Kolumne von Arbnora Aliu: Wie Integration in unserem Schulsystem verhindert wird - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Arbnora Aliu

Kolumnistin

24. Juni 2023 um 09:00

«Was Separation bei Schüler:innen auslöst, merken wir erst 20 Jahre später»

Unsere Schulzeit prägt unser späteres Leben gleich auf mehreren Ebenen. Umso wichtiger sei es, dass alle gerechte Chancen haben, findet Arbnora Aliu. Ihre erste Kolumne widmet sie deshalb dem Thema Integration – und warum diese unter den jetzigen Umständen im Schweizer Bildungssystem nicht gelingen kann.

Illustration: Zana Selimi

Letzte Woche hat mich eine ehemalige Klassenkameradin über Social Media gefunden und mich kontaktiert. Wir haben uns seit 20 Jahren nicht mehr gesehen. Der Austausch war sehr schön und ich hatte daraufhin das Bedürfnis, meine alten Klassenfotos rauszusuchen. Den ganzen Abend und darauffolgenden Tag war ich mit meinem Kopf wieder in meiner Primarschulzeit, habe mich an viele Details erinnert und vor allem daran, dass es einfach wunderschön war. Vermutlich war das sogar meine schönste Schulzeit. Das hat sicher auch damit zu tun, dass mir der Schulstoff nie zu viel oder zu schwer war, aber hauptsächlich liegt es an den Freundschaften und den Lehrpersonen, die mich damals begleitet haben.

Wir erinnern uns eben immer an das Zwischenmenschliche. Das Nebensächliche: Die Pausen, die Ausflüge, die Spiele, die Freundschaften und die Lehrpersonen. Bei letzteren ist es so, dass wir uns entweder an diejenigen erinnern, die wir sehr mochten und die wir fast schon vergöttert haben. Diejenigen, die uns geholfen haben und das gewisse Extra für uns gemacht haben. Oder wir erinnern uns an diejenigen, die uns das Leben zur Hölle gemacht haben. An den Schulstoff selbst erinnern wir uns vermutlich nicht mehr so sehr, ausser vielleicht an das eine Lieblingsfach. 

Bildung in der Politik

Alles in allem kann man aber sagen, dass die Schule uns und unsere Erinnerungen prägt. Wir verbringen ja auch sehr viel Zeit dort. Daher macht es mich manchmal wütend, wie in der Politik über Bildung gesprochen wird. Wir sparen, wo es nur geht, hören den Lehrpersonen nicht richtig zu, wenn sie sagen, dass sie Ressourcen in jeglicher Form brauchen – und wir nehmen den Fachkräftemangel immer noch nicht genügend ernst. 

In der Politik äussern sich oft Personen, die sehr wenig Ahnung von Schule und Bildung haben, und gleichzeitig erhalten betroffene Lehrpersonen, Familien, Kinder sowie die Wissenschaft zu wenig Gehör. Als Dozierende bekomme ich die Probleme hautnah mit. Es ist ermüdend immer wieder über die gleichen Dinge zu diskutieren und zu merken, dass wir nur sehr kleine und nur langsam Fortschritte machen.

Ja, wir haben uns entwickelt: Mittlerweile dürfen sich Mädchen und Jungen das Klassenzimmer teilen und körperliche Bestrafung ist verboten. Wir versuchen auch wegzukommen vom Frontalunterricht und forcieren stattdessen einen offeneren Unterricht, der Kinder in ihren Stärken abholen soll und nicht den Fokus auf sogenannte Schwächen setzt. Gleichzeitig wollen wir weg von der Separation hin zur Integration oder Inklusion. 

«Eltern müssen immer noch dafür kämpfen, dass ihr Kind in der Regelschule bleiben darf.»

Arbnora Aliu

Die Schweiz hat die UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2014 ratifiziert und sich somit auf dem Papier verpflichtet, allen Kindern einen Unterricht in Regelschulen zu bieten. Ich sage bewusst auf dem Papier, weil die Realität eben anders aussieht. Zwar haben wir mittlerweile Heilpädagog:innen, die Regelschulklassen unterstützten, doch leider reichen auch hier die Ressourcen nicht aus. Eine Klasse erhält eine Heilpädagogin respektive einen Heilpädagogen, wenn ein Kind mit einer Diagnose im Klassenzimmer sitzt. Und auch dann ist es eine ganz komplizierte Sache mit der Anzahl Stunden. Mit der Konsequenz, dass Heilpädagog:innen meist von Klasse zu Klasse springen.

Immerhin haben wir schon mal verstanden, dass Kinder nicht aus ihrem sozialen Umfeld in der Schule gerissen werden müssen, sondern mit Unterstützung in einer Regelschulklasse bleiben sollten. Dass sie in einer Klasse sind, in der sie willkommen sind, unabhängig von jeglichen sogenannten «Merkmalen». Dass sie mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft in die gleiche Klasse gehen und nicht mit einem Transport 40 Minuten in eine Sonderschule gefahren werden müssen. Oder zumindest denke ich immer wieder, wir hätten es verstanden. 

Integriert, aber separiert

Dass es eben nicht so ist, zeigt ein aktuelles Beispiel: In Basel-Stadt hat die Frewillige Schulsynode eine Initiative eingereicht, die für einen Ausbau der separativen Angebote in der eigentlich integrativ geführten Schule ist. Eine Separation in der Integration also. Ein logischer Widerspruch eigentlich, denn wenn man eine integrative Schule hat, müsste man nicht separieren. Leider ist diese Kolumne zu kurz, um auf Details einzugehen, aber grundsätzlich geht es darum, dass in den neu geschaffenen Förderklassen Schüler:innen eingeteilt werden sollen, die kleinere Lerngruppen benötigen oder die wegen ihres auffälligen Verhaltens nicht in eine Regelklasse integriert werden können.

Und in Zürich? Hier werden laut Schul- und Sportdepartement Schüler:innen möglichst integrativ, das heisst innerhalb der Regelklasse gefördert. Aber auch wir haben noch heilpädagogische Schulen. Also können wir daraus schliessen, dass vieles eben noch nicht möglich ist. Eltern müssen immer noch dafür kämpfen, dass ihr Kind in der Regelschule bleiben darf und Lehrpersonen müssen sich auch immer noch aktiv um Unterstützungsangebote bemühen. Erst dann haben alle Kinder eine Chance auf integrative Förderung. Es bleibt also kompliziert.

Jetzt schaue ich mein altes Klassenfoto an. Rückblickend könnte man sagen, dass mindestens sechs in dieser Klasse sogenannt verhaltensauffällig waren. Sie hätten in ein gesondertes Setting kommen können. Was dann passiert wäre, können wir nicht sagen. Sie wären aber sicherlich nicht auf unserem Klassenfoto zu sehen und würden sich nicht an unser gemeinsames Klassenlager erinnern. Oder daran, wie unser Lehrer auf dem Tisch stand, wenn es zu laut wurde und wir genau wussten: «Jetzt wird es ernst, jetzt müssen wir ruhig sein.» 

Separation scheint manchmal die richtige Lösung. Auch, weil man oft denkt, sie sei nur vorübergehend. Ob sie aber wirklich das Schulsystem entlastet, ist zu bezweifeln.

Viel wichtiger ist aber, dass wir uns darüber im Klaren werden, was die Separation bei betroffenen Schüler:innen auslöst. Was es für sie auf emotionaler Ebene, für ihre Lernprozesse, für ihre Familien und für ihre spätere Laufbahn bedeutet, merken wir erst 20 Jahre später, wenn wir unsere Klassenfotos anschauen. Denn da würden wir sie gar nicht finden. 

(Foto: Elio Donauer)

Arbnora Aliu

Arbnora Alius Eltern liessen sich Ende der 80er-Jahren im Quartier Grünau nieder. Die eine Hälfte ihres Herzens schlägt deshalb für die Stadt Zürich. Hier hat sie Erziehungswissenschaften studiert und bemerkte schnell, dass sie die Themen Inklusion, Migration, Feminismus und Chancengerechtigkeit interessieren. Mittlerweile doktoriert sie an der Universität Zürich und unterrichtet an zwei Pädagogischen Hochschulen. 

Aufgrund ihrer albanischen Wurzeln schlägt die andere Hälfte ihres Herzens für die kleine Stadt Struga am Ohridsee. Aufgewachsen mit zwei Heimatorten, als Tochter von Arbeiter:innen, sowie betreuende Angehörige ihrer Schwester und heute als Doktorandin, Partnerin, Mutter und vieles mehr, setzt sich Arbnora immer wieder mit der Frage ihrer eigenen Identität auseinander.

Durch die Migrationsgeschichte ihrer Eltern ist ihre Biographie geprägt von struktureller Diskriminierung und den damit einhergehenden verschlossenen Türen, auf die sie heute aufmerksam machen will.

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