Streitgespräch zur Abstimmung

«Die Seebahn-Höfe sind unser Erbe» – «Wir reissen nicht wahllos Häuser ab»

Sollen die Seebahn-Höfe im Kreis 4 durch einen Neubau ersetzt werden? Während Lisa Diggelmann durch den Abriss «endlich mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen» will, setzt Martin Rathgeb alles daran, die «schönsten Siedlungen der Stadt» zu bewahren. Ein Streitgespräch.

Martin Rathgeb und Lisa Diggelmann haben unterschiedliche Vorstellungen, wie die Seebahn-Höfe künftig aussehen sollen. (Bild: Isabel Brun)

Isabel Brun: Seit Ende 2024 formiert sich gegen die geplanten Ersatzneubauten der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) und der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP) an der Seebahnstrasse Widerstand.

Martin Rathgeb, Sie setzen sich als Architekt für den Erhalt der alten Bauten ein, während Sie, Lisa Diggelmann, als SP-Gemeinderätin und Vizepräsidentin der BEP mehr Wohnraum schaffen wollen. Ist es das erste Mal, dass Sie gemeinsam an einem Tisch sitzen?

Lisa Diggelmann: Ja. Im Sommer unternahm die Interessengemeinschaft (IG) «Seebahnhöfe retten» einen zaghaften Versuch, ein Treffen zu organisieren. Aber da das Referendumskomitee anonym auftritt, war die Kommunikation schwierig. Die Verantwortlichen der BEP und ABZ mussten mehrmals nachfragen.

Martin Rathgeb: Es gab durchaus die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme: Bereits im Dezember letzten Jahres traten Martin Busekros, Grüne-Gemeinderat, und Sebastian Bietenhader im Namen der IG öffentlich in Erscheinung. Wir sind keine organisierte Gruppe, sondern ein aktivistisches Kollektiv. Einige von uns wollen anonym bleiben, weil sie negative Konsequenzen bezüglich ihrer Anstellung befürchten.

Seit 20 Jahren planen die Genossenschaften, die Siedlungen Kanzlei und Seebahn abzureissen und 350 neue Wohnungen zu schaffen. Im April wurde der entsprechende Gestaltungsplan vom Gemeinderat mit 100 zu 11 Stimmen deutlich angenommen. Warum kämpft man erst jetzt mittels Referendum gegen das Projekt?

Rathgeb: Die Kritik an den beiden Ersatzneubauten ist nicht neu. Bereits 2012 und 2016 wandten sich Bewohner:innen und Personen aus der Fachwelt mit einem Brief an die ABZ und forderten eine Neubeurteilung des Projekts. Und auch der Heimatschutz versuchte, die Siedlungen auf juristischem Weg zu retten – leider ohne Erfolg. Trotz alledem hielten die Bauherr:innen an ihren Plänen fest. Uns blieb nur, politisch gegen das Projekt vorzugehen.

Am 30. November entscheidet nun also das Stadtzürcher Stimmvolk über die Zukunft der Seebahn-Höfe. Ärgert Sie das, Frau Diggelmann?

Diggelmann: «Ärgern» ist das falsche Wort. Es ist wichtig, dass es dieses demokratische Instrument gibt. Ich kann aber nicht verstehen, dass sich die IG auf ein genossenschaftliches Projekt stürzt, das sowohl ökologisch als auch sozial nachhaltig ist. Wir stellen weder Menschen auf die Strasse noch reissen wir wahllos Häuser ab.

Die BEP hat in der Stadt Zürich bereits rund 390 Wohnungen unter denkmalpflegerischen Auflagen saniert. Auch an der Seebahnstrasse wurde sorgfältig geprüft, ob ein Ersatzneubau sinnvoll ist oder nicht.

Rathgeb: Aber vor 20 Jahren! Damals wehte politisch und städtebaulich ein ganz anderer Wind. Die Stadt wollte das von der Westtangente geplagte Quartier Aussersihl aufwerten. Gemäss dem Leitbild aus dem Jahr 2010 sollten durch den Abriss von alten und das Erstellen von neuen «zeitgemässen Wohnungen deutschsprachige mittelständische Familien mit Kindern ins Quartier gebracht werden».

Die ABZ-Siedlung an der Seebahnstrasse wurde in den 1920er-Jahre erbaut. (Bild: Isabel Brun)

Laut den Genossenschaften werden an der Seebahnstrasse künftig doppelt so viele Menschen wohnen können wie heute: insgesamt etwa 1000. Die IG kommt auf andere Zahlen.

Rathgeb: Laut den Projektentwickler:innen können insgesamt 1000 Menschen in den neuen Genossenschaften wohnen. Das ist reine Propaganda! Unseren Berechnungen zufolge werden im Neubau nicht 1000, sondern nur 820 Personen unterkommen – also 260 mehr als heute und 130 pro Siedlung. Dafür dieses wichtige baugeschichtliche Erbe des Roten Zürich zu zerstören, ist irrsinnig. Wir reissen schliesslich auch nicht einfach das Opernhaus ab, um einen zusätzlichen Proberaum zu bauen.

Wie kann es sein, dass diese Zahlen so unterschiedlich sind?

Rathgeb: Die BEP und ABZ vergleichen Äpfel mit Birnen. Wir hingegen orientierten uns an den Belegungsziffern, welche die Genossenschaften seit Jahren nutzen. 

«Könnte es nicht umgesetzt werden, müssten wir von Feld eins starten. Das hätte auch Auswirkungen auf die Mietzinse.»

Lisa Diggelmann, Vizepräsidentin der BEP

Diggelmann: Wir haben aktuell noch relativ lockere Belegungsvorschriften, das stimmt. Diese werden aktuell überarbeitet. In Zukunft soll eine 3-Zimmer-Wohnung nicht mehr an Einzelpersonen vermietet werden. Dadurch werden im Neubau deutlich mehr Platz finden: Die Nutzfläche steigt insgesamt von 17’600 auf 33’100 Quadratmeter.

Rathgeb: Das bedeutet aber auch, dass der Flächenverbrauch pro Person stark zunimmt. 

Das müssen Sie erklären.

Rathgeb: Die alten Seebahn-Höfe bestehen aus 270 Wohnungen, bei der neuen Überbauung sind 350 geplant: Also nur 80 Wohnungen mehr als heute, nicht doppelt so viele. Jede:r einzelne:r Bewohner:in wird auf mehr Quadratmeter wohnen. Dafür die alten Siedlungen abreissen zu lassen, kritisieren wir. 

Diggelmann: Natürlich wäre es wünschenswert, dass Menschen auf Wohnfläche verzichten würden, aber wir können das Bedürfnis nach einem zeitgemässen Grundriss nicht wegdiskutieren. Der Flächenverbrauch im Neubau liegt mit etwa 31 Quadratmeter pro Kopf aber noch weit unter dem städtischen Durchschnitt. Deshalb verstehe ich nicht, warum sich die IG ausgerechnet auf unser Projekt eingeschossen hat.

Warum gehen Sie ausgerechnet gegen ein gemeinnütziges Projekt vor, Herr Rathgeb?

Rathgeb: Leider tragen die Genossenschaften heute, insbesondere bei den Seebahn-Höfen, die Konsequenzen früherer Stadtplanung in Zürich. Es geht um Entscheide, die vor 20 oder 30 Jahren gefällt wurden. Mitunter spielt dabei die bald veraltete Bau- und Zonenordnung (BZO) eine Rolle, die festlegt, was wo und wie gebaut werden darf.

Statt den bestehenden, günstigen Wohnraum zu schützen und durch neue städtebauliche Vorschläge zusätzlichen Wohnraum zu schaffen, ist eine bedauerliche Situation entstanden: Die Genossenschaften wurden dazu ermutigt, die schönsten Siedlungen der Stadt abzureissen, nur um etwas mehr Wohnraum zu schaffen.

«Wenn es nach uns ginge, bestünde halb Zürich aus genossenschaftlichen Wohnungen.»

Martin Rathgeb, Mitglied der IG «Seebahn-Höfe retten»

Es gibt aber bereits einen Entscheid des Zürcher Verwaltungsgerichts gegen den Heimatschutz. Dieser stellt fest, dass es rechtens war, die beiden Kolonien «Kanzlei» und «Seebahn» aus dem Inventar für schützenswerte Bauten zu entlassen. Können Sie das nicht akzeptieren?

Rathgeb: Noch sind die Bauten geschützt, denn der Entscheid des Gerichts ist suspensiv – greift also erst, wenn ein konkretes Baugesuch bewilligt wird. Bis dahin ist es noch ein langer Weg: Bewilligt der Kanton den Gestaltungsplan, muss er danach noch das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder (ISOS) prüfen.

Selbst Rolf Werner Wirtz, Projektleiter der BEP, zweifelt daran, dass der Kanton die Bauten aus dem ISOS entlässt. Das hat er in einem Schreiben an die Genossenschaftler:innen kundgetan.

Habe ich das richtig verstanden: Auch wenn der Gestaltungsplan Ende November vom Stimmvolk angenommen wird, ist unklar, ob der Ersatzneubau umgesetzt werden kann?

Diggelmann: Bei ISOS ist viel in Bewegung, weshalb es schwierig ist, konkrete Antworten zum Prozess zu formulieren. Klar ist: Der Bundesrat hat Ende September angekündigt, die Verordnungen anzupassen und den Wohnungsbau zu erleichtern. Zudem ist seit neustem die Stadt zuständig für die Erstbeurteilung von ISOS, was für uns ein Vorteil sein könnte, denn mit ihr haben wir den Gestaltungsplan erarbeitet. Doch es ist nicht die einzige Hürde, die der Neubau nach der Abstimmung noch nehmen muss.

Sie sprechen von Rekursen? 

Diggelmann: Genau. Natürlich hoffen wir, dass sich die Verzögerungen in Grenzen halten werden. Aber ob wir 2030 wirklich wie geplant mit dem Bezug starten können, weiss niemand. Mit jedem Jahr, das ins Land zieht, wachsen die Kosten. 10 Millionen Franken wurden bereits für das Projekt investiert – deutlich mehr als ursprünglich vorgesehen. Könnte es nicht umgesetzt werden, müssten wir von Feld eins starten. Das hätte auch Auswirkungen auf die Mietzinse.

Seebahn-Höfe
Am 30. November entscheidet die Stadtzürcher Stimmbevölkerung über das Neubau-Projekt «Seebahn-Höfe». (Bild: PD)

Die wahren Verlierer:innen wären also die künftige Bewohnerschaft?

Diggelmann: Als gemeinnützige Wohnbauträger sind wir zwar nicht profitorientiert, dennoch können wir nicht mehr ausgeben als einnehmen. Gemäss aktuellen Berechnungen wird eine 4.5-Zimmer-Wohnung im Ersatzneubau 1850 Franken pro Monat inklusive Nebenkosten kosten.

Aber wenn wir gezwungen werden, nochmals 20 Jahre zu warten und neu zu planen, müssen wir die ganzen Planungskosten auf sanierte, wahrscheinlich denkmalgeschützte Wohnungen umlegen. Am Ende kostet die Miete pro Quadratmeter Wohnfläche mehr als im Neubau – und die Wohnqualität bleibt bescheiden.

Ist das in Ihrem Sinn, Herr Rathgeb?

Rathgeb: Es ist schade, dass dieses Argument im Abstimmungskampf eingesetzt werden muss. Wenn es nach uns ginge, bestünde halb Zürich aus genossenschaftlichen Wohnungen. Doch ist auch die Tabula-Rasa-Strategie nicht mehr zeitgemäss; darüber sind sich Fachpersonen aus der Architektur und Stadtplanung mittlerweile einig. Deshalb muss auch das Projekt «Seebahn-Höfe» neu beurteilt werden – nach Kriterien, die dem aktuellen Stand der Forschung entsprechen.

Diggelmann: Das tut es. Die Pläne wurden seit ihrem Bestehen mehrmals überarbeitet. So wird die Tiefgarage beispielsweise nur noch einstöckig statt zweistöckig, dafür wird es mehr Platz für Velos geben. Auch der Wohnungsmix ist diverser geworden. Ich bin mir sicher, dass eine Neubeurteilung zum gleichen Ergebnis führen würde.

2030 könnten die Seebahn-Höfe ihren hundertsten Geburtstag feiern. Herr Rathgeb, glauben Sie, die alten Bauten werden dieses Jubiläum erleben?

Rathgeb: Wir sind sehr zuversichtlich, dass die Seebahn-Höfe in 100 Jahren noch stehen werden. Während unserer Unterschriftensammlung haben viele Menschen ihren Unmut gegenüber Ersatzneubauten kundgetan. In der Gesellschaft findet gerade ein wichtiges Umdenken statt. Die städtische Stimmbevölkerung wird hoffentlich erkennen, wie wertvoll die alten Bauten für Zürich sind. 

Frau Diggelmann, glauben Sie, dass der Gestaltungsplan an der Urne eine Mehrheit findet?

Diggelmann: Es ist relevant, wer einen Ersatzneubau plant. Bauprojekte von gemeinnützigen Wohnbauträgern haben bei der Stimmbevölkerung einen guten Stand. So wurde beispielsweise der Ersatzneubau Salzweg, den die Stadt realisieren wird, vergangenen Mai mit fast 80 Prozent deutlich angenommen. Ausserdem steht sowohl der Stadtrat als auch der Gemeinderat klar hinter unserem Projekt. Diese Ausgangslage spricht für den Ersatzneubau.

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isabel

Ausbildung zur tiermedizinischen Praxisassistentin bei der Tierklinik Obergrund Luzern. Danach zweiter Bildungsweg via Kommunikationsstudium an der ZHAW. Praktikum bei Tsüri.ch 2019, dabei das Herz an den Lokaljournalismus verloren und in Zürich geblieben. Seit Anfang 2025 in der Rolle als Redaktionsleiterin. Zudem Teilzeit im Sozialmarketing bei Interprise angestellt.  

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