«Dass der Stadtrat diese Chance nicht am Schopf packt, ist ein Affront gegenüber der Bevölkerung» 

Zwei Volksinitiativen fordern mehr Grünflächen und weniger Autos. Der Stadtrat lehnt die Volksbegehren ab und legt stattdessen einen «zahnlosen» Gegenvorschlag vor. Die Initiant:innen sind erzürnt.

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Mehr grün, mehr ÖV und Fuss- und Veloverkehr fordern die Initiativen (Bild: Rombo GmbH)

Zwei Ziele verfolgt der Verein «umverkehR» mit den Stadtklima-Initiativen: Erstens sollen ÖV, Fuss- und Veloverkehr in der Stadt mehr Platz bekommen und zweitens sollen Strassen in Grünflächen mit Bäumen umgewandelt werden. 

Mit dem Netto-Null-Ziel, der Velorouten-Initiative, den neuen Richtplänen und der Dachstrategie «Stadtraum und Mobilität 2040» ist die Stadt Zürich auf einem ähnlichen Weg. Nun hat der Stadtrat für beide umverkehR-Initiativen einen Gegenvorschlag vorgelegt. Gemäss der Medienmitteilung vom Mittwoch, wird die Stossrichtung zwar unterstützt, dennoch will die Stadtregierung bei beiden Anliegen deutlich weniger weit gehen. Die Initiant:innen sind wütend.

Simon Jacoby: Sie sitzen in beiden Initiativkomitees, sind Geschäftsführer des Vereins «umverkehR» und sind wütend auf den Stadtrat. Warum?

Silas Hobi: Für mich ist es nicht nachvollziehbar, warum der Stadtrat solche zahnlosen Gegenvorschläge verabschiedet. Ich habe den Eindruck, dass er noch nicht verstanden hat, wo die Reise hingehen soll – und dass es schnell gehen muss. Im Verkehrsrichtplan, der vor einem Jahr mit 57 Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde, ist behördenverbindlich festgeschrieben, dass im Verkehr das Ziel Netto-Null bis 2030 gilt. Das ist gefühlt übermorgen und um dieses Ziel zu erreichen, müssen alle aktuell geplanten Strassenbauprojekte völlig neu gedacht werden. Wir müssen endlich auf der Strasse sichtbar etwas verändern. Die Stadt muss vom Autoverkehr befreit werden. Dafür muss die Stadt auch gegenüber dem Kanton mehr Zähne zeigen.

Sie kritisieren, der Stadtrat habe keine Strategie. Warum denken Sie, Ihre Ideen sind besser als jene des Stadtrates?

Der Entscheid des Stadtrats zeigt, dass es keinen Plan gibt, wie Netto-Null im Verkehr bis 2030 erreicht werden kann. Das ist erschreckend. Es bleiben ja nur noch sieben Jahre zur Zielerreichung. Das Ziel wurde durch einen Volksentscheid behördenverbindlich festgelegt und der Stadtrat macht einfach weiter, als ob nichts wäre – das ist skandalös. Wir haben mit den Stadtklima-Initiativen einen Steilpass gegeben, um einen Paradigmenwechsel zu forcieren. Dass der Stadtrat diese Chance nicht am Schopf packt, sondern einfach weiter fährt wie bisher, finde ich einen Affront gegenüber der Bevölkerung. 

Was könnte der Stadtrat anders machen?

Offensichtlich fehlt es an Visionen und überzeugenden Führungspersonen. Überall, wo verkehrspolitische Errungenschaften erzielt wurden, war es Chefsache. Ob Anne Hidalgo in Paris, Klaus Bondam in Kopenhagen, Miguel Lores in Pontevedra, Ada Colau in Barcelona, Ursula Wyss in Bern und so weiter – da haben charismatische Führungspersonen die Verantwortung auf sich genommen, den Konflikt mit der Autolobby und dem Gewerbe ausgetragen und die Verwaltung auf Kurs gebracht. Mit Erfolg. Das fehlt in Zürich.

Ich habe den Eindruck, dass die Verwaltung manchmal schon gerne möchte, aber ab ihrem eigenen Mut erschreckt und die Projekte noch in den Mühlen von den VBZ, dem Kanton, der Kantonspolizei und der Dienstabteilung Verkehr (DAV) abgeschliffen werden. Mit einem klaren Bekenntnis des Stadtrats wäre hier sicher mehr möglich. Hand aufs Herz: Wann hat sich Corine Mauch als langjährige Stadtpräsidentin sichtbar für die Verkehrswende eingesetzt?

Trotzdem: Unterdessen hat Zürich das Netto-Null-Ziel bis 2040, gemäss dem Richtplan muss der Verkehr sogar bis 2030 klimaneutral sein. Ausserdem sind verschiedene Velorouten und Grünflächen geplant. Braucht es die Stadtklima-Initiativen überhaupt noch?

Diese Frage haben wir natürlich intensiv diskutiert. Wir sind der Meinung, dass im Richtplan Massnahmen fehlen, um das Netto-Null Ziel bis 2030 zu erreichen. Ausserdem garantiert der Richtplan keine einzige zeitnahe Umsetzung. Die Velorouten-Initiative fokussiert nur auf diese eine Massnahme zur Förderung des Veloverkehrs. Man muss mit dem Velo aber nicht weit fahren und merkt, dass es noch an vielen anderen Stellen hapert. Ausserdem gibt es in diesem Bereich ein massives Sicherheitsdefizit und es sterben immer noch Velofahrer:innen, weil die Infrastruktur unzulänglich ist.

Mit den Stadtklima-Initiativen haben wir handfeste quantitative Ziele mit einem Zeithorizont vorgesehen. Konkret müssen innerhalb von zehn Jahren zehn Prozent der Strassenfläche umgewandelt werden. Je zur Hälfte für den ÖV, Fuss- und Veloverkehr, beziehungsweise Grünflächen mit Bäumen. Sie sind sozusagen die Umsetzungs-Initiativen für die bisher verabschiedeten strategischen Ziele. Darum ist es für uns so unverständlich, dass der Stadtrat nun solche Gegenvorschläge verabschiedet. Er müsste doch sagen: «Super, das müssen wir eh umsetzen und entspricht all unseren Zielen.»

«Nun hinkt Zürich sogar St. Gallen hinterher.»

Silas Hobi, Geschäftsführer «umverkehR»

Ihr seid mit dem Gegenvorschlag nicht zufrieden. Das heisst, ihr zieht die Initiativen nicht zurück und das Volk wird entscheiden müssen. Falls ihr an der Urne gewinnt, müssten die Ideen umgesetzt werden. Das wird doch zeitlich auch nicht reichen, um im Verkehr bis 2030 auf Netto-Null zu kommen. Oder?

Erstmal steht jetzt die Beratung im Gemeinderat an. Wir sind zuversichtlich, dass die Gegenvorschläge dort substantiell verbessert werden können. Der Gemeinderat hat den Stadtrat in den letzten Jahren in der Verkehrspolitik vor sich her getrieben. Das dürfte auch diesmal so sein. Über einen allfälligen Rückzug einer oder beider Initiativen können wir deshalb erst nach einem Entscheid des Gemeinderates sprechen. Eine Volksabstimmung könnte bereits im nächsten Herbst oder im Frühling 2024 erfolgen. Ich kann nicht garantieren, dass es noch reicht bis 2030. Aber ich kann garantieren, dass es ohne die Initiativen nicht reicht. 

Ihr habt die Stadtklima-Initiativen in verschiedenen Städten eingereicht, wie sieht es da aus mit der Umsetzung?

Die Städte sprechen sich untereinander ab und die Reaktionen sind bisher überall ähnlich, obwohl es natürlich grosse Unterschiede zwischen den Städten gibt. St. Gallen und Winterthur sind finanziell nicht so gut aufgestellt wie Zürich und Basel. Für diese Städte ist es nicht so einfach, mehr Personal einzustellen oder mehr Projekte in Auftrag zu geben. Ausserdem haben nicht alle Städte so klare politische Vorgaben wie Zürich – höchstens noch Basel. Darum ist es ja besonders stossend, dass die Gegenvorschläge des Stadtrats in absoluten Zahlen dem bereits rechtskräftigen Gegenvorschlag in St. Gallen entsprechen. Obwohl die Stadt Zürich eine dreimal grössere Verkehrsfläche hat. Wir haben gehofft, dass Zürich ein positives Signal setzt und eine Vorreiterrolle übernimmt. Nun hinkt Zürich sogar St.Gallen hinterher.

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