Fachkräftemangel: Der Code zur Integration
Der Verein «Powercoders» bildet in Bern Geflüchtete zu IT-Fachkräften aus. Das Programm zeigt einen Weg, wie Integration in den Arbeitsmarkt glücken kann.
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Es sieht aus, als wäre die Migros-Klubschule nie ausgezogen: In den Räumen der Berner Marktgasse 46 sitzen 25 Personen im Halbkreis an Pulten. Sie starren auf die Bildschirme ihrer Laptops. Darauf zu sehen sind bunt eingefärbte Zeichen und Codes auf schwarzem Hintergrund. Doch das ist kein Freizeit-Kurs, um eine eigene Webseite zu programmieren, wie man es aus dem Kurskatalog der Migros-Klubschule kennt. Hier, im fünften Stock, oberhalb von Migros und Denner sind die «Powercoders» eingezogen, die Geflüchtete zu Programmierer:innen ausbilden.
Eine dieser IT-Neulinge ist Olena Smetiuk. Zuhause in der Ukraine, in Odessa, war die 39-Jährige Dozentin für Biomedizin an der Universität. «Für mich war das Programm der «Powercoders» ein Glücksfall», erzählt sie. Über eine Chatgruppe für Ukrainer:innen in der Schweiz, die Arbeit suchten, sei sie darauf gestossen.
Ein Glücksfall war es, weil Olena Smetiuk bereits vor Kriegsausbruch im Februar, und bevor sie im April aus ihrer Heimat flüchten musste, in die IT-Branche einsteigen wollte. Ganz neu sind ihr die Programmiersprachen JavaScript, HTML und Co. also nicht. Das kam ihr in ihrer Bewerbung für den Programmierkurs der «Powercoders» zu Gute.
Das Programm wird nur zwei Mal pro Jahr ausgeschrieben, Menschen aus allen Kantonen können sich anmelden. «Im Sommer hatten wir 290 Anmeldungen», sagt Christina Gräni. Sie ist Kommunikationsverantwortliche der «Powercoders».
Im Bootcamp hat es aber nur 25 Ausbildungsplätze. Diese 25 Auserwählten müssen eine Liste von Aufnahmekriterien erfüllen. Die Teilnehmenden brauchen vor allem Englischkenntnisse. Von Vorteil ist es, wenn sie zudem eine Landessprache sprechen. Im Auswahlverfahren wird auch ihr logisches Denken getestet. Schliesslich darf den Bewerber:innen die Motivation nicht fehlen, was im persönlichen Gespräch abgefragt wird. «Wir wählen sehr bedacht aus, denn die IT-Branche in der Schweiz ist tough», sagt Gräni.
Ein hartes Business in einer Branche, der die Fachkräfte fehlen. Laut dem Bundesamt für Statistik sind derzeit 7000 Stellen unbesetzt. Dieser Fachkräftemangel trieb die Gründer:innen von «Powercoders» an. Den IT-Firmen fehlen die Leute, den Geflüchteten die Arbeitsstellen. «Wir gehen also gleich zwei Grundprobleme an», so Gräni.
Via Speed-Date zum Praktikum
Die meisten Menschen, die von «Powercoders» ausgebildet werden, sind auf Sozialhilfe angewiesen. Für Geflüchtete ist es nicht einfach, im Schweizer Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Häufig werden ihre Ausbildungen aus den Heimatländern nicht anerkannt. Vielen fehlt aber auch das Netzwerk, das berühmte Vitamin B.
Unter den Powercoder:innen besitzen die meisten einen Ausweis F oder B – womit ihnen erlaubt ist, in der Schweiz zu arbeiten. Oder sie erhielten wie Olena Smetiuk den Schutzstatus S, der für Menschen aus der Ukraine ausgesprochen wurde. Trotz Arbeitserlaubnis, bleibt es schwer, eine Stelle zu finden. «Vor allem, weil bei vielen Firmen Unwissen darüber herrscht, ob und wie sie überhaupt geflüchtete Menschen anstellen können», erklärt Gräni.
Darum führt «Powercoders» Geflüchtete und Firmen an einen gemeinsamen Tisch. Zur Halbzeit des Bootcamps findet dazu der sogenannte Career-Day statt. «Das ist der Schlüsselmoment des gesamten Programms», sagt Gräni. Die IT-Neulinge stellen sich an diesem Tag potenziellen Arbeitgeber:innen vor. Im Speed-Dating-Modus treffen sie auf Firmen. In maximal 6 Minuten erzählen sie von sich und ihren Fähigkeiten. Das Ziel am Ende dieses Tages ist es, eine Praktikumsstelle zu ergattern. Zu den teilnehmenden Firmen gehören etwa die Swisscom, die Mobiliar und neu auch das IT-Department der Stadtverwaltung Bern. Insgesamt arbeitet «Powercoders» mit 150 Firmen zusammen.
Vorboten des Career-Days, der am Mittwoch, 2. November stattfindet, sind schon jetzt an der Marktgasse sichtbar. Die IT-Neulinge tragen alle eine Maske. Sie wollen auf keinen Fall vor dem wichtigen Tag krank werden. Olena Smetiuk freut sich, nervös ist sie aber nicht. «Wir haben schon viel für den Tag geübt», erzählt sie. Zum Beispiel in Übungs-Interviews.
Hört man Olena Smetiuk zu, wird schnell klar: Das Programm ist streng. Nach den drei Monaten des Bootcamps, das von Montag bis Freitag die Kunst des Programmierens vermittelt, folgen in der Regel 12 Monate Praktikum. Und das ebenfalls im Vollzeitpensum. Im Bootcamp verdienen die Teilnehmenden nichts, im Praktikum maximal 600 Franken. Olena nimmt das alles aber gerne in Kauf. «Mir macht diese Arbeit grossen Spass», sagt sie.
Pause nicht vergessen
Das Programm erhält Geld von den Kantonen. Diese zahlen die Hälfte der Kosten. Vom Bootcamp bis zur Praktikumsstelle sind es pro Person 7’000 Franken. Bis zur Festanstellung sind es 9’000 Franken. «Die Kantone können also für 9’000 Franken eine geflüchtete Person vollständig in den Arbeitsmarkt integrieren», rechnet Gräni vor. Gesamthaft scheint diese Rechnung aufzugehen: Seit Gründung des Vereins vor fünf Jahren haben insgesamt 240 Teilnehmenden im Programm der «Powercoders» teilgenommen. 90 Prozent von ihnen haben eine Praktikumsstelle erhalten. Davon wurden 60 Prozent festangestellt.
Für Olena Smetiuk und ihre Klassenkamerad:innen ist die Anstellung noch ein Stück weit entfernt. Sie sitzen noch immer an ihren Codier-Übungen im fünften Stock an der Marktgasse 46, und suchen vertieft nach Lösungen. So vertieft, dass sie die Kursleiterin daran erinnern muss, eine Pause einzulegen.
Der Verein «Powercoders» |
Der Verein wurde 2017 vom Ehepaar Bettina und Christian Hirsig gegründet. Er beschäftigt heute 10 Festangestellte, und ist schweizweit aktiv. Hinzu kommen zahlreiche Freiwillige, welche die Teilnehmenden des Programms unterstützen. Jeder Person wird ein Jobcoach zugeteilt, welche:r sie insbesondere während der Praktikumsphase begleitet. |