F*** Gentrifizierung! Wir lassen uns die Subkultur nicht nehmen

In den Zürcher Kreisen 4 und 5 herrsche Langeweile, beklagt die «NZZ am Sonntag». Subversivität und Diversität suche man hier vergebens. Dem ist nicht so. Ich kenne mehrere solche Orte. Sie liegen nur wenige Meter entfernt von den Wahrzeichen der Gentrifizierung.

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Alle Fotos von Laura Kaufmann

In der neuen Artikel-Reihe «Meinungs-Mittwoch» leistet sich jeden Mittwoch ein Redaktionsmitglied von Tsüri.ch eine Meinung. Sei es als Kolumne, Glosse oder eventuell als Video mit Tanzeinlage. Das ist dem*r Autor*in selbst überlassen: Hauptsache Meinung!

Glaubt man der NZZ am Sonntag und dem Tages Anzeiger, steht es schlecht um die Kreise 3, 4 und 5. Die Wahrzeichen der Gentrifizierung hätten die «Trendquartiere» langweilig gemacht, heisst es dort. Um dem Hipster-Tum zu entfliehen, müsse man den Weg bis nach Wollishofen auf sich nehmen.

Als Anwohnerin des «Chreis Cheib» bin ich nicht ganz so pessimistisch. Engagierte Zürcher*innen halten die Subkultur und die Normalität am Leben und selbst an einem Sonntag kann in diesen «alternativen Räumen» alles und nichts passieren. Es gibt sie noch, diese Orte der Einfachheit, Diversität und «Hässlichkeit». Doch sie sind so subkulturell, dass sie weder in der NZZ- noch in der Tagi-Redaktion angekommen sind. Und das ist gut so.

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Der Primetower – Ein «Wahrzeichen der Gentrifizierung»

Die Wahrzeichen der Gentrifizierung

Viadukt, Prime Tower, Gelateria di Berna, Kosmos: In dieser Reihenfolge haben die «Wahrzeichen der Gentrifizierung» in den vergangenen 8 Jahren die Kreise 3, 4 und 5 unterwandert. Nach und nach stiegen die Mietpreise, die Langstrasse verkam wegen steigender Ladenmieten zur «Fress- und Ausgehmeile». Die Gentrifizierung ist Tatsache. Doch bedeutet das deshalb, dass die Subkultur am Ende ist und in diesen Kreisen kein vielfältiges Stadtleben mehr stattfindet?

Die Gegend um das Viadukt ist das perfekte Beispiel, um das friedliche Nebeneinander von gentrifizierter Urbanität, Subkultur und «städtischer Normalität» aufzuzeigen. Am einen Ende des Viadukts liegt der Letten, am anderen Ende die Bahngeleise und das Hive. Dass das Viadukt nicht abgerissen, sondern in Form der Viaduktbögen aufgewertet wurde, ist meiner Meinung nach keine schlechte Lösung.

Selbstverständlich hätte auch ich mir eine Nutzung durch mehr soziale und alternative Projekte wie z.B. das Restaurant Viadukt oder den St.Jakob Beck gewünscht, doch machen wir uns nichts vor: So etwas war in Zürich auch in der Vergangenheit noch nie in grösserem Masse möglich. Immerhin schafft das Viadukt Arbeitsplätze. Ich kenne mehrere Leute, die dort eine Arbeitsstelle im Detailhandel oder der Gastronomie gefunden haben und sich damit ihren Lebensunterhalt oder ihr Studium finanzieren. Doch damit genug des Lobes für den Teil des Viadukts, der es eigentlich am wenigsten verdient hat.

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Die Viaduktbögen

Die grösste Grünfläche des Kreis 5

Wer die hippen Läden durch den Hinterausgang verlässt, landet unverhofft auf meiner Lieblingswiese, der Josefswiese. Dort ist die Welt noch in Ordnung. Der «Kiosk», der eigentlich mehr ein Self-Service Bistro ist, ist frei von Werbung, Konsumzwang und Reservationen. Er existiert seit 22 Jahren und bezahlt werden kann nur mit Bargeld. Am Rande der Wiese befindet sich das Clubhaus des «Pétanque Clubs Zürich», auf dessen Webseite eine Liebeserklärung an die Josefswiese zu finden ist, die keiner Ergänzung bedarf: «Die Pingpong-Freunde haben sich neben dem Beachvolleyball eingerichtet. Die Pétanquekugeln klacken bereits in der Mittagssonne, während die Bürolisten aus dem Prime Tower ihr Styropor-Menu geniessen. Die Sling-Liner sieht man spätnachmittags ihr Gleichgewicht suchend. Vor dem Kindertreffpunkt wird mit Leidenschaft getrommelt. Der Nerd sitzt im Schatten des Kioskschirms und surft glücklich und zufrieden auf in der virtuellen Welt. Die Szenies legen sich - jeder mit seinem Drahtesel - zum Einweggrill mit Bier dekorativ ins Spielfeld der kleinen Shaqiris und Ronaldos. Heute wie damals lebt die Wiese von der Durchmischung und dem Nebeneinander der verschiedenen Nationen und Generationen.» Als ich noch in der Agglo wohnte, erfuhr ich durch meine beste Schulfreundin von dieser Grünfläche, die ihr und ihrer Familie als Garten diente, da sie in einem Block ohne Garten lebten. Die Josefswiese hat sich in den letzten 15 Jahren kaum verändert. Das liegt sicher auch am Pétanque-, Kiosk- und Quartierverein, die sich seit Jahrzehnten für ihre Wiese einsetzen.

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Die Josefswiese

Die Alternative zur Seepromenade

Auf dem Fussweg die Limmatstrasse überquert, vorbei an Graffiti und knutschenden Teenie-Pärchen, wird die Sicht auf das Flussbad «Unterer Letten» frei. Es ist der Anfang dessen, was ich die «Alternative Seepromenade» nenne, die sich vom «Damm für dich» bis zum Platzspitz zieht. Das einzige, was sie vom Kreis 5 trennt, ist die Sihl und so gehört sie für mich irgendwie doch zum Kreis 5 dazu.

Als ich Anfang Mai zu Fuss hier vorbeispazierte, hatte sich gerade ein junges Pärchen illegal Zutritt zum Flussbad verschafft und gönnte sich den ersten Sprung ins kalte Nass. Inzwischen ist das Bad offiziell geöffnet und schon bald springen wagemutige Teenies wieder von der Brücke, während die anderen in Scharen auf der Mauer bis zur Stauwehr balancieren, um sich wieder nach unten treiben zu lassen. Wer sich nicht so dumm anstellt wie ich (und danach den ganzen Sommer über blaue Flecken an den Beinen hat), verweilt am Ende noch etwas am Rechen. Diejenigen, die jeden Sommer über den «Oberen Letten» als Fleischmarkt schimpfen, gehen doch in Zukunft bitte hier hin und ersparen uns ihr «mimimi».

Zwischen Hip Hop und Hula Hoop

Nur wenige Schritte weiter Richtung «Oberer Letten» befindet sich versteckt hinter einer Hecke der «Park Platz», der früher tatsächlich ein Parkplatz war und in den 90er-Jahren Teil der offenen Drogenszene. Seit 2015 setzt sich ein kleiner Verein aus jungen Leuten dafür ein, aus dem Brachland einen Begegnungsraum zu schaffen, der allen Menschen «die Möglichkeit bietet, abseits der kommerziellen Raumnutzung in Zürich etwas zu kreieren». Wer eine Idee hat und sie auf dem «Park Platz» umsetzen möchte, geht ganz einfach während der offenen Sitzungen vorbei.

Von Anfang an fanden auf dem doch recht grossen Areal Anlässe aller Art statt. Seien es Konzerte, Geburtstage, aber auch Kindernachmittage, Hula-Hoop Kurse, Vernissagen, Velo-Flick- und Siebdruck-Kurse bis hin zu einem Hip-Hop-Festival. Nach einem erfolgreichen Crowdfunding im vergangenen Frühling legten die Vereinsmitglieder Hand an und stampften quasi über Nacht einen Pavillon aus dem Boden, der heute als Café, Restaurant, Konzert- oder Ausstellungsraum dient. Auch auf diesem Areal besteht keine Konsumationspflicht und spontan hereingestolperte Spaziergänger*innen nippen an Aperol Spritz, während Kinder Fangis spielen und ich mir verkatert die letzten Überbleibsel des «Mitbring-Brunchs» auf den Teller staple.

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Die Band «Scharlachmaria» spielt auf dem «Park Platz»

Die Subkultur lebt

Nur wenige Meter weiter befinden sich zwei der kleinsten Zürcher Clubs, die nur sporadisch bespielt werden und nicht auf Google Maps zu finden sind. Das hat seine Gründe und deshalb nenne ich hier keine Namen. Sie kommen ohne das sonst übliche Security Personal aus und ich hörte noch nie von Zwischenfällen. Meist werden die Events von Kollektiven oder anderen Gruppen veranstaltet und die DJs wagen es, experimentelle Sounds aufzulegen. Hier bezahlte ich für den Eintritt bisher meist gar nichts oder einen Fünfliber und erlebte zwei der besten Partys des vergangenen Jahres. Einmal waren wir zu dritt die einzig Verbliebenen neben dem DJ und tanzten bis um 6 Uhr morgens, als gäbe es kein morgen, sodass uns der DJs ungläubig fragte: «Und ihr habt wirklich nichts konsumiert?» Das andere Mal war um dieselbe Uhrzeit fast kein Durchkommen bis zur Bar und etwa 100 Menschen raveten dem Sonnenaufgang entgegen.

Wer die kommerzielle Variante bevorzugt, geht ins Helsinki, ins Hive oder ins Supi beim Bahnhof Hardbrücke. Doch auch diese Clubs sind an einem Sonntagnachmittag im Mai nur mässig kommerziell unterwegs und langweilig ist es auch dort nie. Das Helsinki wartet mit einem «Laurent und Max» Konzert auf und in den anderen beiden Clubs wird die Afterhour zelebriert und «noch da» mischt sich mit «wieder da». Wer 25 Franken Eintritt bezahlt, möchte auch 24h feiern und das Zeitgefühl geht unter bestimmten Bedingungen so oder so verloren oder ist am Wochenende auch schlicht und einfach egal.

Eine Freundin erzählte mir kürzlich, dass ein Berliner auf Durchreise meinte: «Zürich ist ja echt toll, aber etwas mehr Dreck, Hässlichkeit und Unordnung würde euch schon gut tun.» Ja, da hat er recht. Ich glaube aber, dass wir nicht weit kommen, wenn wir versuchen gegen Windmühlen zu kämpfen. Räume, die die Stadt schafft, müssen in ihren Augen sauber und ordentlich sein. Daran wird sich auch unter links-grün nichts ändern. Und für eine zweite Jugendunruhe geht es der Mehrheit schlicht und einfach zu gut.

Wir müssen uns den Dreck, die Unordnung, die Freiheit, diese alternativen Räume also weiterhin selber schaffen und die bestehenden vehement verteidigen. Die genannten Orte sind nur einige unter vielen und ich bin allen Zürcher*innen, die ihre Freizeit dafür einsetzen, unglaublich dankbar dafür. Ihr macht mein Zürich zu dem, was es ist.

Was ist deine Meinung zu diesem Thema? Schreibe es uns doch in die Kommentare!

Titelbild: Timothy Endut

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