«Mehr Wohnungen für alle!»: Gemeinderät:innen über die Wohnpolitik - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Christoph Schneider

Redaktor Wahlen

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13. Januar 2022 um 22:00

Aktualisiert 14.01.2022

«Mehr Wohnungen für alle!»: Gemeinderät:innen über die Wohnpolitik

Wohnungsnot, hohe Mieten und Genossenschaften beschäftigen die städtische Politik wie kaum ein anderes Thema. Im Hinblick auf die Gemeinde- und Stadtratswahlen erläutern sechs Gemeinderät:innen ihre Standpunkte und Lösungsideen über die Wohnpolitik.

Wohnsiedlung Unteraffoltern (1970), Bild: © Baugeschichtliches Archiv, André Melchior

Wohnen und Bauen beschäftigt die Stadtbevölkerung so stark, wie nur wenig andere Themen. Laut der letztjährigen Bevölkerungsbefragung halten 37 Prozent der Zürcher:innen den knappen günstigen Wohnraum für das grösste Problem.

Dies trotz eines vermeintlichen Baubooms von privaten Unternehmen wie auch von Genossenschaften und städtischen Stiftungen. Die Realität sieht jedoch anders aus. Denn im Jahr 2020 wurden in der Stadt 1774 Wohnungen fertiggestellt – die tiefste Zahl seit einem Jahrzehnt. Ellenlange Wartelisten bei den Genossenschaften, wenn man sich überhaupt noch eintragen darf, Streit um die Wartelisten bei der Stiftung Alterswohnungen. Wohnen betrifft uns alle – ob wir wollen oder nicht.

Unser Wahlredaktor Christoph Schneider hat in sechs Einzelgesprächen mit amtierenden Gemeinderät:innen über den Stand der Dinge gesprochen und sie nach ihren Lösungsideen gefragt. Die Überraschung: So weit liegen die Positionen gar nicht auseinander, über das Ziel und die aktuellen Rahmenbedingungen sind sich die befragten Politiker:innen grundsätzlich einig. Eine Übersicht in vier Übereinstimmungen und drei Differenzen.

Die Gesprächspartner:innen:

Walter Angst, AL

Ann-Catherine Nabholz, GLP

Brigitte Fürer, Grüne 

Florian Utz, SP

Përparim Avdili, FDP

Reto Brüesch, SVP

Die Bilderreihe zeigt ausgewählte Wohnsiedlungen, die von der Stadt Zürich als «Gute Bauten» ausgezeichnet wurden. Seit über 70 Jahren prämiert die Stadt in regelmässigen Abständen Objekte, die zu einer guten Baukultur in Zürich beitragen.

Werkbundsiedlung Neubühl (1932), Bild: © Baugeschichtliches Archiv

Konsens 1: Nur eine durchmischte Stadt ist eine gute Stadt

Alle Politiker:innen sehen die durchmischte Stadt, das Neben- und Miteinander von verschiedenen Lebensentwürfen und sozioökonomischen Schichten als Grundlage für eine gesunde Stadtentwicklung.

«Nicht nur aus sozialen Überlegungen müssen Menschen mit wenig Einkommen in der Stadt wohnen können. Es ist auch unsinnig, wenn jeden Tag Tausende von «Arbeiter:innen» in die Stadt pendeln müssen. Dies widerspricht dem raumplanerischen Grundsatz, der Abstimmung von Siedlung und Verkehr.»

Brigitte Fürer, Grüne

«Der Herausforderung, dass so viele Menschen in Zürich wohnen wollen, müssen wir so begegnen, dass wir in den Quartieren auf eine gute Durchmischung achten. Und dafür haben wir die Expert:innen vor Ort: Es sind die Bewohner:innen und Nutzer:innen, die am besten über ihren Lebensraum Bescheid wissen.» 

Reto Brüesch, SVP

«Für die Stadtkasse ist es zwar bequem, wenn immer mehr gute Steuerzahler:innen in Zürich wohnen, es bringt die Stadt aber in einen Interessenkonflikt. So ist Durchmischung nicht möglich.» 

Walter Angst, AL

«Wir brauchen mehr Wohnungen für alle!»

Ann-Catherine Nabholz, GLP

Wohnkolonie Wasserwerk (1947), Bild: © Baugeschichtliches Archiv, Hans Gemmerli

Konsens 2: Verdichtung langsamer angehen

Obwohl das Bevölkerungswachstum letztes Jahr stagnierte, lastet weiterhin grosser Druck auf Zürich. Zwischen fünfzig- und hunderttausend neue Bewohner:innen werden in den nächsten 20 Jahren in die Stadt ziehen, wie das statitische Amt vorrechnet. Das entspricht einem Bevölkerungswachstum von bis zu 20 Prozent. Da der Stadt die grossen Landreserven ausgehen und der Boden nicht wachsen kann, muss die Stadt nach innen verdichtet werden.

«Auch wenn ich zu viel Verdichtung in einem direkten Zusammenhang mit weniger Lebensqualität sehe, bin ich der Meinung, dass eine gesunde und quartierverträgliche Verdichtung möglich ist. Wir dürfen dabei sozialräumliche Dimensionen wie Schulen, Begegnungsorte oder Treffpunkte im Quartier nicht vergessen.» 

Reto Brüesch, SVP

«Bei der Nachverdichtung müssen wir auf Etappierungen hinarbeiten. Wenn wir das Tempo ein wenig rausnehmen, kommt das allen zugute.» 

Ann-Catherine Nabholz, GLP

Überbauung In der Zelg (1956), Bild: © Baugeschichtliches Archiv, Juliet Haller

Konsens 3: Sanieren anstelle von Ersatzneubauten

Die schnelle Verdichtung hat viel mit dem Bau von Ersatzneubauten zu tun. Wo zuvor drei kleinere Wohnungen standen, werden neu deren sieben angeboten. Für die Investor:innen ist dies doppelt lukrativ, sie können sowohl mehr als auch teurere Wohnungen bauen. 

«Das Paradigma ‹Ersatzneubauten um jeden Preis› fängt an zu bröckeln. Der Klimaschutz unterstützt diese Entwicklung, werden doch bei jedem Abriss Unmengen von grauer Energie vernichtet. Gut so, denn was gut ist, wollen wir behalten. Die Leute wollen lieber in einer ringhörigen Wohnung aus den 1960er Jahren wohnen als nach Glattfelden zu ziehen.» 

Walter Angst, AL

«Mit der höheren Ausnutzung und den Ersatzneubauten steigen die Mieten um bis zu 100 Prozent. Wir müssen mehr preisgünstigen Wohnraum zur Verfügung stellen, wie viele Menschen können sich schon eine Wohnung für 4000 Franken leisten?» 

Brigitte Fürer, Grüne

«Wir müssen von Fall zu Fall schauen, ob ein Ersatzneubau nötig oder eine Sanierung sinnvoller ist. Nicht jede 40-jährige Siedlung muss ersetzt werden, denn dies verursacht zusätzliche Kosten und graue Energie.» 

Reto Brüesch, SVP

«Dachaufstockungen können bei Sanierungen eine Lösung sein, leider ist das oft nicht vorgesehen. Wir müssen hier mehr ermöglichen.» 

Përparim Avdili, FDP

Wohnsiedlung Unteraffoltern (1970), Bild: © Baugeschichtliches Archiv, André Melchior

Konsens 4: Zu viel Kapital

Die seit Jahren weltweit tiefen Zinsen führen dazu, dass immer mehr Kapital in den Immobilienmarkt fliesst, was neben der grossen Nachfrage die Preise für Bodenbesitz anheizt.

«Der Markt kommt an seine Grenzen, es ist viel Kapital auf dem Markt vorhanden. Das kann aber paradoxerweise nicht eingesetzt werden, weil Auflagen und Bodenpolitik das oftmals nicht zulassen und so können entsprechend der Nachfrage nicht genügend Wohnungen geschaffen werden.» 

Përparim Avdili, FDP

«Wir müssen den institutionellen Grossanlegern wie Pensionskassen oder globalen Investmentfonds etwas entgegenhalten. In Zürich verschiebt sich der Grundstücksbesitz von Privatpersonen deutlich zu grossen juristischen Personen wie Swisslife oder PSP.» 

Florian Utz, SP

«Aus raumplanerischer Sicht ist der Bodenmarkt an sich eine absurde Konstruktion, weil der Boden endlich ist und so mit der steigenden Nachfrage gar nicht mithalten kann. Aber dies lässt sich momentan nicht ändern.» 

Brigitte Fürer, Grüne

Wohnüberbauung Winzerhalde (1982), Bild: © Baugeschichtliches Archiv, Thomas Hussel

Differenz 1: Rolle der Stadt

Die Frage, wie sich der Staat im Wohnungsmarkt positionieren soll, stellt sich in Zeiten der Wohnungsknappheit immer mehr. Die Vorstellungen gehen dabei weit auseinander, basierend auf der jeweiligen weltanschaulichen Herkunft: Bürgerliche Nähe zum Privatbesitz oder linke Nähe zum Kollektivbesitz.

«Zürich soll seine Möglichkeiten als Stadt voll ausschöpfen und aktiver in den Wohnungsmarkt eingreifen. Kurz gesagt: Kaufen, kaufen, kaufen! Sei es als Stadt selbst, zur Unterstützung der Wohnbau-Stiftungen oder als Bürgin für Wohnbaugenossenschaften.» 

Florian Utz, SP

«Der Rolle der Stadt als eigentlicher ‹Marktplayer› stehe ich sehr skeptisch gegenüber. Die Aufgabe des Staates ist primär, Rahmenbedingungen zu definieren und die raumplanerischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Weniger über Farben reden, dafür mehr Anteile von günstigem Wohnungsbau einfordern, dort wo es möglich ist.» 

Brigitte Fürer, Grüne

«Die Stadt hat die Aufgabe, den Bedarf nach staatlich gefördertem Wohnraum zu definieren und die Frage nach der Berechtigung zu beantworten. Gemeinsam mit anderen Akteur:innen  wie Genossenschaften und Privatunternehmen ist sie in der Verantwortung, diesen bereitzustellen. Darüber hinaus: Ermöglichen statt verhindern, und um das zu schaffen, brauchen wir weniger Auflagen.» 

Përparim Avdili, FDP

Wohnsiedlung Selnau (1995), Bild: © Baugeschichtliches Archiv, Thomas Hussel

Differenz 2: Rolle der Genossenschaften

Die Erwartungen an die Genossenschaften ist hoch und zwar von allen Seiten. Neben Integration und Mieter:innenmix spielen auch Stadtentwicklung, Denkmalschutz, Quartierbezug, Freiwilligenarbeit eine Rolle. Alle diese Aspekte auf einmal sind kaum erfüllbar. Trotzdem stehen die Genossenschaften unter Beobachtung, da sie als Private städtisches Bauland meist zu besonderen Konditionen zur Verfügung gestellt bekommen.

«Genossenschaften und preisgünstiger Wohnungsbau sind wichtig und zentral für eine gut durchmischte Stadt. Aber es müssen dann auch die «richtigen» Menschen darin wohnen: Wenn ein Paar zusammen 20'000 Franken verdient, hat es meines Erachtens ganz klar keinen Anspruch auf eine staatlich geförderte Wohnung. Wirklich nicht.» 

Përparim Avdili, FDP

«Es darf nicht sein, dass der ganze preisgünstige Wohnungsbau den Genossenschaften übertragen wird. Die Privaten stehen genauso in der Verantwortung. Wo zum Beispiel dank einer individuellen Bewilligung mehr gebaut werden kann als vorgesehen (Aufzonierung), muss ein Anteil gemeinnütziger Wohnungen vorgegeben werden.» 

Ann-Catherine Nabholz, GLP

«Die Wohnbaugenossenschaften leisten einen wichtigen Beitrag, damit das Drittelsziel erreicht werden kann – dass also bis zum Jahr 2050 jede dritte Wohnung in der Stadt Zürich zur Kostenmiete vermietet wird. Deshalb müssen wir die Genossenschaften weiter stärken. Darum sollte die Stadt keine Liegenschaften kaufen, die sonst an Genossenschaften gehen würden, sondern vielmehr solche, die ansonsten an renditeorientierte Vermieterinnen gehen würden.» 

Florian Utz, SP

Wohnüberbauung Brombeeriweg (2003) Bild: © Baugeschichtliches Archiv, Juliet Haller

Differenz 3: Verantwortung von privaten Investor:innen

Grundsätzlich darf ein:e Bauherr:in bauen, wie sie will, solange sie die geltenden Regulierungen einhält, die zu einem grossen Teil in der Bau- und Zonenordnung (BZO) festgehalten sind. Möchte die Stadt als Bewilligungs-Geberin etwas Zusätzliches, geht dies nur mit Verhandlungen und sie ist vom Wohlwollen der Auftraggeber:in abhängig. Ausnahme: Wenn die Stadt mehr bewilligt, als in der BZO vorgesehen ist, kann die Bewilligung an Bedingungen gebunden sein, wie etwa einen Anteil Wohnungen mit Kostenmiete.

«Wir müssen zu neuen Regeln kommen. Entscheidend ist die bis 2025 fällige nächste Revision der Bauordnung (BZO). Der Deal, ‹du darfst hier bauen, dafür machst du aber etwas für die Gemeinschaft›, muss zum Standard werden.». 

Walter Angst, AL

«Da die Grossinvestor:innen keine soziale Verantwortung übernehmen, sondern im Gegenteil ihre Renditen schamlos immer weiter erhöhen, müssen wir die Genossenschaften und die städtischen Wohnbau-Stiftungen massiv stärken.» 

Florian Utz, SP

«Dass Private nicht auch im grösseren Ausmass, zum Beispiel für Ältere oder für Studierende bauen, erstaunt mich eigentlich. Denn auch in diesem Segment sind Renditen möglich.» 

Ann-Catherine Nabholz, GLP 

«Mein Verständnis ist: Wenn man etwas von der Gesellschaft bekommt, soll man auch etwas zurückgeben. Dies gilt natürlich auch für die institutionellen Anleger:innen. Natürlich dürfen und sollen diese etwas verdienen, aber dann auch ihren Beitrag zu einer durchmischten Stadt leisten.» 

Përparim Avdili, FDP

Studierendenwohnhaus Rosengarten (2020), Bild: © Hochbauamt Stadt Zürich, Georg Aerni

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