35 Jahre Freiplatzaktion – Zum Recht verhelfen und Unrecht aufzeigen

Die Freiplatzaktion feiert ihr 35-jähriges Bestehen. Hannes Lindenmeyer hat mit dem Team, der Anwältin Corinne Reber, dem Geschäftsleiter Samuel Haeberli und dem Kommunikationsverantwortlichen Salvatore Pittà, ein Gespräch geführt.

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Bild: Tingey Injury Law Firm on Unsplash

Dieser Artikel ist zuerst bei der P.S. Zeitung erschienen.

Hannes Lindenmeyer: Gemäss Jahresrechnung belaufen sich die gesamten Personalkosten für das vierköpfige Team auf 218 000 Franken. Das entspricht in etwa dem Honorar eines bescheidenen Anwalts. Was motiviert Sie, Corinne Reber, als ausgebildete Rechtsanwältin in der Freiplatzaktion Zürich (FPA) für

Corinne Reber: Ich war schon bevor ich mein Anwaltspatent erworben habe mit der FPA verbunden, zuerst als Freiwillige, später als Vorstandsmitglied. In einem Anwaltsbüro hätte ich nicht dieselben Möglichkeiten wie hier in der FPA, ‹aktivistische Rechtsarbeit› zu leisten, einerseits niederschwellig und unentgeltlich für die Ratsuchenden, anderseits mit der gezielten Absicht, unsere Erfahrungen direkt in die politische Debatte einzubringen.

Samuel Haeberli, Sie kommen nicht von der Juristerei her, Sie sind von Haus aus Soziologe und Ethnologe. In Fachkreisen gelten Sie weit über Zürich hinaus als ausgewiesener Kenner des schweizerischen Asylwesens. Wie sind Sie zu Ihrem Wissen gekommen?

Samuel Haeberli: Meinen Einstieg ins Thema habe ich vor Jahren als Hilfswerkvertreter bei Asylanhörungen im alten Verfahren gemacht. Asyl- und Migrationsrecht ist ein sehr spezielles und sich rasch entwickelndes Rechtsgebiet. Es ist ein ständiges learning by doing, das Wissen erweitert sich laufend mit den konkreten Erfahrungen. Jede Eingabe, jede Fallberatung lässt die Kompetenz wachsen. Meinen soziokulturellen Hintergrund erachte ich als eine wichtige und nötige Erweiterung der Betrachtungsweise. In jedem Verfahren geht es zentral ums Geschichten erzählen. Die Geschichten im Kontext des Bildungs- und Herkunftshintergrunds der Erzählerin, des Erzählers zu verstehen und zu deuten stellt einen wichtigen Beitrag dar, der bei rein juristischer Betrachtung untergehen würde.

Eine soziale NGO hat drei Zielgruppen: Menschen, die Unterstützung brauchen, Menschen, die Unterstützung leisten wollen, die breite Öffentlichkeit, Politik und Behörden. Salvatore Pittà, auf welchen Kanälen sprechen Sie als Kommunitaionsverantwortlicher die drei Zielgruppen an?

Salvatore Pitta: Die Asylsuchenden, unsere Leistungsempfänger, sprechen wir mit Flyern und unserer Website an, in 17 Sprachen. Bei der Übersetzungsarbeit werden wir auch von Leuten unterstützt, die wir aus früheren, erfolgreichen Verfahren kennen und die nun ihre Sprachkompetenz für die FPA einsetzen. Die wichtigste Kommunikation für die erste Zielgruppe geht aber von Mund zu Mund in den Zentren.

Die zweite Zielgruppe, unsere Unterstützer, erreichen wir über den vierteljährlichen Rundbrief. Sehr wichtig für die FPA ist unser breitgefächertes, interdisziplinäres Netzwerk von ideellen Unterstützern, sie leisten wesentliche Beiträge: Anwaltskanzleien, Psychotherapiepraxen mit Erfahrung in Traumatherapie, PolitikerInnen auf Stadt-, Kantons- und Bundesebene. Unsere Aktion «Lohn für Rechte» richtet sich an all jene, die keine Zeit für ein direktes Freiwilligen- Engagement haben: Mit einem gespendeten Lohnanteil unterstützen sie asylsuchende Menschen, bereits 40 Franken ermöglichen eine Beratungsstunde.

«Pikett Asyl» ist ein neues Projekt, es wurde Anfang September gestartet: Die FPA bietet Rechtsberatung an für den Weiterzug von Verfahren, die von den amtlichen Rechtsvertretern als «aussichtslos» bewertet werden. Eigentlich übernimmt die FPA damit eine Aufgabe, die ein Rechtsstaat von Amtes wegen leisten müsste: Die juristische Begleitung eines Rekursverfahrens. Ist es richtig, dass die FPA in die Lücke springt und so den Staat entlastet?

Corinne Reber: Das Asylrecht ist in vielerlei Hinsicht dem Strafrecht nicht unähnlich. Aber es gibt einen fundamentalen Unterschied: Während im Strafrecht der Grundsatz «in dubio pro reo», im Zweifel für den Angeklagten, gilt, ist das im Asylrecht – zumeist – umgekehrt; Zweifel begründen einen Negativentscheid. Umso stossender ist es, dass für eine Zweitbeurteilung kein Rechtsbeistand mehr zur Verfügung steht. Wenn man sich bewusst ist, was ein Asylbewerber alles aufs Spiel gesetzt hat, um hier eine neue Existenz aufzubauen und das dann alles mit einem einzigen Verfahren – ohne die Möglichkeit eines professionell begleiteten Weiterzugs an eine höhere Instanz – zunichte gemacht wird, dann ist das doch aus rechtsstaatlicher Sicht höchst bedenklich.

Samuel Haeberli: Wir sind uns sehr bewusst, dass wir hier Leistungen erbringen, die eigentlich Aufgaben des Staates wären. Wir springen aber aus zwei Gründen in diese Lücke: Einerseits geben uns diese Rekursverfahren die Basis für ein Monitoring der neuen Verfahrenspraxis. Es ist doch sehr erstaunlich, was die Statistik zeigt: In der Ostschweiz liegt die Beschwerdequote – also die Möglichkeit, nach einem Negativentscheid die Leistungen des amtlichen Vertreters für einen Rekurs in Anspruch zu nehmen – bei fünf Prozent, in Zürich bei neun Prozent, in der Romandie aber bei 20 Prozent. Wenn wir uns hier engagieren, werden wir aufgrund konkreter Erfahrungen aufzeigen können, ob und wie gerecht oder ungerecht das Verfahren funktioniert.

Dann gibt es aber noch einen anderen, einen humanitären Grund: Wenn der Asylsuchende einen Negativentscheid und von seinem amtlichen Beistand die Bewertung «aussichtslos» erhält, wird er mit diesem alle seine Hoffnungen zerstörenden Entscheid auf der Stelle völlig allein gelassen. Wir sind entschlossen, jedem Betroffenen, jeder Betroffenen das Gehör zu geben und ihm oder ihr selber die Wahl zu überlassen, ob der Entscheid weitergezogen werden soll – so wie das jedem Angeklagten in einem Rechtsstaat zusteht. Im Laufe meiner Beratungsarbeit habe ich erkannt, wie wichtig das Element Wiederholung ist: So einschneidende Entscheide, wie sie in Asylverfahren gefällt werden, können Betroffene nur verstehen, wenn jemand da ist, der auf alle ihre Fragen eingeht, mehrmals, immer wieder.

Salvatore Pittà: Dem Pikett Asyl kommt aber auch eine internationale Bedeutung zu: Das neue Asylverfahren der Schweiz gilt bei den EU-Behörden als Pilot: Es wird geprüft, ob an den Aussengrenzen Europas analog vorgegangen werden kann, in Lesbos, in Italien, in Spanien. Je nachdem wird mit diesem Konzept die Festung Europa dicht gemacht. Da werden unsere Erfahrungen aus dem Pikett Asyl wichtig sein, um die rechtsstaatliche Problematik dieses Konzepts ganz konkret aufzeigen zu können.

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