Leerkündigung in Baugenossenschaft

Wer in einer Genossenschaftswohnung lebt, hat Glück. Niemand muss Angst haben, plötzlich die Kündigung zu erhalten. Allerdings ist Genossenschaft nicht gleich Genossenschaft – das müssen die Bewohner:innen eines Hochhauses in Zürich-Affoltern derzeit erfahren: Die Besitzerin kündigt allen und stellt sogar 90-Jährige auf die Strasse. Der Präsident verhält sich wie ein Sonnenkönig, der städtische Delegierte schweigt.

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Alle Mieter:innen dieses Hauses müssen ausziehen. (Bild: Reto Schlatter)

Text: Esther Banz

Es sind Sätze, die man eher in einem schlechten Roman vermuten würde als in einem Kündigungsschreiben. Aber so leitet die Baugenossenschaft Turicum die Nachricht ein, die sie ihren Mieter:innen der Lerchenhalde am 21. Juni 2021 schickt: «Die kühlen Tage sind vorbei und der Sommer hat begonnen. Die Zeit schreitet unerbittlich fort.» Einer fiktiven Geschichte ähnlich ist auch das, was folgt: Man müsse, «so leid es uns tut», das neunstöckige Wohnhaus abbrechen.

  • Das Kündigungsschreiben im Wortlaut (Bild: zvg)

  • Das Kündigungsschreiben im Wortlaut (Bild: zvg)

Die Lerchenhalde 20 wurde 1973 speziell für ältere Menschen gebaut. Heute leben viele Student:innen in dem Haus, aber auch noch immer der 91-jährige Max, seit seine Frau gestorben ist alleine. Die Spitex, Familienmitglieder, auch die Nachbarinnen Franco und Franziska kümmern sich liebevoll um ihn. Oder Elfriede, 90. Sie fährt noch Auto, raucht, lacht viel, liebt ihre vom Grün vor ihren Fenstern durchdrungene Wohnung. Oder Viktor, 74, schwer und schwer hustend, ein Spruch hier, ein Zwinkern dort, seine Wohnung ist sein Biotop. Auch Erika und Albert, 90 und 91. Beide noch zackig zu Fuss unterwegs, ihren Arzt haben sie ebenso im Quartier, in dem sie schon 60 Jahre leben, wie den Hausarzt. Auch die Tochter wohnt ganz nah. Die bereits erwähnten Franziska und Franco sind auch beide im Pensionsalter. Sie sind um den Zusammenhalt im Haus besorgt.

Im Frühjahr 2022 müssen alle Wohnungen geräumt sein, schreibt der Präsident der Genossenschaft, Urs Frei, in der Kündigung. Er und seine fünf Vorstandskollegen (alles Männer) wollen 48 schöne und günstige Wohnungen zu Bauschrott machen, so schnell als möglich. Für die Menschen, die dort leben, teils seit Jahrzehnten schon, verspricht er, «ein Plätzli» zu finden. Die Wortwahl verheimlicht nicht, wie der Albisrieder Fenster- und Immobilienunternehmer langjährige Mieter:innen sieht, die Monat für Monat pünktlich den Mietzins überweisen: Als Objekte, die umplatziert werden müssen.

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Franziska Kümin und Franco Schneeberger sorgen sich um die Nachbarschaft. (Bild: Reto Schlatter)

Diese Geschichte kennt man, im Prinzip. Sogenannte «Leerkündigungen» kommen in der Stadt und im Kanton Zürich immer häufiger vor. In der Regel sind es Pensionskassen, Fonds, Banken sowie andere gewinnorientierte Grossbesitzer von Immobilien, die ganze Mehrfamilienhäuser und manchmal sogar Siedlungen leerkündigen – in der Immobilienbranche ist neuerdings von «entmieten» die Rede, die Weiterbildung «immocare» soll Bewirtschafter:innen für den Gang an die «Front», sprich ins Wohnzimmer der zu vertreibenden Mieterinnen und Mieter, fit machen. Dann wird saniert oder abgerissen und neu gebaut. Die danach zum Angebot stehenden Wohnungen sind um ein Vielfaches teurer, denn es geht in erster Linie darum, bei den Mieteinnahmen möglichst viel Rendite abzuschöpfen. Die bisherigen Mieter:innen will man nicht zurück.

Grosse Immobilienbesitzer gehen so vor – nicht aber Wohnbaugenossenschaften. Im Gegenteil: Den Menschen und der sozialen Nachhaltigkeit verpflichtet, zeigen gerade sie, wie es auch anders geht, verantwortungsvoll: mit stetem Instandhalten der Immobilien, mit sanften Sanierungen und wenn ein Neubau doch sein muss, dann ist das ein Mehrjahres-Projekt in Etappen, so dass alle, die das wollen, in der Siedlung bleiben können. Die BG Turicum ist aber keine Wohnbaugenossenschaft, in der die Mieterinnen und Mieter selber Genossenschaftsmitglied sind und mitentscheiden können, wie grosse Projekte realisiert werden; auch solche Genossenschaften gibt es, man nennt sie im Volksmund «Bauherrengenossenschafen». Die BG Turicum gehört Gewerbebetrieben, KMU oder deren Pensionskassen, Versicherern, einer Bank – und nebst weiteren der Stadt Zürich. Die Stadt hält sogar den grössten Anteil am Genossenschaftskapital. Deshalb sitzt mit dem im Hochbaudepartement angestellten Kreisarchitekten Marcin Krolik auch ein Delegierter der Stadt im Vorstand.

Weil die Stadt die soziale Nachhaltigkeit beim Wohnen gross schreibt, darf erwartet werden, dass ihre Stimme Gewicht hat in der BG Turicum mit ihren 447 Wohnungen, davon die meisten in Zürich – gerade bei Bauprojekten, die für bestehende Mieter:innen Veränderungen bedeuten. Aber niemand ausser der sechs Vorstandsmitglieder weiss, wie Entscheide zustande kommen. Die Kommunikation der BG Turicum ist nicht mit der von Mieter:innen-Genossenschaften vergleichbar: man lässt die Mieter:innen nur das Nötigste wissen. Zwar informierte die BG Turicum schon 2019 über die Abrisspläne, aber seither leben die Menschen der Lerchenhalde 20 in Ungewissheit. Einzig, dass sie noch «bis mindestens Mitte 2022» in Ihrer Wohnung bleiben können, schien sicher. Und jetzt der Schock: die Kündigung per September 2021. Die Unsicherheit haben viele nicht ausgehalten. Manche fanden etwas einigermassen Akzeptables und zogen bereits aus. Einige von ihnen sind bei der benachbarten Mieter:innengenossenschaft Hagenbrünneli untergekommen, die aber keine altersgerechten Wohnungen im Angebot hat. Andere sind in andere Siedlungen der Baugenossenschaft Hagenbrünneli oder in Objekte umgezogen, die von der externen Verwaltung angeboten wurden, die die BG Turicum engagiert hat. Aber gerade die Ältesten können nicht einfach ihre Sachen packen und gehen.

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Viktor Bürki wehrt sich gegen die unangemessen kurze Kündigungsfrist. (Bild: Reto Schlatter)

Es hätte auch ganz anders laufen können, die Voraussetzungen für etappiertes Bauen wären ideal gewesen. Denn die BG Turicum schloss sich für das Projekt mit der benachbarten BG Hagenbrünneli zusammen, die dadurch auf dem angrenzenden Areal ihrerseits grosszügig neu bauen kann (man spricht von Arealbonus, er erlaubt eine höhere Ausnützung) – und nicht nur das: Die BG Hagenbrünneli baut just auf dem Gebiet Wohnungen für Menschen über 60. Die älteren und am Ort tief verwurzelten Mieter:innen der BG Turicum hätten zusammen mit den älteren Mieter:innen der BG Hagenbrünneli hier in einer barrierefreien Wohnung selbstbestimmt weiter leben können.

Man hätte einfach an die Menschen denken müssen – aber Max, Franziska, Elfriede, Viktor und all die andern Mieterinnen und Mieter haben nicht nur kein Recht auf Mitbestimmung, wie dies bei Wohnbaugenossenschaften sonst üblich ist – die BG Turicum entschied sogar, ohne ihre Mieter:innen je angehört zu haben. Ja, sie gingen im Turicum-Vorstand, den Urs Frei präsidiert, offenbar vergessen. Trotzdem spricht Urs Frei in dem im März 2021 geführten Interview von einem «Abwägen» beim Entscheid, das neunstöckige Wohnhaus den Baggern zu überlassen. Als ob die Stimme der Betroffenen ein Gewicht gehabt hätten. Aber: das Projekt kann immer noch angepasst werden, es ist noch nicht zu spät.

Drei allgemeingültige Erkenntnisse aus der Kündigung, die die BG Turicum Viktor, Franco, Elfriede und allen weiteren, die dort leben, geschickt hat:

1. Der fiktionale Einstieg. Wenn eine Kündigung mit dem Ende kühler Tage und einer unerbittlich fortschreitenden Zeit beginnt, darf man den leisen Verdacht schöpfen, dass der eigentliche Grund der Kündigung genauso gesucht ist wie die Worte, die sie einleiten.

2. Die Begründung will aufmerksam gelesen sein. Die BG Turicum rechtfertigt ihre Abrisspläne in Zürich-Affoltern noch immer mit den Verdichtungszielen der Stadt. Gut möglich, dass Turicum-Präsident Urs Frei – und mit ihm viele weitere – davon ausgehen, Antworten des Stadtrats auf parlamentarische Anfragen würden nicht gelesen. Aber diese Annahme wäre falsch. (Merke: Antworten auf parlamentarische Anfragen sind oft ein Fundus!) Man lernt im vorliegenden Fall beispielsweise, dass die Stadt nicht flächendeckend verdichtet werden soll. Da wo die Lerchenhalde 20 steht beispielsweise nicht. Ferner: Jede Kündigung muss auf dem amtlichen Formular des Kantons und eingeschrieben erfolgen.

Der Kündigungsgrund muss dort offiziell begründet werden. Die BG Turicum verweist in der Kündigung auf den Brief aus 2019 – und dort steht, die Bewohner:innen könnten bis «mindestens bis Mitte 2022» bleiben. In dem Schreiben steht auch, als quasi wichtigster Grund für den Abriss, die ETH Hönggerberg kappe den Fernwärmeanschluss und deshalb «müssten wir eine neue Heizanlage errichten.» Aber auch das hat sich längst erübrigt, die BG Turicum weiss seit 2019, dass die Lerchenhalde weiterhin mit Wärme von der ETH-Heizung versorgt werden kann. Eine Verschiebung des Bauprojekts wäre also problemlos möglich.

  • Dokumente beweisen: Eine Verschiebung wäre möglich gewesen (Bild: zvg)

  • Dokumente beweisen: Eine Verschiebung wäre möglich gewesen (Bild: zvg)

3. Achtung vor irreführenden Rechtsbelehrungen! Die BG Turicum behauptet in der Kündigung: «Aus rechtlichen Gründen sind wir gezwungen, wie folgt vorzugehen». Konkret gewähren sie nur eine dreimonatige Kündigungsfrist auf Ende September 2021, schreiben aber noch: «Wir räumen Ihnen aber das Recht ein, mit uns eine Erstreckung des Mietverhältnisses bis maximal Ende März 2022 zu vereinbaren.» Was für ein Recht soll das sein? Das Recht der Mieter:innen ist, die Kündigung innert dreissig Tagen anzufechten.

Laut Mieterverbands-Vertrauensanwalt Peter Zahradnik, der immer wieder ältere Menschen in Kündigungsprozessen juristisch begleitet, sollte in Härtesituationen eine Kündigungsfrist von mindestens 12 Monaten eingehalten werden. Drei Monate seien viel zu kurz, sagt Zahradnik: «Mit dem „Zückerli“ der Erstreckung wollen sie die Mieter wohl davon abhalten, die Kündigung anzufechten. Dieses Angebot ist irreführend und nicht in Ordnung.» Auch MV-Rechtsberater Daniel Decurtins warnt davor, solche Angebote anzunehmen: «Was sie nicht sagen, ist: Mit Annahme eines solchen „Angebots“ anerkennt man die Kündigung voll und ganz. Und damit eine erfahrungsgemäss zumeist unangemessen kurze Erstreckungsfrist.» Bei mehreren Härtegründen dürfe man je nach Beurteilung des Richters/der Richterin mit einem bis zwei Jahren Erstreckung rechnen.

Baugenossenschafts-Präsident Urs Frei schliesst das Kündigungsschreiben mit dem Satz: «Wir hoffen, dass Sie verstehen, dass wir einen Schlusspunkt setzen müssen, damit das Neue das Alte ersetzen kann.» Die Menschen sollen also auch noch Verständnis aufbringen – für den Abbruch ihres geliebten Hauses und dafür, dass sie mit fadenscheinigen Argumenten vertrieben werden.

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