicht. Beispiele für toxische Männlichkeit sind unter anderem Konfliktlösung durch Gewalt und Dominanz statt durch Kooperation, die eigenen Bedürfnisse über die der anderen stellen und das Unterdrücken von Gefühlen – ausser Wut und Aggression. Beispiele, die für toxische Weiblichkeit genannt werden sind: Zu grossen Wert auf Äusseres legen (zum Beispiel sich immer schminken), sich absichtlich schwach geben, die eigenen Bedürfnisse hinten anstellen, zu emotional sein und unterwürfig sein.

Man erkennt also, dass sich bei toxischer Weiblichkeit – im Gegensatz zu toxischer Männlichkeit – viel öfters gegen innen richtet. Leitragende von toxischer Weiblichkeit sind also oft die Frauen selber. Und wenn eine Frau sich extra schwach gibt, damit ein Mann ihr einen Schrank zusammenbaut, dann mag das bezüglich Abbau von Rollenklischees nicht besonders hilfreich sein. Wenn das das Schlimmste ist, was «toxische Weiblichkeit» hervorbringt, dünkt mich das im Vergleich zu den Anzahl Femiziden in der Schweiz allerdings ziemlich vernachlässigbar. 

«Toxische Weiblichkeit kann es aus dem gleichen Grund nicht geben, wie Rassismus gegen Weisse.» 

Jessica Sigerist


Männlichkeit und Weiblichkeit sind zwei historisch gewachsene soziale Konstrukte und gewachsen sind sie in einer patriarchalen Welt. «Typisch weibliche» Verhaltensweisen sind immer auch Antworten auf die Stellung der Frau im Patriarchat: Sie sind oft Überlebensstrategien, die sich Frauen angeeignet haben, um in einer Welt zu existieren, in denen sie sich in einer unterdrückten Position befinden. Eine Welt, die und deren Regeln sie nicht selber erschaffen haben. Männer und Frauen haben nicht die gleichen Voraussetzungen in dieser Welt und es ist daher absurd, toxische Weiblichkeit als Gegenstück für toxische Männlichkeit zu sehen. 

Allerdings können sich auch Frauen durchaus toxisch verhalten. Allerdings geschieht das meistens nicht, wenn sie sich «typisch weiblich» verhalten. Sondern dann, wenn sie sich ihrerseits patriarchal verhalten. Wenn sich privilegierte Frauen über weniger privilegierte Menschen stellen. Zum Beispiel, wenn cis Frauen trans Frauen ihre Daseinsberechtigung absprechen. Wenn es in Unternehmen weisse Girlbosse gibt, aber BIWOC (Black, Indigenous and Women of Colour) nur die Niedriglohnjobs machen dürfen. Wenn heterosexuelle Tradwifes (traditionelle Ehefrauen) sich gegen die Rechte von lesbischen Müttern einsetzen. Wenn Frauen ihre Position im patriarchalen System sichern, indem sie gegen unten treten, dann ist das toxisch. Als toxische Weiblichkeit kann es allerdings nicht bezeichnet werden. 

Toxische Weiblichkeit kann es aus dem gleichen Grund nicht geben, wie Rassismus gegen Weisse: Wenn Frauen sich durch «typisch weibliche» Handlungsweisen schädlich verhalten, so mag das auf individueller Ebene vielleicht nicht gut sein. Doch es fehlt die gesellschaftliche Ebene der Machtverhältnisse. Toxische Männlichkeit hingegen ist ein historisch strukturell und institutionell eingebettetes Konstrukt, welches aktiv die Gesellschaftsform aufrecht erhält, die toxische Männlichkeit überhaupt erst ermöglicht. In dem Sinne: Lasst uns gemeinsam das Patriarchat und toxische Männlichkeit abschaffen. 

(Foto: Elio Donauer)

Jessica Sigerist

Kolumnistin Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit einem ihrer Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

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