Wie wir trotzdem sprechen

Der Nahostkonflikt hinterlässt seine Spuren auf Zürichs Hauswänden und in der lokalen Debattenkultur. Statt eines Dialogs dominieren neben Angst und Betroffenheit zunehmend Lagerbildungen und einseitige Parteinahmen. Wie kommt wieder eine Debatte zustande?

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Graffiti geht auch differenziert, wie hier an der Kanonengasse. (Bild: Tsüri.ch / Kai Vogt)

Nichts scheint einfach im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Auch nicht hier in Zürich. Die Debatte bleibt aus, stattdessen wird auf Wänden, in Kommentarspalten und auf Meinungsseiten einseitig Position bezogen. Über Angst und Betroffenheit legt sich ein wütender und anklagender Grundton.

Was geschieht hier gerade? Vor welchem Hintergrund führen wir die Debatte über die fehlende Debatte? Und was braucht es, damit wir miteinander sprechen? «Trotzdem sprechen» steht auf der Einladung zum Panelgespräch am Theaterspektakel. Ein Titel, wie ein Spoiler, der die Lösung eigentlich schon im Voraus verrät.

Krisenmomente offenbaren Lücken im System

Im Hintergrund Abendstimmung, Zürichsee, Bergpanorama und auf der Seebühne sitzen Hannan Salamat und Meron Mendel. Vor gut gefüllten Reihen sprechen die Kultur- und Religionswissenschaftlerin und der israelisch deutsche Publizist über unsere fragile Debattenkultur und die Schwierigkeit, mehrere Positionen gleichzeitig auszuhalten. Es seien Krisenmomente, wie der 7. Oktober, die offenbaren, wo in der Gesellschaft Lücken vorherrschen, wo «Leerstellen» existieren. So erklärte Hannan Salamat, vom Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID) das, was in Zürich und andernorts passiert. Nun werde offensichtlich, wo das System versagt hat, in  «Friedenszeiten» Debatten über Diskriminierungen zu führen.

Hannan Selamat, Meron Mendel, Theaterspektakel
Meron Mendel und Hannan Salamat im Gespräch mit Moderator David Vogel. (Bild: Nina Graf)

In Zürich gibt es verschiedenste Positionen und Organisationen, miteinander sprechen tut man schon lange nicht mehr. Über das Verlautbaren von eigenen Positionen und gegenseitigen Anschuldigungen kommt es nicht hinaus.

Bei Hintergrundgesprächen mit linken Aktivist:innen wird argumentiert, der Fokus auf die Massaker im Gaza-Streifen sei relevanter als die Diskussion über Antisemitismus in Zürich.

Und von bürgerlich geprägten Medien wird suggeriert, alle Palästina-Sympathisant:innen seien automatisch antisemitisch. 

Es ist eine Entweder-Oder-Haltung. Eine, die keine Gleichzeitigkeit zulässt, sondern nur die im eigenen Lager dominante und charaktergebende Haltung erlaubt. 

Nahostkonflikt in Fanclubs 

Das ist bezeichnend für die gegenwärtige Situation, hört man Meron Mendel auf der Bühne am Theaterspektakel zu. Der 7. Oktober habe bei den meisten dazu geführt, dass sie ihre bereits existierende Position zur Israel-Palästina-Frage verstärkten.

Der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank vergleicht die Situation mit einem Fussballspiel: Es gibt zwei Lager und beide haben ihre festen Überzeugungen. Die Zugehörigkeit zu einer Seite werde identitätsstiftend für die Mitglieder und die Frage danach, auf welche Seite man gehört, werde zu einer Frage der Moral, die mit richtig und falsch beantwortet werden kann. 

Dabei spiele es kaum eine Rolle, was tatsächlich auf dem Spielfeld passiert. Eine Meinung, die konträr zur eigenen ist, werde nicht akzeptiert. «Wir sind nicht mehr in der Lage, Dissens auszuhalten. Dabei ist gerade das ein wesentlicher Bestandteil unserer Demokratie», sagt Mendel.

Dissens aushalten, was heisst das für den öffentlichen Raum?

In Zürich fallen Graffiti auf, die den Nahostkonflikt aufnehmen. Einige zeigen den gängigen Leitspruch der Pro-Palästina-Bewegung «Free Palestine», andere enthalten Symbole und Sprüche, die Expert:innen als antisemitisch bezeichnen. Die Stadt wiederum übermalt Schriftzüge, die diskriminierende Aussagen beinhalten und hat jüngst am Oberen Letten unter anderem rote Dreiecke, die auch von der Hamas verwendet werden und der Aufruf zur Intifada entfernt. Gemäss Aussagen aus linksaktivistischen Kreisen auf den sozialen Medien wurde ihr «Free Palestine» am Letten von der Stadt zuvor schon einige Male übermalt. Die Stadt sagt, sie könne das nicht ausschliessen. Es sei nach «bestem Wissen und Gewissen» gehandelt worden. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel, vieles ist kaum mehr nachvollziehbar.

«Bloss weil die Parolen aus dem öffentlichen Raum verschwinden, verschwinden sie ja nicht aus den Köpfen.»

Christina Späti, Professorin Universität Fribourg mit den Schwerpunkten Antisemitismus und Linke Bewegungen

Christina Späti, Professorin an der Universität Fribourg mit den Schwerpunkten Antisemitismus und Linke Bewegungen, kann den Wunsch nachvollziehen, die Graffiti zu übermalen, da sie von manchen Leuten als antisemitisch empfunden werden.

Sie fragt sich aber auch, wie zielführend das Überschreiben der Graffitis überhaupt ist: «Bloss weil die Parolen aus dem öffentlichen Raum verschwinden, verschwinden sie ja nicht aus den Köpfen.» Besser würde man den Dialog suchen. 

«Auch wenn seit dem 7. Oktober der Dialog über verschiedene Positionierungen zu Israel und Palästina einerseits und zu Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus andererseits schwieriger geworden ist, bleibt er alternativlos», so Späti. 

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Vor dem Zürichsee über die Nahostdebatte sprechen.

Trotzdem sprechen; einverstanden. Aber wie?

Was braucht es, damit in der Linken, wie auch der Mehrheitsgesellschaft eine konstruktive Debatte zu Solidarität ohne Diskriminierung möglich ist?

Die Palästinenser:innen werden oftmals rassistisch stigmatisiert, ihre hiesigen Unterstützer:innen leiden unter einem latenten Antisemitismusvorwurf, obwohl es ein Grossteil der Bewegung mühelos schafft, sich ohne Diskriminierung für einen Frieden einzusetzen.  

Natürlich haben die Stimmen recht, wenn sie auf das Leid in Palästina hinweisen. Das muss besprochen werden, auch in Zürich. Und es muss auch in Zürich möglich sein, Solidarität mit den Menschen in Gaza zu zeigen. Das muss auch der Stadt bewusst sein, wenn sie entscheidet, welche Graffiti übermalt werden sollen. 

Aber diese Stimmen haben nicht recht, wenn sie das Leid der einen Seite höher gewichten und der anderen ihre Sicht und Situation komplett absprechen und dabei einen unsensiblen Umgang mit Antisemitismus in Kauf nehmen.

Andere Meinungen anerkennen und die eigenen Leerstellen erkennen

 

Damit es zu einer Auseinandersetzung kommen kann, brauche es die Einsicht, dass Antisemitismus aus der gesellschaftlichen Mitte komme, so Späti. «Insofern macht es keinen Sinn, von einem linken, rechten oder muslimischen Antisemitismus zu sprechen.» Anstelle davon, dass man Antisemitismus immer nur bei den anderen verortet, brauche es die Erkenntnis, dass Judenfeindschaft in Europa ein jahrhundertealtes Phänomen ist, dass sich tief in unseren kollektiven Wissensbestand eingegraben hat. «Eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus setzt demnach zum einen voraus, dass man sich eingesteht, dass auch eigene Vorstellungen und Überzeugungen antisemitisch konnotiert sein können. » 

Hier sind wir wieder bei den Leerstellen, die Hannan Selamat angesprochen hat. Das gilt für Antisemitismus, genau so wie für antimuslimischen Rassismus.

Keine Seite hat recht, wenn sie das Leid der einen höher gewichtet und – wie bei den Fussballclubs – der anderen ihre Sicht abspricht. Beides muss gleichzeitig existieren können und in einer Debatte besprochen werden, denn beides ist gleichzeitig wahr.

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