Ohne Geld im reichen Zürich: Wie Corona Armut sichtbar macht
Armut in Zürich ist kein Randphänomen, das hat die Corona-Krise bereits früh deutlich gemacht. Trotzdem zeichnet sich in der Sozialhilfe-Statistik noch kein klares Bild zu den steigenden Zahlen ab. Warum ist das so und wie lebt es sich in Zürich als Armutsbetroffene*r? Eine Spurensuche zu einem Thema, über das niemand gerne spricht.
«Armut zwingt dich in die merkwürdigsten Situationen, von denen du nie geglaubt hast, dass es sie überhaupt gibt.» Paul* trägt einen grauen Hoodie, der seine blauen Augen farbloser aussehen lässt als sie in Wirklichkeit sind. Er wirkt müde, doch wenn er spricht, gestikuliert er lebhaft. Das Thema Armut treibt ihn um, und lässt ihn oft verzweifeln. Der 50-Jährige ist einer von fast 15'000 Armutsbetroffenen in der Stadt Zürich. Seit nun fast vier Jahren lebt Paul ausschliesslich von der Sozialhilfe, dem letzten sozialen Auffangnetz des Staates, wie es auch genannt wird. Es sei ein langer Weg gewesen, bis er mit dem aufgezwungenen Stempel Frieden geschlossen habe, sagt er. Obwohl seine eigene kleine Tragödie bereits früh geschrieben wurde.
Unabhängigkeit als oberstes Gebot
Paul geht offen mit seiner Situation als Sozialhilfeempfänger um. Der Grund, dass er nicht öffentlich bei seinem richtigen Namen genannt werden möchte, hat vielmehr mit seiner Vergangenheit als mit der Gegenwart zu tun. Aufgewachsen in einem Elternhaus, in dem kein grosser Wert auf eine gute Ausbildung gelegt wurde, versucht sich der junge Zürcher nach einer Lehre im Detailhandel in der Selbstständigkeit. Die Voraussetzungen dafür könnten nicht besser sein; im Gegensatz zu heute floriert die Wirtschaft Ende der 90er. Paul fasst in der Kommunikationsbranche schnell Fuss, hangelt sich von Auftrag zu Auftrag und verdient in guten Zeiten laut eigenen Aussagen bis zu 10'000 Franken im Monat. Trotzdem habe es für Luxus nicht gereicht: «Was übrig blieb, ging für Party und gutes Essen drauf», erinnert er sich. Heute kann er sich solche ‹Spässe› nicht mehr erlauben: 991 Franken stehen ihm monatlich zur Verfügung. Dieser Betrag sieht die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe, kurz SKOS, für Einzelpersonen als Grundbedarf vor.
Betroffene haben nicht nur zu wenig Geld zur Verfügung, sondern leben oft auch in prekären Verhältnissen.
Carlo Knöpfel, Armutsexperte
Wenig Geld zu haben, sei aber nicht das einzig Unangenehme am Arm sein: «Ich bin es leid, mich ständig erklären zu müssen. Und das muss man als Armutsbetroffener oft. Viele Menschen, die normalverdienend sind, können nicht nachvollziehen, wieso ich nicht mit ihnen in eine Bar oder auf einen Ausflug in die Berge mitkomme», so Paul. Das Verständnis, wie schwierig ein Leben mit so wenig Einkommen ist, würde nur selten aufgebracht werden. Ein Dilemma. Denn sich von jemandem einladen zu lassen, verstärke die negativen Aspekte gar: «Plötzlich steht man in einer ungewollten Abhängigkeit.» Etwas, das der ehemalige Freelancer mit aller Macht versucht zu vermeiden. Unabhängigkeit ist ihm wichtig – zumindest dort, wo es irgendwie geht. Die Rückseite der Medaille ist derweil weniger glänzend: «Viele Kontakte zu Bekannten und Freund*innen wurden abgebrochen oder fransten aus; weil wir nicht mehr dieselben Interessen pflegten respektive pflegen konnten.» Paul erfährt am eigenen Leib, was Expert*innen immer wieder beobachten. Nämlich, dass Armut auch einsam machen kann.
Ein Netz mit Löchern
Die drohende Einsamkeit sei aber nur eine von ganz unterschiedlichen Dimensionen, unter welchen Armutsbetroffene leiden würden, sagt Carlo Knöpfel. Der studierte Wirtschaftswissenschaftler beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Armut und war in seinen 19 Jahren bei Caritas Schweiz unter anderem auch als Mitglied in der Geschäftsleitung für die Inlandarbeit zuständig. Er weiss, dass es vielen so geht wie Paul: «Betroffene haben nicht nur zu wenig Geld zur Verfügung, sondern leben oft auch in prekären Verhältnissen.» Damit meint Knöpfel diese «merkwürdigen Situationen», wie Paul sie nennt; dass man nicht einfach in eine bessere Wohnung umziehen kann, wenn es in der jetzigen zu Problemen kommt oder einen Job annehmen muss, der einem nicht gefällt. Gerade letzteres sei keine Ausnahme, sondern die Regel, so der Armutsexperte: «Viele Armutsbetroffene haben eine ungenügende oder niedrigqualifizierte Berufsausbildung und somit schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Oder sie arbeiten bereits in instabilen Arbeitsverhältnissen.»
Die Corona-Krise habe sichtbar gemacht, was sonst unter dem Radar fliegt: In der Schweiz leiden deutlich mehr Menschen unter Armut als die Statistik aufzuzeigen vermag. Gemäss dem aktuellsten Sozialbericht des Kantons Zürich waren im Jahr 2019 rund 107’133 Menschen abhängig von bedarfsabhängigen Sozialleistungen – diese würden in den kommenden Monaten tendenziell steigen, steht im Bericht. Bis jetzt seien die Sozialhilfezahlen, zumindest gesamtschweizerisch, aber noch stabil, so Knöpfel. Wie kann das sein? Laut dem Professor für Sozialpolitik sind diese Zahlen mit Vorsicht zu geniessen. Denn: «Viele Armutsbetroffene haben entweder keinen Anspruch auf staatliche Leistungen wie Prämienverbilligung und Sozialhilfebeiträge oder sie befürchten, ihren Aufenthaltsstatus zu gefährden, wenn sie solche Leistungen beziehen.» Die Rede ist von Sans-Papiers und Menschen mit einer Jahresaufenthaltsbewilligung; sie trifft es besonders hart, wie Bilder vor Essensausgaben in Zürich oder Genf eindrücklich zeigen.
(Inter-)Nationale Verantwortung
Das Problem sieht Knöpfel, wie auch der Zürcher Sozialvorsteher Raphael Golta, in der Migrationspolitik des Bundes. Er gibt sich mehr als nur enttäuscht darüber, dass in Zeiten der Krise keine Massnahmen gegen die restriktive Ausschaffungspolitik ergriffen wurden: «Es ist scharf zu kritisieren, dass der Bund die Regelung darüber, dass Menschen, die Sozialleistungen beziehen, ihren Aufenthaltsstatus riskieren, nicht ausgeschaltet hat.» Zwar hätte es bereits im ersten Lockdown Kantone und Gemeinden gegeben, die unbürokratisch handelten und Nothilfegelder an Hilfswerke überwiesen hatten, so ganz unproblematisch sei diese Praxis allerdings nicht, sagt Knöpfel. Zumal es gesetzlich nicht erlaubt ist, öffentliche Gelder an Sans-Papiers auszuzahlen. Vielen Verantwortlichen schien dies jedoch zweitrangig zu sein; zu gross war der Druck aus Zivilbevölkerung und Politik. Auch der Kanton Zürich sprach im April vergangenen Jahres den Maximalbetrag von Nothilfegeldern in der Höhe von 870'000 Franken aus. Eine richtige und wichtige Entscheidung, findet Knöpfel. Er vermutet aber, dass die Konsequenzen post-Corona spürbar werden. Momentan scheint der Bund beide Augen zuzudrücken, wenn es um die Ausschaffung illegal migrierter Personen geht.
Ohne Diplom bist du auf dem Schweizer Arbeitsmarkt nichts wert – egal, wie gross dein Pool an Erfahrungen ist und wie gut deine Fähigkeiten sind.
Silvia, Armutsbetroffene
Dabei habe die Schweiz auch eine internationale Verantwortung, betont der Armutsexperte. Viele Menschen, die vor Corona bereits in prekären Arbeitsverhältnissen oder Tieflohnbranchen tätig waren, schickten sogenannte Remittances in ihre Heimatländer, um Familienangehörige oder Freund*innen finanziell zu unterstützen. Würden diese Gelder ausfallen, bekämen das auch die Empfänger*innen im Ausland und deren Wirtschaftssystem zu spüren. «Ein Dominoeffekt, der kaum aufzuhalten ist», sagt Knöpfel. Für ihn grenze der Umgang mit migrierten Arbeitnehmenden an Ausbeutung: «Wie sagte Max Frisch? Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen. Und gegenüber diesen Menschen haben wir eine Verantwortung zu tragen.» Der Arbeitsmarkt ist laut Knöpfel ein entscheidender Hebel im Kampf gegen Armut – im Ausland, aber auch in der Schweiz.
Wenn das Diplom fehlt
Während die Zukunft der einen abhängig von der bundesweiten Migrationspolitik ist, bangen andere noch um ihren Job oder haben diesen bereits verloren. Wie schwierig es sein kann, ohne Abschluss eine neue Anstellung zu finden, weiss auch Silvia*. «Ohne Diplom bist du auf dem Schweizer Arbeitsmarkt nichts wert – egal, wie gross dein Pool an Erfahrungen ist und wie gut deine Fähigkeiten sind.» Die 50-Jährige wirkt taff, sprüht vor Energie. In ihren Wortschatz schleichen sich einige Anglizismen ein; ein Überbleibsel aus ihrer Zeit in den USA. Mit 23 wandert die Zürcherin nach Amerika aus, lebt zusammen mit ihrem Mann mehrere Jahre im Land der scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten. Sie arbeitet teilzeit und beginnt nebenbei ein Psychologiestudium, bis das Geld ausgeht. Das Studium wird sie nie abschliessen können. Mitte der 90er-Jahren kommt das Paar zurück in die Schweiz – kurz darauf wird Silvia schwanger. Das Glück steht auf ihrer Seite: Dank einer Freundin findet die damals 29-jährige eine Festanstellung, verdient mehrere Jahre gutes Geld und wird ein zweites Mal Mutter. Sie kündigt und findet trotz fehlender Ausbildung ihren Traumjob in einem sozialen Betrieb. Viele Jahre wird sie dort arbeiten, sich glücklich schätzen. Bis zum Tag der Trennung von ihrem Mann.
Ich bin dankbar dafür, dieser Maschinerie, in die ich offenbar nicht passe, irgendwie entkommen zu sein.
Paul, Armutsbetroffener
«Das hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Die psychische Belastung nicht mit an den Arbeitsplatz zu nehmen, war schier unmöglich», sagt Silvia. Mit der Kündigung seitens des Arbeitgebers kommt der Tiefpunkt. Auf einen Schlag war sie alleinerziehend und stark armutsgefährdet. Ohne die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern wäre sie längst in der Sozialhilfe. Das war 2018. Seither kämpft die zweifache Mutter dafür, eine Ausbildung absolvieren zu können. Doch die Stellensuche gestaltet sich schwierig, obwohl die Branche, in der sie eine Anstellung sucht, nur wenig von der Corona-Krise betroffen ist. «Es ist sehr zermürbend, wenn du immer wieder aus demselben Grund Absage um Absage bekommst.» Wieso nicht einfach aufgeben? Nein, das sei nicht ihre Art, betont Silvia. Ihre Hartnäckigkeit habe sie noch immer ans Ziel gebracht. Doch das Geld bleibe auch weiterhin knapp. Für den Umgang mit Menschen wie sie, findet Silvia klare Worte: «Der Druck auf uns Armutsbetroffene seitens des Kantons oder der Gemeinde ist enorm hoch. Ich verstehe nicht, wieso es einem so ungemütlich gemacht wird, schliesslich wollen wir ja arbeiten. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, sich selbstwirksam am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen.»
Auch Paul kennt die Problematik auf dem Arbeitsmarkt nur zu gut.Nach der Wirtschaftskrise 2008 und der darauffolgenden Kündigung durch seinen damaligen Arbeitgeber hielt er sich mit verschiedenen Teilzeitjobs über Wasser. Bis die Quittung kam und ihm ein Burnout den Boden unter den Füssen weggezogen hat. Noch während seiner Genesung kämpft er sich mit wenigen Stellenprozenten durchs Leben und sucht, unterstützt durch das Sozialamt, nahezu acht Jahre lang nach einer geeigneten Stelle – erfolglos. Im Herbst vergangenen Jahres konnte er schliesslich einen Schlussstrich ziehen: Zusammen mit seinem Sozialberater entschied er sich dafür, die Jobsuche zu beenden. Seither gehe es ihm mental deutlich besser: «Ich bin dankbar dafür, meinen Alltag ohne dieses ‹Scheitern am Arbeitsmarkt› selber gestalten zu können. Und ich bin dankbar dafür, dieser Maschinerie, in die ich offenbar nicht passe, irgendwie entkommen zu sein.» Manchmal sei es auch ein Privileg, nicht dazu zu gehören.
*Namen der Redaktion bekannt.
Dieser Artikel wurde automatisch in das neue CMS von Tsri.ch migriert. Wenn du Fehler bemerkst, darfst du diese sehr gerne unserem Computerflüsterer melden.