Kolumne: Von nackten Brüsten und unschuldigen Penissen - Tsüri.ch #MirSindTsüri
account iconsearch
Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

emailwebsite

1. Juli 2023 um 07:00

«In meinen Träumen tanzen wir alle nackt auf einer Wiese»

Unsere Kolumnistin Jessica Sigerist ist gerne nackt – an Orten, wo auch andere nackt sind. Dabei würde sie es eigentlich begrüssen, öfters ohne Kleidung am Körper schwimmen, feiern oder rumlaufen zu können. Wäre da nicht die toxische Männlichkeit.

Illustration: Artemisia Astolfi

In den letzten Wochen bin ich ohne Bikini-Oberteil in der Badi gelegen, habe halbnackt mitten in einer Menschenmenge auf einer Wiese getanzt und oben ohne in einem Klub. Dinge, die ich sehr gerne und viel zu selten mache. Ich bin gerne nackt. Period. Ich bin gerne nackt in nicht-sexuellen Kontexten. (Also ich bin schon auch gerne nackt in sexuellen Kontexten, aber darum geht es jetzt hier nicht.) In meinen eigenen vier Wänden, in abgelegenen Plätzen in der Natur und ja, auch unter respektive umgeben von Menschen. (Manchmal natürlich auch unter Menschen, aber wie gesagt, darum geht es jetzt hier nicht.) Ich spüre gerne die Luft, die Sonne und das Wasser auf meiner Haut. 

Ich kann mich auch ganz gut damit abfinden, untenrum bekleidet zu sein. Das ist vielen Situationen auch wirklich ein bisschen hygienischer und dagegen ist nichts einzuwenden. Was ich aber nicht verstehe, ist, warum mein Oberkörper ständig bedeckt sein muss – vor allem wenn es anderen Menschen gestattet ist, in den gleichen Situationen oben ohne zu sein. Mir, als weiblich gelesener Mensch mit Brüsten, ist es meistens nicht erlaubt und wo es wäre, verzichte ich oft freiwillig darauf. Weil ich nicht angestarrt, angemacht oder heimlich fotografiert werden möchte. Und ja, das ist mir alles schon passiert. 

«Penisse sind nicht das Problem. Das Problem ist eine ganz bestimmte Männlichkeit.»

Jessica Sigerist

Was war also in den letzten Wochen los, dass meine Brüste nicht nur zuhause, sondern auch auswärts Freigang kriegten? Feministischer Streik, Zurich Pride und antikapitalistischer Christopher Street Day (CSD), das war los.

Diese Anlässe haben Räume geschaffen, in denen ich meinen Körper so unbekleidet zeigen kann, wie ich will – ohne dafür sexualisiert zu werden. Nun wäre es naheliegend, den Schluss zu ziehen, dass dies mit der Abwesenheit von Männern an diesen Orten zu tun hat. Aber guess what, ihr liegt falsch. In queeren Spaces gibt es sehr wohl Männer. Schwule Männer, aber auch bisexuelle Männer und heterosexuelle Männer, die zum Beispiel trans oder als Verbündete, sogenannten Allies, da sind. Männer, die auf Frauen stehen also. Tatsächlich habe ich an der Pride mehrere Männer angetroffen, mit denen ich mal etwas hatte. Sie und auch alle anderen anwesenden Männer haben es geschafft, mich nicht sexuell zu belästigen. Männer können das also. 

Von wegen «Boys will be Boys»

Männer an sich sind nicht das Problem. Sie sind keine biologiegesteuerten Wesen, die «nicht anders können». Kommt von da auch die Angst, dass trans Frauen und trans feminine Personen irgendwie bedrohlich sein könnten? Nun, lasst euch eines gesagt sein: Penisse sind nicht das Problem. Testosteron ist nicht das Problem. Das einzige Problem ist eine ganz bestimmte Männlichkeit. Eine, die hauptsächlich in heterosexuellen Kontexten zum Tragen kommt, da sie ausschliesslich in der Abgrenzung zu Weiblichkeit funktioniert. Und nicht nur in deren Abgrenzung, sondern in deren Ablehnung und Unterdrückung.

Diese Männlichkeit ist nicht angeboren. Sie steckt nicht in Penissen und auch nicht in Testosteron. Sie wird gelernt und ansozialisiert. Und sie wird normalisiert, unterstützt und aufrechterhalten. Sie funktioniert nicht individuell, sondern nur kollektiv, als Gesellschaft. Von Sprüchen wie «Boys will be Boys» bis hin zur Frage «Hast du ‹Nein› gesagt?», die viele Opfer von sexualisierter Gewalt gestellt bekommen: Übergriffiges Verhalten von Männern gegenüber Frauen wird in der Mehrheitsgesellschaft normalisiert. 

Und deshalb kann ich in der Mehrheitsgesellschaft nicht nackt herumspazieren. Weil die Mehrheitsgesellschaft einen Raum schafft, der mich dann Übergriffen aussetzt. Aber es ist möglich, andere Räume zu schaffen. Das weiss ich, weil ich mich immer wieder an solchen Orten aufhalte. An Orten, wo Menschen zusammenkommen, die eine andere Kultur schaffen wollen. Menschen, die sich mit Konsens, Sexismus und weiteren Diskriminierungsformen auseinandergesetzt haben. Die darauf sensibilisiert sind und es gemeinsam schaffen, einen sichereren Ort zu gestalten. Und ja, diese Menschen sind oftmals keine cis Männer. Aber auch cis Männer können das. Ich glaube an euch! 

Ich bin gerne nackt, an Orten wo auch andere nackt sind. Nicht unbedingt, um meinen Körper zu zeigen oder um andere Körper anschauen zu wollen – obwohl ich generell finde, dass Körper zeigen wollen und anschauen wollen in konsensuellen, nicht sexuellen Kontexten viel häufiger gemacht werden sollte –, sondern weil ich Orte, wo Leute sich wohl und sicher fühlen, um miteinander nackt zu sein, mega toll finde.

In meinen Träumen tanzen wir alle nackt auf einer Wiese. Mit Männern. Oder vielleicht auch ohne Männer, weil wir bereits so weit fortgeschritten sind, dass wir keine binären Geschlechtskategorien mehr brauchen. Aber ganz bestimmt ohne toxische Männlichkeit. 

(Foto: Elio Donauer)

Jessica Sigerist

Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit einem ihrer Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

Das könnte dich auch interessieren