Kolumne: «Wir müssen mehr über Geburten sprechen» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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2. September 2023 um 05:00

«Eine Geburt ist mehr als eine Unannehmlichkeit, die man in Kauf nehmen muss»

Vor drei Jahren erlebte unsere Kolumnistin Jessica Sigerist zum ersten Mal eine Geburt. Das hat ihre Ansicht auf dieses Ereignis stark verändert. Deshalb findet sie, man solle mehr über Geburten sprechen – egal, ob sie besonders schön oder schwierig waren.

Illustration: Artemisia Astolfi

Letzte Woche hatte ich Geburtstag. Ich feierte den Tag, an dem ich geboren wurde; den Tag, an dem meine Mutter mich geboren hat. Es ist aber auch beinahe den Tag geworden, an dem ich selbst jemanden geboren habe. In der Nacht nach meinem Geburtstag vor drei Jahren setzten meine Wehen ein. Ab da dauerte es aber nochmals dreissig Stunden, bis das Kind da war und somit teilen mein Kind und ich uns nicht den Geburtstag, aber die Geburtstagswoche.

Seit drei Jahren ist in dieser Woche nicht mehr nur mein eigener, sondern auch der Geburtstag meines Kindes ein spezieller Tag. Einer zum innehalten, zurückschauen, sich erinnern, nach vorne schauen, feiern und sich freuen. Der Geburtstag meines Kindes ist mir wichtiger als mein eigener, aber nicht mal so sehr des Kindes wegen: Der Tag, an dem ich geboren habe, ist ein entscheidendes Ereignis in meinem Leben. An ihn erinnere ich mich – im Gegensatz zum Tag, an dem ich selbst geboren wurde. 

Fast ein Jahr danach habe ich mein Geburtserlebnis in einem Podcast geschildert. Einerseits, weil ich es schlicht eine super gute Geschichte finde (emotional, spannend, voller unerwarteter Wendungen, lustig, mitreissend), die ich immer wieder gerne erzähle. Andererseits, weil ich es wichtig finde, solche Geschichten zu teilen.

Nur Mittel zum Zweck?

Als ich (ungeplant) schwanger wurde, hatte ich mich noch nie in meinem Leben mit dem Thema Gebären auseinandergesetzt. Ich hatte keine Menschen in meinem nahen Umfeld, die kürzlich geboren hatten und da ich vor meiner Schwangerschaft auch nicht vor hatte, es jemals selbst zu tun, hat mich das Thema nie besonders interessiert. Vom Gebären hatte ich etwa so viel Ahnung wie von Hüftoperationen: Das ist etwas, das man macht, wenn es unvermeidbar ist, und zwar im Spital. 

Geburten werden in unserer Gesellschaft oft als ein notwendiges Übel gesehen, das halt hingenommen werden muss. Schlimme Geburten dauern Stunden, sind schmerzhaft, blutig und traumatisch. Gute Geburten gehen schnell vorbei, sind kurz und schmerzlos. Wie ein Pflaster, das mit einem Ruck von der Haut gezogen wird.

In jedem Falle sind Geburten aber nur Mittel zum Zweck: Hauptsache, dem Baby geht es gut. Mit dieser Einstellung bin auch ich in meine Schwangerschaft gestartet. An einem anderen Ort als im Spital zu gebären, wo diese mühselige Angelegenheit gemanagt wird, kam gar nicht in Frage. Hausgeburten seien etwas für durchgeknallte Hippies, die Barfussschuhe tragen und sich nicht impfen lassen, dachte ich. Also nicht für Menschen wie mich.

«Die gebärende Person hat jedes Recht, dieses Ereignis zu gestalten, wie sie will.»

Jessica Sigerist

Als ich zum ersten Mal die Schilderung eines Geburtserlebnisses las, wo die gebärende Person das Geburtszimmer in ihren liebsten Farben dekorierte und Duftkerzen aufgestellt hatte, fand ich das ehrlich gesagt ziemlich lächerlich. Wer würde schon Duftkerzen aufstellen für ein Ereignis, das einer Hüftoperation oder dem Wegziehen eines Pflasters gleichkommt? 

Aber ich las mehr Geburtsberichte und merkte, wie unterschiedlich die Erlebnisse sein können. Als mir meine Freundin, die auch als sogenannte Doula werdende Mütter in der Schwangerschaft begleitet, das Buch «Giving Birth Like A Feminist» in die Hand drückte, wurde mir klar: Mein Bild, das ich von Geburten hatte – das Bild, das die Gesellschaft von Geburten zeichnet – ist ein sehr beengtes. Es ist nicht nur eng, es ist auch sehr patriarchal geprägt.

Viele Narrative, die wir rund um Geburten haben, sind für Gebärende alles andere als empowernd. Geburten werden als Ereignisse dargestellt, die man im besten Fall schnell wieder vergisst. Das führt dazu, dass Geburtserlebnisse seltener erzählt werden, denn Erzählen ist Erinnern.

War die Geburt kein schönes Erlebnis, war sie schmerzvoll oder beängstigend oder sind unter der Geburt Grenzüberschreitungen passiert, wird noch weniger darüber gesprochen. Denn man soll ja nicht jammern, man soll «sich nicht so anstellen», Hauptsache das Baby ist gesund. Und Geburten, nach denen das Baby nicht gesund ist oder nicht lebendig? Davon hört man selten, und doch gibt es sie. Geburten, vor allem traumatische, werden tabuisiert. Und Tabuisierung führt immer zu Vereinzelung. 

Wir müssen mehr über Geburten sprechen, denn eine Geburt ist mehr als eine Unannehmlichkeit, die man in Kauf nehmen muss, um ein Baby zu bekommen. Geburten sind grosse Lebensereignisse. Sie können schön, kraftvoll, schmerzhaft, orgiastisch, laut, leise, berührend, traurig, traumatisch und ja, manchmal auch lustig sein.

Die gebärende Person hat jedes Recht, dieses Ereignis zu gestalten und so zu begehen, wie sie will. Sie hat das Recht, dies zu feiern, sich zu freuen, zu trauern, zu verarbeiten. Sie hat das Recht, darüber zu erzählen und dass ihr zugehört wird. Die Geburtsgeschichten von anderen Menschen haben mir gezeigt, wie unterschiedlich Geburten sein können. Sie haben mich motiviert und inspiriert, dass ich mich ermächtigt gefühlt habe und selbstbestimmt gebären konnte.

Ich habe mich schlussendlich für eine Hausgeburt entschieden. Und ja, ich habe Kerzen in meinen Lieblingsfarben aufgestellt. Alles Gute zum Geburts-Tag. 

(Foto: Elio Donauer)

Jessica Sigerist

Kolumnistin Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit einem ihrer Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

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