«Es war befreiend, über die Familiengeschichte zu schreiben»

Nelio Biedermann ist mit 22 Jahren der Newcomer-Star der deutschsprachigen Literatur. Sein zweiter Roman «Lázár» erscheint in über 20 Ländern. Ein Gespräch über jungen Ruhm, Familiengeheimnisse – und die Wahrheit, die manchmal nur in Märchen zu finden ist.

Nelio Biedermann vor Bäumen an der Sihl in Zürich
Seine ungarischen Vorfahren flüchteten in den 1950er-Jahren in die Schweiz: der Zürcher Autor Nelio Biedermann. (Bild: Kai Vogt)

Die Sonne bricht durch die Wolken, als Nelio Biedermann am Bahnhof Wiedikon auftaucht. Der neue Shootingstar der deutschsprachigen Literaturszene wirkt gelassen, obwohl er mitten in einem Interview-Marathon steckt. Anfang September erscheint «Lázár», sein zweiter Roman.

Darin erzählt Biedermann von einer ungarischen Adelsfamilie, die von den Strudeln des 20. Jahrhunderts mitgerissen und während des Ungarischen Volksaufstands enteignet und zur Flucht in die Schweiz gezwungen wird. Die Erzählung basiert grob auf Biedermanns eigener Familiengeschichte.

In 18 Sprachen wird der Roman übersetzt, in über 20 Ländern wird er in den Schaufenstern liegen – von zahlreichen europäischen Staaten über Brasilien bis zu den USA, Grossbritannien und Israel. Damit steht Biedermann vor seinem internationalen Durchbruch. Er ist erst 22 Jahre alt und studiert noch an der Universität Zürich Germanistik und Filmwissenschaft.

Kai Vogt: Auf Sie rollt eine Welle des Erfolgs zu, wie sie nur wenige Schriftsteller:innen erleben. Wie fühlt sich das an?

Nelio Biedermann: Ich freue mich riesig, dass Lázár in so vielen Sprachen erscheint! Genau das habe ich mir für das Buch gewünscht. Aber es ist natürlich auch ein surreales Gefühl.

Viele Autor:innen scheuen die Öffentlichkeit. Sie nicht?

Ich will das Beste für das Buch, deshalb gehört für mich die Öffentlichkeit dazu. Es macht mir aber auch Spass, darüber zu sprechen. Über ein Jahr lang war ich mit dem Text allein.

Sie haben ein Jahr an Lázár gearbeitet? 

Ich wusste schon mit 16, dass ich über meine Familiengeschichte schreiben wollte, habe mehrmals angefangen und wieder aufgehört. Es war also ein viel längerer Prozess. Das eigentliche Schreiben dauerte mehr als ein Jahr, das Überarbeiten nochmals einige Monate.

Sie selbst stammen väterlicherseits aus ungarischem Adel, Ihre Grosseltern flohen in den 1950er-Jahren in die Schweiz. Wie ist der Wunsch entstanden, über diese Geschichte zu schreiben?

Das Thema war in unserer Familie immer sehr präsent. Die Wohnung meiner Grossmutter in Zürich war noch eingerichtet wie damals, mit alten Möbeln und Gemälden. Schon als Kind hörte ich oft die gleichen Geschichten aus dem damaligen Österreich-Ungarn und den Weltkriegen. Sie liessen mich nicht los.

Wer hat Ihnen diese Geschichten erzählt?

Vor allem mein Vater und meine Grossmutter. Sie floh 1956, schwanger mit meiner Tante, von Ungarn in die Schweiz; mein Vater wurde hier geboren. Als ich das Schreiben für mich entdeckte, wusste ich, dass ich diesen Stoff einmal behandeln wollte. Schon bei der Maturaarbeit spielte ich mit dem Gedanken, verwarf ihn aber wieder. Vor zwei Jahren war ich in Portugal und hatte dann plötzlich den ersten Satz – und wusste, jetzt stimmt der Ton.

«Am Rand des dunklen Waldes lag noch der Schnee des verendeten Jahrhunderts, als Lajos von Lázár, das durchsichtige Kind mit den wasserblauen Augen, zum ersten Mal den Mann erblickt, den es bis über seinen Tod hinaus für seinen Vater halten wird.»

Sie decken die Geschichte dreier Generationen der adligen Familie Lázár ab, vom Ende des Habsburgerreichs bis zur Flucht in die Schweiz aufgrund des Ungarischen Volksaufstands 1956. War diese grosse Zeitspanne nicht eine Herausforderung?

Nein, das ergab sich ziemlich natürlich. Der historische und zeitliche Rahmen gab mir bereits eine Handlung, die ich ausschmücken konnte.

Wie stark entspricht denn Lázár der historischen Wirklichkeit?

Die grundlegenden Stationen des Romans – Krieg, Enteignung, Zwangsarbeit, Flucht – orientieren sich eng an der Realität, die Figuren hingegen sind alle fiktiv. Während des Schreibens war mir gar nicht mehr so wichtig, was wahr ist und was erfunden. Das hängt auch damit zusammen, dass ich über die Familie Lázár und nicht über die Familie Biedermann geschrieben habe. Das verschaffte mir beim Schreiben mehr Freiheit.

Wie haben Sie sich der Geschichte angenähert?

Zu Beginn habe ich viel recherchiert, Bücher aus der Zeit gelesen, grosse Familienromane studiert, um ein Gefühl für die Epoche zu bekommen. Nach einem halben Jahr merkte ich jedoch, dass ich damit an Grenzen stiess und mehr Hintergrundwissen brauchte. Also reiste ich zu meinem Grossonkel nach Budapest.

Was haben Sie dort gemacht?

Vor allem habe ich mit ihm gesprochen und bin mit ihm durch die Stadt spaziert. Ich wollte erfahren, wie die Familie gelebt hat, was sie gegessen hat, wie sie Geld verdiente. Mein Grossonkel zeigte mir, wo meine Familie aufgewachsen ist und welche Häuser ihr gehörten. Das war sehr schön.

Trauert Ihr Grossonkel dieser Zeit nach?

Ich glaube schon. Als Kind habe ich nicht verstanden, warum dieser Vergangenheit so viel Bedeutung beigemessen wurde. Beim Schreiben wurde mir klar, dass es eine traumatische Erfahrung war: Von einem Tag auf den nächsten war die Lebensgrundlage weg. Die Kommunistische Partei enteignete aristokratische Familien und gab ihnen vierundzwanzig Stunden, um ihre Häuser zu räumen.  

Inwiefern prägt Sie Ihre Familiengeschichte?

Ich hatte einerseits immer grosses Interesse daran, andererseits eine starke Abwehrhaltung. Das Schreiben hat mir geholfen, mehr Verständnis für diese Geschichte zu entwickeln – und nachzuvollziehen, warum man sich daran festklammert. Es war eine Befreiung, darüber zu schreiben.

Im Buch zeichnen Sie die Leben einzelner Familienmitglieder nach, beschreiben, wie sie sich verlieben, sich betrügen, hoffen und trauern – oder sich das Leben nehmen. Welches Thema steht für Sie im Zentrum?

Ausgangspunkt war für mich der Verlust, ein Gefühl, das ich stark in meiner Familie gespürt habe. Vielleicht auch die Zeit: wie sie voranschreitet, wie man sich ihr letztlich unterordnen muss und in jeder Minute etwas verliert. Aber ein einziges Thema festzulegen, fällt mir schwer.

Ihre Figuren erleben zwei Weltkriege, den Holocaust, den Ungarischen Volksaufstand. War es schwierig, über solche tragischen Ereignisse zu schreiben?

Es war für mich einfacher, darüber zu schreiben als davon zu lesen. So war ich der Geschichte weniger ausgeliefert, sondern konnte mich aktiv mit ihr auseinandersetzen, sodass das Gefühl der Machtlosigkeit wegfiel. Gleichzeitig waren diese gewaltvollen Passagen dennoch die schwierigsten. Ich spürte ein starkes Verantwortungsgefühl, der Geschichte gerecht zu werden. 

Welche Passagen meinen Sie?

Nicht nur die, in denen die historisch bekannten Gräuel angeschnitten werden, sondern auch gewaltvolle Szenen wie die Flucht Evas und Pistas, als sie 1956 durch den tiefen Schnee die Grenze nach Jugoslawien überqueren. Oder die Vergewaltigung eines Dienstmädchens durch die Rote Armee. Es sind spezifische Handlungen, die sich vielleicht nicht direkt auf andere Geschichten übertragen lassen, die aber dennoch zu dieser Zeit gehören. 

Im Roman werden drei Vergewaltigungen angedeutet. Ein Thema, das Sie besonders beschäftigt?

Auf jeden Fall. Es ist etwas vom Schlimmsten, das man einem Menschen antun kann. Vergewaltigungen gehören zur Kriegsführung dazu und werden systematisch eingesetzt. Gleichzeitig gibt es sie auch in Friedenszeiten, vielleicht nicht im gleichen Ausmass. Diese Gewalt und wie sie auch nach Generationen nicht verschwindet, beschäftigt mich. 

Solche Ereignisse werden in Familien oft verdrängt. Haben Sie beim Schreiben den Drang verspürt, Verschwiegenes aufzudecken?

Ja, auch von meiner Familie wurden immer nur die guten Geschichten erzählt. Mir war es wichtig, auch die Schattenseiten zu beleuchten. Verschweigt man sie, führt das zu einer falschen Geschichtsschreibung, was gefährlich ist. 

Sie brechen in Lázár die Realität immer wieder mit übernatürlichen Elementen. Da ist zum Beispiel ein Wald, der Familienmitglieder verschluckt, oder ein Junge namens Pista, der mit Schatten spricht. Wieso diese magischen Komponenten?

Diese Elemente haben mir das Schreiben erleichtert. Der Bruch zwischen Historischem und Märchenhaftem erlaubte es mir, mich von den Fakten zu lösen und zu erzählen, was ich wollte. So konnte ich mich auf die Suche nach der tieferen Wahrheit machen, die hinter dem Wald und der Oberfläche der Geschichte lag. Dabei war meine Grossmutter sehr wichtig.

Inwiefern?

Am Ende ihres Lebens wurde sie dement und war im Altersheim. Realität und Fantasie vermischten sich bei ihr. Morgens kamen Verstorbene vom Himmel herunter und sprachen mit ihr, oder sie erzählte, dass sie abends noch ins Jagdschloss gehe. Zwischendurch trank sie eine heisse Schokolade mit uns und war ganz präsent. Ich wollte beim Schreiben dasselbe erreichen: Dass Realität und Fantastisches natürlich nebeneinander existieren können. 

Sie lassen beim Schreiben vieles unerklärt. Wie kommt das?

Ich schreibe immer von Hand, tippe am nächsten Tag das Geschriebene ab und straffe den Text stark. Dabei entscheide ich mich bewusst dafür, Lücken zu lassen. Es ist schöner, wenn beim Lesen nicht alles vorgegeben wird, sondern die Leser:innen entdecken können. Man muss ihnen vertrauen und daran glauben, dass sie schlauer sind, als man denkt. 

Hat sich Ihr Stil seit dem letzten Roman «Anton will bleiben» verändert?

Ich finde es schwierig, ein Gefühl für meinen Stil zu haben. Wenn etwa mein Agent einen Satz als typischen Nelio-Satz bezeichnet, freut mich das – nachvollziehen kann ich es kaum. Ich weiss aber, dass ich mich weiterentwickelt habe. Beim letzten Buch ging es mir vor allem darum, die Geschichte zu erzählen. Bei diesem Roman habe ich mir viel stärker überlegt, wie ich sie erzählen möchte. Ich hatte mehr Selbstbewusstsein, formal zu experimentieren.

Zum Beispiel einen Satz über zwei Seiten zu schreiben?

(Lacht) Ja, genau.

An solchen Stellen spürt man, dass Sie gerne schreiben.

Besonders das Ausprobieren macht Spass! Im Buch gibt es lyrische Passagen, Briefe, sehr lange Sätze. Zu beobachten, welche Textform welche Wirkung entfaltet, war spannend.

Gibt es eine Figur, die Ihnen am nächsten ist?

Ich glaube Pista – eine eher schüchterne, dunkle Figur. Meine Lieblingsfigur ist er aber nicht. Am meisten schätze ich Imre. Er fällt aus dem Rahmen, ist der verwirrte Aussenseiter, der vieles überdauert. Gleichzeitig hat er etwas Märchenhaftes. 

Lázár wird in über 20 Ländern erscheinen, auch in Ungarn. Wie schaut Ihre Familie auf Ihren Erfolg? 

Meine Eltern sind sehr stolz. Auch mein Grossonkel hat mir gesagt, dass er sich sehr freut, dass die Familie nun einen Schriftsteller in ihren Reihen hat. Das Buch selbst hat er allerdings noch nicht gelesen. Er wartet auf die ungarische Übersetzung, die nächstes Jahr erscheinen soll. Auf seine Reaktion bin ich besonders gespannt.

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