Kolumne von Özge Eren: Die Kraft des Tanzens - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Özge Eren

Kolumnistin

5. August 2023 um 10:00

«Tanzen verbindet den Körper mit der Seele, aber auch uns untereinander»

Özge Eren liebt es zu tanzen. Es stimmt sie glücklich und befreit sie von ihren Ängsten. Dass nicht alle Menschen auf dieser Welt das Privileg haben, ausgelassen tanzen zu können, stimmt unsere Kolumnistin traurig. Dabei sei das Tanzen wertvoll für unsere Gesellschaft.

Illustration: Zana Selimi

Mein Körper ist müde. Die Oberschenkelmuskeln spüre ich am stärksten. Das Tippen auf meinem Laptop fällt mir schwerer als sonst. Es ist diese Art Erschöpfung, die mich endlich ruhen lässt auf dem Sofa. Meine Entspannung greift tief, tief bis in meine Seele. 

Heute war ich wieder tanzen. Unser Training dauert eine Stunde und findet einmal in der Woche statt. Der Ablauf ist meistens gleich. Zuerst wärmen wir uns auf: in Turnschuhen, Socken oder auch barfuss. Bei mir ist das abhängig davon, wie viel Platz es in meiner Tasche noch hat. 

Nachdem die ersten Schweisstropfen geflossen sind, gibt es eine kleine Pause. Sie ist notwendig, damit wir unsere High Heels anziehen können. Normalerweise würden wir uns nun einzelnen Elementen widmen, da wir aber an einem grossen Projekt arbeiten, verzichtet Trainerin Vesna auf die Übungen. Dies gibt uns mehr Zeit, um Choreografie zu lernen. Gewöhnlich wählt sie alle paar Wochen ein neues Lied aus, zu dem sie perfekt aufeinander abgestimmte Bewegungen einstudiert, um diese anschliessend uns beizubringen.

Vesna eine talentierte Tänzerin zu nennen, wäre ein Understatement. Für mich ist sie eine Inspirationsquelle, eine Visionärin. Ungefähr einmal im Jahr konzipiert sie ein Tanzvideo für uns. Alles, von unserer Aufstellung, Outfits, Styling bis zum Standort, der als unsere Kulisse dienen wird, entspringt ihrer Kreativität. Während sie das Filmen meistens einer anderen Person überlässt, überarbeitet sie das gefilmte Material selbst zum finalen Schnitt. Es beeindruckt mich, wie ihre Leidenschaft in jedem Detail zu erkennen ist – trotz des unglaublich grossen Aufwands. Ihre unermüdliche Antriebskraft, die ich seit über 15 Jahren miterlebe, ist ihren bisherigen Projekten und Auftritten zu entnehmen.

Von der Angst in die Euphorie

Genau das hat mir seit einer Weile gefehlt. Ich hatte keine Energie fürs Tanzen. Dabei weiss ich, dass wenn ich mich überwinden könnte zum Training zu gehen, ich mich danach besser fühlen würde. Ich war nicht dazu in der Lage. Bis eine Nachricht mich aus meiner Komfortzone lockte: Vesna plant ein neues Video. Mein Herz fing heftig an zu klopfen, als würde es schreien: «Es ist Zeit für meine Rückkehr!»

Es fällt mir schwer zuzugeben, dass ich an diesem Abend Angst hatte. Angst, dass ich zu viel verlernt haben oder die zusätzlichen Kilos auf meinen Hüften im Weg sein könnten. Ich habe mich vor den Blicken der anderen und den neuen Gesichtern gefürchtet, die seit meiner Abwesenheit Teil der Gruppe geworden sind. Das ist die Sache mit der Angst; sie ist nicht immer rational.

«Ist man von Mauern umgeben, fühlt man sich eingesperrt. Tanzen symbolisiert das Gegenteil.»

Özge Eren

Um das richtige Mindset für die erste Stunde nach meiner Auszeit zu erreichen, entscheide ich mich, zu Fuss zum Hardplatz zu gehen, wo sich die Tanzschule «BailaRico» befindet. Es ist ein heisser Tag, sodass ich bereits verschwitzt bin, als ich ankomme. Victor, der Gründer, begrüsst mich mit einem grossen Lächeln. Er sitzt hinter der Theke, bald beginnt seine nächste Stunde. Wir wechseln ein paar Worte. Es ist typisch für ihn, sich Zeit für den persönlichen Kontakt zu nehmen. Während wir plaudern, kommt Vesna um die Ecke und gibt mir eine herzliche Umarmung, bevor sie sagt: «Also, fangen wir an.» Laute Musik folgt.

Ich bin glücklich darüber, dass mein Körper sich an vieles erinnert. Die Stimmung ist heiter und offen, ich fühle mich wohl. Die positive Energie von Vesna nimmt den ganzen Raum ein, sodass wir mit voller Kraft bis zum Schluss alles geben. Dann ist die Stunde schon um. Meine Knie sind wacklig, die Sportkleidung durchnässt, aber alles, was ich fühle, ist pure Euphorie. 

Das war im vergangenen Juni. Mittlerweile sind wir bei den letzten Vorbereitungen. Bald stehen wir vor der Kamera. Ich freue mich auf diesen Tag. Es ist schön, gemeinsam mit Gleichgesinnten auf ein Ziel hinzuarbeiten. Das Warten auf das Endresultat; die kribbelnde Neugier, die von der Akzeptanz begleitet wird, dass es eigentlich schon vorbei ist. So habe ich es zumindest in Erinnerung. 

Tanzen als Privileg

In meinem Kolumnen-Debüt habe ich über die Mauern unserer Welt geschrieben. Auch heute kann ich sie nicht ignorieren. Lange Zeit habe ich mir Gedanken darüber gemacht, ob ich die finanziellen Barrieren hervorheben soll, die es auch im Tanz gibt. Davon, wer es sich überhaupt leisten kann, Lektionen zu besuchen. Berücksichtigen wir Infrastruktur, nötige Zeit und Ressourcen, häufen sich die Hürden. Dieser frustrierenden Realität hält ein beständiger Faktor entgegen: Zum Tanzen brauchst du prinzipiell nur dich selbst.

Ist man von Mauern umgeben, fühlt man sich eingesperrt, allein, isoliert. Tanzen symbolisiert das Gegenteil. Tanzen verbindet den Körper mit der Seele, aber auch uns untereinander. Wir tanzen, wenn wir feiern. Wieso? In den Momenten, in denen wir zusammen singen, unseren Körper von der Freude leiten lassen, genauso innig wie vom Beat der Musik, vielleicht im Club mit hunderten anderen Personen, vielleicht an einer Hochzeit mit Familie und Freund:innen, in diesen Momenten, fühlen wir eine tiefe Verbundenheit zueinander – und vielleicht sogar mit ganzen Welt. Ich fühle in jenen Momenten Freiheit. Das ist die Stärke des Tanzens. Es befreit.

Doch dadurch wird es zu einer Bedrohung für systematische Unterdrückung. Und wo Unterdrückung herrscht, kann es keine vollständige Freiheit geben. Es ist schon eine Weile her, deshalb will ich an die fünf jungen Frauen im Iran erinnern, die wegen einem Tik-Tok-Video, in dem sie tanzten, verhaftet wurden. Und erst kürzlich in den USA tanzte O’Shae Sibley, ein junger, Schwarzer, schwuler Mann draussen zu Beyoncé an einem Samstagabend. Er wurde von einer Gruppe Männern aufgefordert aufzuhören. Als sich Sibley wehrte, griff einer der Männer zum Messer und tötete ihn. 

Die traurige Wahrheit ist also: Tanzen ist ein Privileg. Etwas, was nicht für alle zugänglich ist. Mein Neustart hat mein Verständnis, wie wertvoll das Tanzen für unsere Gesellschaft ist, noch mehr gestärkt. Solange wir uns jedoch unseren Ängsten stellen, uns gegenseitig motivieren und inspirieren, aber vor allem unseren Herzen folgen, werden Hass und Unterdrückung schwinden und die Welt wird zu unserer Tanzfläche.  

(Foto: Elio Donauer)

Özge Eren

Die Geschichte von Özge Eren beginnt bereits mit ihrem Grossvater, der wie viele damals im Rahmen der Abkommen zwischen der Türkei und Schweiz als Gastarbeiter in die Schweiz kam und Jahre später seine Familie zu sich holte.

Die Rechte der Arbeiter:innen, Klassismus, Kapitalismus, Sozialismus – dies waren Themen, die Özge im jungen Alter kennenlernte. Ihre Eltern erklärten ihr bereits im Kindergarten, dass sie studieren muss, wenn sie lieber länger schlafen möchte, anstatt früh morgens in der Fabrik zu stehen. Nach vielen Nebenjobs, Stipendien, unzähligen rassistischen und sexistischen Vorfällen, hat sie ihr Studium in Wirtschaftswissenschaften an der Universität Zürich erfolgreich abgeschlossen. Danach stieg sie in nur sechs Jahren in der männerdominierten Telekommunikationsbranche von einem Praktikum zu einer Head-Position auf.

Özge nutzt ihren heutigen sozio-ökonomischen Status, um diverse Vereine, Kollektive, Projekte und Menschen zu unterstützen. In ihrem Umfeld ist sie bekannt für politische Diskussionen, obwohl sie viel lieber über Fussball, Nagellackfarben und Single Malts sprechen würde. Mit ihren Texten hofft sie, zum Denken anzuregen und zu vermitteln: Wir sind nicht alleine.

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