Wie ein Bündner Bergtal in Zürich neue Wurzeln schlägt - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Isabel Brun

(Klima-)Redaktorin

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3. Oktober 2022 um 04:00

Puschlaver:innen in Zürich: Ein neues Leben ennet dem Bernina

Das Bündner Südtal Valposchiavo gehört zu den abgeschiedensten Regionen der Schweiz: Über vier Stunden dauert die Reise bis nach Zürich. Trotzdem scheint die Limmatstadt für Puschlaver:innen besonders attraktiv. Zwei Wahlzürcher:innen und eine Rückkehrerin erzählen.

Poschiavo: Ein 3500 Seelendorf mit einer speziellen Verbindung zu Zürich. (Foto: Seraina Manser)

Mühselig stöhnt das Postauto auf, als es nach der Kurve beschleunigt. Auf der Geraden kann es endlich durchatmen, einigen Passagier:innen geht es nach der Fahrt über den Bernina ähnlich. Hier, wo sich die karge Landschaft des Bergmassivs in eine kleine heile Welt auftut, liegt eines der abgekapselten Gebiete der Schweiz: Das Valposchiavo. Etwas über 4500 Menschen leben im südlichsten Teil des Kantons Graubünden. Über die Hälfte davon allein im Hauptort Poschiavo. Das Dorf ist Dreh- und Angelpunkt des Tals. Die Nähe zu Italien lässt sich nicht leugnen: Nicht nur wegen der architektonischen Eigenheiten und den stark gesüssten Gipfelis. Das Puschlav, wie die Region zu Deutsch genannt wird, gehört zur italienischsprachigen Schweiz. Ein «Buongiorno» hört man hier also etwa so oft, wie «Bundì», eine Begrüssung auf Pus’ciavin, dem ortsüblichen Dialekt.

Obwohl in der Schule ebenfalls italienisch gesprochen wird, zieht es viele junge Puschlaver:innen für die weitere Ausbildung nicht nach Italien, sondern in die Deutschschweiz. Einige davon landen früher oder später in Zürich. Laut dem Bevölkerungsamt des Kantons sind in den letzten zehn Jahren fast hundert Personen aus Poschiavo nach Zürich migriert. Wie viele davon in der Stadt gelandet sind, ist zwar nicht bekannt, trotzdem ist es ein offenes Geheimnis, dass die Grossstadt an der Limmat für viele aus dem Tal die erste Wahl ist, wenn sie ihr Heimatdorf verlassen. Weshalb ist das so? Drei Puschlaver:innen über Identität, neue Abenteuer und ihr Leben in zwei ganz unterschiedlichen Welten. 

Zürcher mit Vorbehalt: Michele Iseppi

Die Anreise erinnert ein bisschen an eine Bergwanderung, so steil ist die Zufahrtsstrasse am Burghölzli, ehe man das Zuhause von Michele Iseppi und seiner Familie erreicht. Im Garten des ehemaligen Personalhauses der Psychiatrischen Uniklinik tischt er getrocknete Zwetschgen von den umliegenden Bäumen und frischen Kräutertee auf. Der gebürtige Puschlaver scheint seine Naturverbundenheit in seiner Wahlheimat Zürich nicht verloren zu haben. «Alternative Wohnmöglichkeiten im Grünen ziehen mich irgendwie an», erklärt Iseppi.

Das habe er bereits in seiner Studienzeit in Mailand gemerkt, als er die Nähe zu den Bergen vermisst hatte. Zürich hingegen sei eine gute Mischung: urban und trotzdem ist man schnell im Wald oder in der Höhe. Iseppi nimmt einen Schluck dampfenden Tee. Er sei allerdings keiner der typischen «Heimweh-Bündner:innen», stellt der Vater eines vierjährigen Sohnes klar. Im Gegenteil: Er habe sich in Zürich immer sehr wohl gefühlt und könne sich in absehbarer Zeit nicht vorstellen, wieder nach Poschiavo zu ziehen. Jedenfalls nicht als Hauptwohnsitz.

«In Zürich kann man Tag und Nacht um die Häuser ziehen oder mit einer Gruppe zusammen Landwirtschaft betreiben – oder beides.»

Michele Iseppi

Trotzdem führt der selbstständige Grafiker zusammen mit seiner Frau ausgerechnet in seinem Geburtsort ein Nebengeschäft – und das sehr erfolgreich. Die Camps, die Dominique und Michele Iseppi seit sieben Jahre im ehemaligen Kloster von Poschiavo anbieten, sind meistens schon Monate zuvor ausgebucht. Mit dem Projekt Suliv verbinden die beiden Yoga, Bergsport und Kulinarik. «Das Entdecken von neuen, abgelegenen und authentischen Gebieten hat mich immer fasziniert», so der 40-Jährige. Diese Faszination wollen sie mit Suliv weitergeben. Hinzu kämen die guten Beziehungen mit Lebensmittelhersteller:innen im Valposchiavo, die aufgrund der geringen Grösse und Abgeschiedenheit der Region einfach zu pflegen seien. «Das Projekt ist für mich ein Draht zu spannenden Menschen, die in meiner Heimat wohnen», so Iseppi.

Alles andere als entwurzelt: Michele Iseppi im Gemeinschaftsgarten, den er mit anderen Naturliebhaber:innen teilt. (Foto: Isabel Brun)

Wie viele aus dem Dorf hatte auch er mit 14 Jahren diesen «Mikrokosmos» verlassen – für eine Lehrstelle im Engadin. Aber anders als einige seiner Freund:innen trauerte er seinem Heimatort nicht nach, sondern genoss die Zeit, weit weg vom früheren Alltag in Poschiavo. Nach seinem Studium in Italien entschied er sich schliesslich, nach Zürich zu ziehen. Wegen der Jobaussichten, aber vor allem wegen der unbegrenzten Möglichkeiten und der Vielfalt, welche die Stadt zu bieten hat. «Hier kann man jedem Lebensentwurf nachgehen oder auch gleich mehreren: zum Beispiel alleine mitten in der Stadt im Kreis 4 wohnen und Tag und Nacht um die Häuser ziehen oder mit einer Gruppe zusammen Landwirtschaft betreiben und selbstproduzierte Lebensmittel geniessen.» Letzteres entspreche mittlerweile eher seinen Vorstellungen, sagt er und lacht. 

Einige seiner ehemaligen Klassenkamerad:innen leben heute auch in Zürich, einzelne sind aber auch wieder zurückgekehrt: So zum Beispiel ein guter Freund von ihm, der am selben Abend noch zu Besuch kommen werde, erzählt Iseppi. Er selbst hingegen mag das Pendeln zwischen den zwei Welten, die Besuche bei seinen Eltern, die noch immer in Poschiavo leben und während der Camps im Kloster auf seinen Sohn aufpassen würden, und das Leben in Zürich, wo er in wenigen Minuten im Gewusel und der Anonymität sein kann, wenn er will. 

Einmal Zürich und zurück: Jana Baumann

Jana Baumann sitzt, ein Bein angewinkelt, auf einem Stuhl und bepinselt ein riesiges Laken mit knalligen Farben. Ein Alien mit Oktopusarmen erstreckt sich über das gesamte Bild. «Bis morgen muss es fertig sein», sagt die 24-Jährige, als sie aufschaut. Dass es beinahe Mitternacht ist, tut ihrem Elan keinen Abbruch. Während ihre Gäst:innen am Bier nippen oder einen Schlummertrunk zu sich nehmen, dekoriert die Künstlerin ihre Bar, mixt Drinks und wäscht Gläser ab. Seit vergangenem Frühling ist das Al Crott Baumanns Lebensinhalt.

«Früher wurde der Keller als Lagerraum für Unmengen an Eis genutzt, denn das Gebäude war eine Eisfabrik», erklärt sie einige Stunden später. Die nächtliche Dunkelheit ist längst wieder strahlendem Sonnenschein gewichen. Das Wetter sei mitunter ein Grund, weshalb sie heute wieder in Poschiavo lebt: «Hier scheint im Winter oft die Sonne. Wenn es dann noch schneit, ist es im Tal wunderschön. Dagegen ist Zürich chancenlos.» Vor dreieinhalb Jahren zog Baumann in die Limmatstadt, um Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste zu studieren. Corona habe ihr den Start im neuen Zuhause nicht einfach gemacht, erinnert sie sich. «Glücklicherweise kannte ich einige Puschlaver:innen, die bereits in Zürich wohnten.»

Umgeben von Bergen und in der Sonne fühlt sich Jana Baumann am wohlsten. (Foto: Isabel Brun)

Es scheint nicht nur ein Klischee zu sein; Zürich ist für Menschen aus dem Bündner Südtal attraktiv. Auch wegen der guten Verkehrsanbindungen. Vier Stunden dauert die Reise mit dem Postauto über den Berninapass und danach weiter mit der Rhätischen Bahn bis nach Zürich. Es sei die am schnellsten erreichbare Grossstadt in der Schweiz, bestätigt Baumann, «nur das italienische Mailand ist näher.» Trotzdem ging die ZHdK-Absolventin nicht nach Italien zum Studieren. Zu dieser Entscheidung beigetragen hat auch der Umstand, dass Baumann in der Ostschweiz Familienangehörige hat. Ihre Eltern kommen ursprünglich aus dem Toggenburg und kamen noch vor der Geburt ihrer Tochter nach Poschiavo; wegen Baumanns Vater, der bei Rezia Energia – dem heutigen Energieunternehmen Repower – Arbeit fand.

«An die Partys kommen auch Besucher:innen aus den umliegenden Dörfern, aus Italien oder eben aus Zürich.»

Jana Baumann

Auch die junge Barchefin kehrte der Deutschschweiz dem Job wegen den Rücken. Sie lebte quasi noch in Zürich, als sie den vollgestellten Keller in der Nähe des Bahnhofs in Poschiavo übernahm. Das imposante Gebäude, das über «der Grotte» thront, haben ihre Eltern erst vergangenes Jahr erworben. «Bevor hier Eis produziert wurde, war es eine Brauerei. Es passt also ganz gut, dass hier heute wieder Bier gezapft wird.» Ob sie sich auch hätte vorstellen können, in Zürich eine Bar zu eröffnen? «Ja, aber es wäre sicher anders gewesen, als in Poschiavo.» Das Dorf sei ihr Zuhause. «Hier habe ich alles, was ich brauche: Freund:innen und Familie, Inspiration für meine Kunst, die Natur.»

Sie öffnet die dicken Holztüren des Al Crott. Drinnen riecht es nach frisch verbautem Holz und feuchtem Stein. «Wir haben alles selber umgebaut», sagt Baumann stolz. Viele aus dem Dorf hätten ihre Hilfe angeboten. «Eigentlich ist die Bar ein Projekt von Poschiavo, für Poschiavo.» Deshalb kämen die Menschen gerne hierher; es ist zu einem Treffpunkt für Jung und Alt geworden. «An die Partys kommen auch Besucher:innen aus den umliegenden Dörfern, aus Italien oder eben aus Zürich» – zum Beispiel die Puschlaver:innen, die es an den Wochenenden immer wieder zurück in die alte Heimat zieht.

Einen Funken Poschiavo in Zürich: Serena Olgiati 

Serena Olgiatis Combox begrüsst einen auf italienisch, es ist neben Pus’ciavin ihre zweite Muttersprache. Trotzdem drückt der Bündner-Dialekt durch, wenn die 42-Jährige einwandfreies Schweizerdeutsch spricht. Diesen habe sie im Gymnasium in Chur gelernt, erzählt Olgiati einige Tage später in ihrem Studio Spark in Zürich, wo sie unter anderem Reiki-Behandlungen anbietet. Es riecht nach Räucherstäbchen und Kräutersalben. «Bis 15 konnte ich kein Wort Deutsch.» Dass die Puschlaverin heute ausgerechnet in der Deutschschweiz ihre Zelte aufschlug, hat nicht nur damit zu tun, dass ihre Partnerin aus Zürich stammt: «Mich hat es immer interessiert, welche Welt sich hinter den hohen Bergen versteckt. Deshalb war schon früh klar, dass ich nach der Schule das Tal verlassen werde – zumindest vorerst.» Doch Olgiati kehrt lange Zeit nicht zurück.

«Für Italiener:innen sind wir zu schweizerisch, für Deutschschweizer zu italienisch. In Chur nannten sie uns deshalb immer ‹Steibock-Tschinggen›.»

Serena Olgiati

Als sie mit knapp 20 die Schule beendet, geht sie nach Locarno, verdient ihr erstes Geld mit Gelegenheitsjobs, doch glücklich sei sie damals nicht gewesen: «Ich war völlig verloren, wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll.» Bis Freund:innen ihr von der japanischen Lebensphilosophie Reiki erzählen. Olgiati geht nach Italien, lernt dort nicht nur die Kunst, sondern auch, wie sie ihre Energie anstatt in die jugendliche Rebellion auf andere Dinge richten kann. Ein erster Wendepunkt in ihrem Leben: Denn anstatt zurück nach Poschiavo, zieht die junge Frau nach Genf, um internationale Beziehungen zu studieren. Es sei der Beginn einer langen Reise gewesen, «eine Reise zu meiner Identität», erklärt die Wahlzürcherin.

Neben Reiki-Behandlungen bietet Serena Olgiati auch Paar- und Familiencoachings an. (Foto: Isabel Brun)

Als Puschlaverin sei es nicht einfach, sich irgendwo zugehörig zu fühlen: «Für Italiener:innen sind wir zu schweizerisch, für Deutschschweizer zu italienisch. In Chur nannten sie uns deshalb immer ‹Steibock-Tschinggen›.» Sie habe deshalb lange gebraucht, um zu realisieren, «dass Heimat nichts mit der geografischen Lage oder einer Sprache zu tun hat.» Es ist aber ihrer Meinung nach mitunter ein Grund, weshalb Puschlaver:innen sich untereinander so gut verstehen: «Man teilt dieselbe Erfahrung, das verbindet.» Es mag Schicksal gewesen sein, dass Olgiati eines Tages Michele Iseppi an einer Tramhaltestelle in Zürich antrifft – 20 Jahre nachdem die beiden die Gymnasialzeit zusammen verbracht haben. Heute gestaltet Iseppi die Visitenkarten ihres Studios, das die einstige Diplomatin 2015 gemeinsam mit ihrer Partnerin in Zürich eröffnete.  

Ob sie sich vorstellen könnte, wieder nach Poschiavo zu ziehen? «Nein», sagt Olgiati, «der Ort ist viel zu weit weg von einem Flughafen.» Lautes Lachen schallt durch den Raum. Ihre Reiselust sei noch nicht gebändigt. Ausserdem gefalle es ihr in Zürich: «Die Stadt ist international genug, um meinen Horizont nicht einzuschränken und klein genug, um alles mit dem Velo erreichen zu können.» Ein guter Kompromiss, zumal sie in ihrer Zeit in London gemerkt habe, wie wichtig ihr «die Luft zum Atmen» sei. Trotz ihrer Liebe zu Zürich fühle sie sich dem Tal, wo sie geboren und aufgewachsen ist, wieder so nah wie in ihrer Kindheit das letzte Mal, so Olgiati. Seit einigen Jahren bietet sie drei- bis viermal jährlich ihre Coachings im Puschlav an. Und bringt so nicht nur einen Funken Poschiavo nach Zürich, sondern auch umgekehrt. 

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