Neu Verboten: «Als Teil dieser Männerwelt gesehen zu werden, ist schwierig» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Philipp Mikhail

Redaktor

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19. März 2020 um 10:28

Neu Verboten: «Als Teil dieser Männerwelt gesehen zu werden, ist schwierig»

Für den Musiker* und Künstler* «Neu Verboten» sind Männer in vielen Fällen der Ursprung des Unheils. Im Gespräch mit Redaktor Philipp Mikhail erklärt der Co-Gründer* und Co-Kurator* des Rhizom Festivals, warum er* pansexuell ist und wie er* den Schmerz der Welt als Inspirationsquelle für seine Projekte verwendet.

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Bild: Bruna Scorsatto

Neu Verboten, wer bist du?

Neu Verboten ist ein fiktiver Charakter. Er* ist ein Produkt meiner Fantasie, stark geprägt von meinem Bild der heutigen Gesellschaft und einer Art post kapitalistischer Fiktion. Er* stellt sich viele Fragen, z.B: Was berechtigt ihn* zur Inszenierung und inwieweit reproduziert er* ein Bild einer weissen männlichen Vorherrschaft? Nur schon durch die Tatsache, dass er* als weisser Cis-Mann* wahrgenommen wird? Wie kann ich das brechen? Wie viel kulturelle Aneignung besteht in meiner Kunst und Musik? Was ist Inspiration und was Imitation? Welche gesellschaftlichen Chancen bestehen in Klub- und Ravekultur? Wie handle ich in einer kommerzialisierten Szene und welche ethischen Grundsätze halte ich ein, um auch davon leben zu können?

Das klingt sehr politisch. In der (Techno-) Szene, in welcher du dich bewegst, scheinen hedonistische Motive jedoch zunehmend die politische Ideologie zu verdrängen.

Mir scheint, als hätte die Szene in ihren Anfängen sowieso keine wirklichen politischen Motive gehabt. Zumindest nicht in Europa. Richtig gesellschaftskritisch wurde der Rave mit den ersten FreeTek Partys wie zum Beispiel Spiral Tribe. Acid House in Grossbritannien beispielsweise war – nach den doch sehr politischen 80er Jahren – hauptsächlich Ausdruck eines Wunsches nach Unbeschwertheit. Dies manifestierte sich nicht zuletzt auch mit dem aufkommenden Konsum von Ecstasy-Pillen, welche eben gerade dieses hedonistische Lebensgefühl unterstützte.

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Bild: Bruna Scorsatto

Ist es nicht etwas widersprüchlich, wenn du sagst, dass du dich mit deiner Musik gegen den Kapitalismus auflehnst, gleichzeitig aber Teil eines durch und durch kapitalistischen Systems mit vorwiegend hedonistischen Motiven bist?

Der Kapitalismus hat die unglaubliche Gabe, sich überall einzumischen, alles zu infiltrieren. Die erste Street Parade zu Beginn der Neunziger war als Manifestation für das «Anderssein» gedacht. Heute hat dieser Anlass nichts mehr mit dem eigentlichen Spirit zu tun. Es ist zwar schön, dass die Parade sich in den letzten Jahren bemühte, sich etwas mehr in Richtung Szene zu bewegen. Trotzdem konnte ich mich – seit ich die Street Parade kenne – noch nie richtig mit diesem Event identifizieren, weil er schlicht zu kommerziell ist. Dass der Markt zunehmend das kapitalistische Potenzial des Raves entdeckt hat, zeigt sich unter anderem auch an den Gagen der DJs. Bei lokalen Künstler*innen liegt der Durchschnitt bei circa 300 Franken. Internationale DJs verdienen oft ein Vielfaches. Diese Wertschöpfung ist in allen Bereichen unseres Lebens. Und letztendlich sind wir alle Kinder dieser Gesellschaftsordnung.

Rave wird also zum Lifestyle-Produkt?

Genau. Und dabei spielt vor allem das Marketing eine wichtige Rolle. Als Newcomer*in kommt man heute fast nicht mehr ohne Social Media aus. Schliesslich ist jedoch alles, was in den sozialen Medien passiert, ein Marketingprodukt. Mit «Neu Verboten» spiele ich mit diesem Phänomen, verwende die Mechanismen des Marketings.

Für privilegierte Intellektuelle war es immer schon einfacher, sich über Dinge wie soziale Gerechtigkeit Gedanken zu machen.

Die Leute, die den Kapitalismus kritisieren, sind meistens nicht diejenigen, welche am meisten darunter leiden. Ähnlich wie bei den Hippies in den 60er-Jahren übt auch heute hauptsächlich die privilegierte Klasse Kritik an der momentanen Situation.

Das Prekariat unserer Generation hat auch gar keine Zeit, um sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Sie müssen arbeiten, ihre Kinder irgendwie durchbringen, überleben. Für privilegierte Intellektuelle war es immer schon einfacher, sich über Dinge wie soziale Gerechtigkeit Gedanken zu machen. Was denkst du, wer hat all die Bücher geschrieben, mit denen wir gegen den Kapitalismus argumentieren?

Das würde dann aber auch bedeuten, dass deine Musik – oder vielleicht sogar Techno generell – nur von Privilegierten verstanden werden kann. Menschen aus ärmeren Regionen interessieren sich wahrscheinlich gar nicht für Techno, weil sie ganz anders sozialisiert wurden.

Das sehe ich anders. Als ich vor einigen Wochen in einem Berliner Off-Space-Club war, kam ich spontan mit zwei Asylsuchenden ins Gespräch. Ich fragte sie, welche Musik sie mögen und einer der beiden antwortete, er möge Techno besonders gerne. Er erklärte weiter, dass es für ihn, bevor er nach Europa gekommen sei, nur Reggae und Hip Hop gegeben habe. Er habe so etwas wie Techno schlicht nicht gekannt. Doch als er dann zum ersten Mal an einen Rave gegangen sei, habe er sofort verstanden, dass dies eine Kultur der Freiheit sei. Ohne im Westen aufgewachsen zu sein, hat er also den Reiz und Charakter des Raves geradewegs verstanden. Da habe ich mich gefragt, inwiefern Musik die Grenze von Sprache, Nation und Ethnie überschreitet oder sie neu zieht.

Die neuen Technologien bergen also nicht nur Gefahren?

Es kommt darauf an, wozu man diese verwendet. Für mich ist es absolut nachvollziehbar, weshalb manche Menschen die rasante Entwicklung von neuen Technologien fürchten oder sogar bekämpfen. Es ist unheimlich, wie gläsern wir aufgrund der neuen Technologien geworden sind. Doch ich sehe auch viel Potenzial, das noch nicht genutzt wurde. Zumindest nicht für die Menschen die vom Profit ausgeschlossen sind. Mit Neu Verboten bin ich zwar Teil dieses Systems, kann aber durch meine Privilegien als Künstler* und Musiker* damit spielen und eventuell jemanden zum kritisch Denken anregen.

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«Humanity Is My Wound Which Will Never Heal»: Mit einer Peitsche werden Rhythmen auf den Körper gespielt und Kontakt-Mikrofone nehmen die Musik auf.

Hast du dich deshalb im Oktober letzten Jahres in der Galerie Mikro von einer Domina auspeitschen lassen?

Diese Performance hat durchaus einen marketing-technischen Charakter, wobei es in erster Linie natürlich nicht so gedacht war (lacht). Inspiriert durch die Attitüde und Ästhetik der in den 80er entstandenen Musikstils EBM (Electronic Body Music) hat Niru, eine professionelle Domina, mir mit einer Peitsche Rhythmen auf den Körper gespielt. Der Sound wurde dann von sensiblen Kontakt-Mikrofonen über Effektpedale manipuliert und mit einer eigens kreierten Komposition aus Atmosphären und Drones vermischt. Die Performance hiess «Humanity Is My Wound Which Will Never Heal» und thematisiert mein Trauma, Mensch zu sein in dieser Welt voller Schmerz und Leid.

Die Stimmen im Stück sind traurige Schicksale von Menschen, die unter dieser Politik leiden und mich tief berühren.

Ist Schmerz für dich eine Quelle der Inspiration?

Nicht im Sinne eines körperlichen Schmerzes, eher im Sinne eines kollektiven Weltschmerzes. Zu leben, bedeutet auch Schmerzen zu haben. Schon während meiner Kindheit in Mexiko, wollte ich beispielshalber nie ein Mann sein, weil Männer für mich die massgebenden Verursacher des Leids auf der Welt verkörperten. Es ist auch heute für mich noch immer qualvoll, in einer unfairen männerdominierten Welt als weisser Cis-Mann* gesehen zu werden. Deshalb sehe ich es regelrecht als meine Verpflichtung, mit meiner Kunst Sexismus, Geschlechterrollen aber auch Rassismus zu kritisieren.

Als bekennender pansexueller Mensch (Pansexualität ist eine sexuelle Orientierung, bei der Personen in ihrem Begehren keine Vorauswahl nach Geschlecht bzw. Geschlechtsidentität treffen) weiss ich, dass ich zwar den Menschen an sich liebe, die Menschheit und besonders die Männerwelt, wie sie sich manifestiert, aber zutiefst verabscheue. Und diese Einstellung beeinflusst mich stark in meiner Musik. Das Stück «We Trance Fair», ein Stück auf meiner aktuellen EP, die auf dem Zürcher Label Infoline dieses Jahr erschienen ist, verurteilt die Situation im Mittelmeer und somit unsere Migrationspolitik in Europa. Die Stimmen im Stück sind traurige Schicksale von Menschen, die unter dieser Politik leiden und mich tief berühren. Hier bin ich definitiv sehr stark von Charles Hellers «Forensic Oceanography» inspiriert, das ist eh das bestes Projekt ever.

Wenn du erlaubst, fasse ich unser Gespräch mit dem folgenden Zitat von Lessing zusammen:

Wenn Unglück sein soll, so muss selbst das Gute Schaden stiften.

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