Wir feierten die Alternativlosigkeit mit Marshmallows – jetzt ist Apokalypse!
---> Unten die Geschichte in GIFs
Normalerweise habe ich beim Schreiben das Gefühl, dass ich gegen das worüber ich schreibe ankämpfe. Wenn man einen Text schreibt – über eine Person, eine Begegnung, ein Ereignis – kann man die Story, die man schreibt, gestalten. Das gibt Macht. Gegen eine übergriffige Polizei. Gegen rechte Volkstribunen. Gegen Liebe und Kummer. Gegen den Kulturpessimismus. So schreibe ich sonst. Sonst behaupte ich aber auch, Journalist zu sein. Heute Abend ging ich an das Public Viewing der US-Wahlen, um darüber zu schreiben. Nicht als Journalist, sondern als Sprecher der Selbsthilfegruppe 0. Die Gruppe 0 setzt sich Alternativlosigkeit aus. Und – da wir medial und kulturell den USA ausgesetzt sind und ausgesetzt sein wollen/wollten, schien diese Präsidentschaftswahl die ideale Reality Check-Zone für uns von der Selbsthilfegruppe: Auf der einen Seite die Person, die für Establishment steht. Auf der anderen Seite die Person, die nicht für Establishment steht. Beide waren früher befreundet. Der, der nicht fürs Establishment steht, ist ein Rassist, ruft zu Sexualstraftaten auf und und und blablabla, sowieso chancenlos, aber ich kann's grad nicht mehr hören um 06:40. Future president of the USA. Michigan, Wisconsin and New Hampshire.
Am Anfang des Abends sah das anders aus. Eine Art Spring Break für Politologiestudierende. Viel Gelächter, viel Bier, überall Menschen in den Zwischengängen. Die längste Schlange, die das Zentrum Karl der Grosse in den letzten drei Jahren erlebt hat. Mindestens 300 Leute. Alle Säle offen. Überall läuft CNN.
Eine Amerikaflagge fällt während den ersten Vortragsminuten vom Tischchen. Ha, was für ein süsser Zufall, der ausstellt, wie man gegenüber den USA empfand. Damals. So um 22:20. Lange her. Die Zitate – wunderbar ungeordnet, wie man es tut als Sprecher einer Selbsthilfegruppe, journalistisch unsauber, nicht den Vortragenden zugeordnet: „Auf alle Fälle ist es heute mal vorbei mit dem Affentheater.“ „All is well, that ends well“ steht auf einer Präsentation. Den Versprecher „presidential rage“ statt „presidential race“. „Every four years it gets a bit worse. The question is: How bad does it get?“ „Is there a way, that it doesn't get worse?“ „Hillary Clinton will use drones as enthusiastically as Obama.“ „Will Trumpism survive Trump?“
Ich ging für die Selbsthilfegruppe 0, die Recherche zu Alternativlosigkeit, hierhin. Wollte das kleinere Übel als Postergirl der Alternativlosigkeit behaupten und bizzeli spüren, wie sich das Unbehagen der Leute gegenüber dem grösseren Übel anfühlt. Viele Notizen, die Pointensalven böten. Es dreht sich jetzt alles. Es wiederholt sich. Immerhin ist auf CNN gerade jemand wirklich wütend. Ein Wut-über-Wutbürger-Bürger. Das tut gerade gut. 06:55. Die Pointensalven kann ich nicht brauchen, aber alles im Karl der Grossen live und offiziell gesprochene wurde von folgender brachliegender Story gerahmt:
Die Podiumsdiskussion begann um 22.45 mit der Aufforderung „Name two or three hashtags out of the last weeks!“ Als einer der Experten ansetzt, weshalb Clinton seiner Meinung nach gewinne, klatschen drei Leute und der Moderator unterbricht mit „A tweet has 160 characters. You know that, yeah?“
Dann wird ernsthaft gesprochen. Über Wutbürger. Über Populismus. Über das gesellschaftliche Auseinanderdriften.
Es kommen Publikumsfragen, Wissensfragen. Als letztes fragt eine Frau, die sich als „registered democrat from Alabama“ („Yes, we exist!“) darstellt. Sie fragt... Sie hat wirklich gefragt: „You didn't answer the first question: What is your favourite hashtag? There were so many great ones.“ Wir sind so widerlich. Nicht diese Frau. Also nicht sie persönlich, sondern wir, die nur noch Stilkritik betreiben, irgendwo im „Restaurant am Ende der Postmoderne“ (dies ist eine Referenz auf Douglas Adams Hitchhiker's Guide to the Galaxy) festhängen. Ich kenn diese Frau nicht, will nicht sie angreifen. Will auch nicht die angreifen, die eine „Make America Great Again“-Mütze (wahrscheinlich ironisch) trug. Ich hab das GIF davon gelöscht. Sie gehört nicht an den Pranger. So zirka um 24 Uhr hab ich ein spontanes „Marshmallow-in-den-Mund-Stopf-Spiel“ gewonnen. So selbstreferenziell, so locker, so sehr Event-Kultur.
Als sich um 01:24 ein Trump-Berater von CNN mit dem Satz „It will take a miracle for us to win.“ zitieren liess, waren vielleicht noch 150 Leute im Karl der Grosse. Wir haben alle geglaubt, wir bekommen die Establishment-Frau, die wir nicht mögen müssen. Gay rights don't affect capitalism. A president Clinton wouldn't have affected capitalism. Aber zwischen gefühlter Alternativlosigkeit und Marshmallow-Anything Goes-Gefühl hätten wir uns eben Marshmallows ironisch in den Mund stopfen dürfen. Wir haben das so nicht erwartet. Wir haben das so nicht erwartet. Wir haben das nicht so erwartet! Brexit erlebte ich auf einer Mikrodosis Pilze auf einem Hügel oberhalb von Albisrieden. Die Trump-Wahl mit Marshmallow-verklebtem Mund. So sehr Event-Kultur. „Entweder gewinnt sie mit einem Erdrutschsieg – eigentlich hab ich nur diese Option bedacht“, sagt jemand. „Jetzt sitzen wir hier und es könnte wirklich sein, dass der Typ, der sagt „grab them by the pussy, if you want“ Präsident der Vereinigten Staaten wird. Und alles was ich von der Wahlnacht bekomme, ist ein Kater. Warum habe ich keine aktive Rolle?“, sagt jemand anders. So selbstreferenziell, so locker, so sehr Event-Kultur. Wenigstens muss man sich als Alternativlosigkeitstourist, nicht schlechter fühlen, als die anderen Anwesenden.
Ab halb 3 ist alles möglich. Man hört Wanda. Man tanzt zu Trump-Ergebnissen. Man sagt „Build the wall!“. Man will überspielen, dass man eine Beklemmung fühlt. Man hofft auf einen Turnaround. Eine gute Nachricht. Florida. Ohio. North Carolina. Man hinterfragt. Man hinterfragt wahrscheinlich sein Politologiestudium. Man hinterfragt, ob man monatelang über ihn lachen durfte. Ob man denen noch Aufmerksamkeit geben darf in einer Zeit, in der Social Media nicht nur einen Einfluss auf die Echtwelt ausübt, sondern sie überformt, in der Social Media mehr Wert ist als jede Establishment-Power. Denn Aufmerksamkeit summiert sich zu Prestige und Prestige ist behaupteter Einfluss und behaupteter Einfluss wird zu Einfluss. Zu Macht. Michigan. Wisconsin. Pennsylvania.„Build the wall! Build the wall!“, schreien Politologiestudierende, damit weggeht, was passiert.
Es ist 07.05. Die CNN-Kommentatoren machen sich schon drüber lustig, wie erniedrigend es für den gemässigten Gouverneur Kasich sein wird, einem Präsidenten Trump zu gratulieren. Journalismus ist widerlich. Dieses CNN-Newsgehabe besonders, denn es beharrt so sehr auf der eigenen Seriosität, wie es Infotainment-Moment an Infotainment-Moment reiht. Dieser Artikel ist ein Native Advertisement einer Selbsthilfegruppe, die ihr Native Advertisement selbst schreibt. Das tönt ironisch, ist aber sauernst. Die Selbsthilfegruppe 0 hat heute anerkannt, dass sich am Boden der Alternativlosigkeit, die sie bereits akzeptiert hat, neue Abgründe auftun können. Ihre Suche wird umso ernster.
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