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Von Adelina Gashi

Redaktorin

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6. Dezember 2019 um 13:54

Warum Seenotrettung auch die Schweiz etwas angeht

In diesem Jahr starben über 1000 Menschen, die versuchten über das Mittelmeer nach Europa überzufahren. Europa, auch die Schweiz, hadert mit einer solidarischen Lösung.

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Foto: Hanna Wallace Bowman (Médecins sans frontières)

«Ständig reden alle nur von den Zahlen. Wir wollen die Thematik vermenschlichen», sagt Eva Ostendarp. Sie ist die Leiterin für die Deutschschweiz bei SOS Méditerranée Schweiz, einer Organisation, die Menschen in Seenot rettet. Die Zahlen, die Ostendarp meint, beziffern die Menschen, die täglich versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, die Menschen, die sie dabei vor dem Ertrinken bewahren können, aber auch jene, die bei dem Versuch umkommen. Meist Geflüchtete – aus Ländern wie dem Sudan, Syrien und Libyen.

«Die Ocean Viking hat soeben 94 Menschen aus einem Gummiboot in Seenot gerettet. Darunter waren elf Frauen, vier der Frauen sind schwanger, und sechs Kleinkinder.» Diese Meldung veröffentlichte SOS Méditerranée Schweiz vor wenigen Wochen auf ihrem Instagramkanal. Meldungen dieser Art erreichen die Follower fast täglich, denn die Ocean Viking, das Rettungsschiff der Organisation, ist ständig auf See und in Bereitschaft.

Den Geretteten ein Gesicht geben

Diese Rettungsaktionen sind bis ins letzte Detail durchgeplant. Die Besatzung besteht nicht nur aus jenen, die das Schiff steuern, sondern auch aus Ärzt*innen der Organisation «Médecins sans frontières», die sich um die Geretteten kümmern. Sogar Journalist*innen und Kommunikationsverantwortliche sind mit an Bord. So entstand auch die Fotoausstellung, die letzten Monat im Zürcher Café Sphères gezeigt wurde: Menschen in orangen Schwimmwesten, die von überfüllten Gummibooten an Bord des Rettungsschiffes gebracht werden. Eindrückliche Aufnahmen von Szenarien, wie sie fast täglich stattfinden.

Begleitet wurden die Fotografien von kurzen Texten, in denen Gerettete ihr Erlebtes schilderten. «Sie erhalten so ein Gesicht», sagt Ostendarp. Wie die Geschichte von Moussa aus dem Sudan, der einem der Angehörigen von SOS Méditerranée, nachdem sie ihn aus einem Schlauchboot gerettet hatten, von seiner Flucht berichtete: «Er [Moussa] war erst 16 Jahre alt, als er den Sudan verliess und in Libyen landete, wo er sofort gefangen genommen und in das Haftlager Beni Waled gebracht wurde. ‹Sechs Monate war ich dort eingesperrt, wurde mit Stromschlägen gefoltert und wiederholt geschlagen, erzählt Moussa. Erst als ich genug Geld aufbringen konnte, wurde ich frei gelassen›...»

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Foto: Julia Schaefermeyer (SOS Méditerranée)

Von der Pflicht, zu retten

Trotzdem sind die Zahlen nicht zu ignorieren, weil sie aufzeigen, welche Dimensionen die Problematik hat. Allein dieses Jahr (bis November) starben über 1000 Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Insgesamt 22'800 Menschen wurden in diesem Jahr gerettet.

Eva Ostendarp, die für das neu eröffnete Regionalbüro in Bern arbeitet, sagt: «In dem Moment, wo jemand vom Ertrinken bedroht ist, geht es einfach darum, diese Menschen zu retten – egal welche Nationalität und welchen Status sie haben.» Aber die Retter*innen auf der Ocean Viking sehen es nicht bloss als moralische Pflicht, Menschen vor dem Ertrinken zu retten, sondern halten sich auch an handfeste Gesetze, wie Eva Ostendarp betont. Denn gemäss Seerecht hat jeder Kapitän und jede Kapitänin die Pflicht, jemanden zu retten, der sich in Seenot befindet.

Juli 2019: Medien berichten, dass die Kapitänin der Seenotorganisation Sea Watch, Carola Rackete, vor ein italienisches Gericht muss. Ihr wird vorgeworfen, sich nicht an die Vorgaben der Behörden gehalten zu haben und unerlaubterweise in italienische Hoheitsgewässer eingedrungen zu sein. Dabei hat Kapitänin Rackete bloss getan, was das geltende Seerecht ihr vorschreibt: Menschen vor dem Ertrinken bewahrt.

«Aber leider ist es dann doch nicht ganz so einfach», sagt Ostendarp. Was Rackete nämlich fehlte, war die Erlaubnis der italienischen Behörden, um einen Hafen anfahren zu können.

Politische Hindernisse

Obwohl sich SOS Méditerranée nicht zur Asyl- oder Migrationspolitik äussert, ist die Organisation dennoch davon betroffen. Das erschwere ihnen auch manchmal die Arbeit, so Ostendarp. Häufig müssten sie sich auch den Vorwurf anhören, dass sie Schlepper unterstützen und Anreize für eine Überfahrt setzen. Ostendarp erklärt daraufhin, dass verschiedene Studien einen Zusammenhang diesbezüglich jedoch widerlegt haben.

Bereits zwei Mal hat das Schiff der Organisation ihre Flagge verloren. Ohne Flagge, die ein Staat einem Schiff stellen kann, kann es nicht in See stechen. Das frühere Schiff von SOS Méditerranée, die Aquarius, fuhr zuerst unter der Flagge Gibraltars und dann unter der Flagge Panamas. Beide Flaggen verloren die Mitglieder von SOS Méditerranée, nachdem eines der europäischen Anlandeländer Druck auf Gibraltar und Panama ausgeübt hatte.

Denn bis heute existiert kein richtiges internationales Übereinkommen für die Koordination der Anlandung von solchen Seenotrettungsschiffen. Momentan nehmen nur einige Länder, darunter Deutschland und Frankreich, Migrant*innen auf.

Die Schweiz beteiligt sich noch nicht an dem Verteilmechanismus.

September 2018: Dem Rettungsschiff Aquarius drohte, die Flagge Panamas in Kürze zu verlieren, weshalb Parlamentarier*innen der SP, Grünen, CVP und FDP den Bundesrat darum baten, dass die Aquarius unter der Schweizer Flagge in Zukunft auf See sein könnte. Jedoch ohne Erfolg.

Die Schweiz hätte genügend Gründe, sich an einem solchen Verteilmechanismus zu beteiligen. Es hat auch mit der Solidarität gegenüber Europa zu tun.

Eva Ostendarp, SOS Méditerranée

Die Rolle der Schweiz

Die Begründung des Bundesrats: «Es braucht eine tragfähige europäische Lösung, welche die Regeln der Seenotrettung berücksichtigt, sichere Ausschiffungshäfen zur Verfügung stelle und einen Mechanismus zur Verteilung der ankommenden Flüchtlinge vorsieht.»

Eine Lösung, an der die Schweiz ebenfalls beteiligt wäre? Bisher zumindest nicht. Diesen Herbst, also ein Jahr nach der Diskussion um die Vergabe der Flagge, reichten Vertreter*innen aller grossen Parteien, ausser der SVP, eine Motion ein, die sich für genau eine solche Beteiligung der Schweiz einsetzt.

Auch SOS Méditerranée Schweiz unterstützt dieses Vorhaben, sagt Eva Ostendarp: «Die Schweiz hätte genügend Gründe, sich an einem solchen Verteilmechanismus zu beteiligen. Es hat auch mit der Solidarität gegenüber Europa zu tun.»

Für die Besatzung der Aquarius wurde es immer schwieriger, ihre Rettungsmissionen ungehindert von Politik und Bürokratie zu begehen. Deshalb beschloss SOS Méditerranée den Betrieb der Aquarius einzustellen. Das war genau vor einem Jahr. Seit Juli 2019 ist das neue Schiff der Organisation, die Ocean Viking, im Einsatz. «Wir hatten das Gefühl, dass uns mit der Aquarius nichts mehr gelingen konnte. Der PR-Schaden war zu gross. Darum charterten wir ein neues Schiff und fahren nun unter der Flagge Norwegens», sagt Ostendarp. Und solange sich keine staatliche oder europäische Lösung für die Seenotrettung findet, bleiben sie auf See.

Wer mehr über SOS Méditerranée erfahren möchte und darüber, wie man in Zürich aktiv werden kann, kann am 10. Dezember ihren Informationsabend besuchen.

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