Mittelverdiener: «Ich würde gerne mit Geld um mich schmeissen und es an Bedürftige verteilen»

7832 Franken betrug der mittlere Lohn in der Stadt Zürich im Jahr 2018; viele verdienen mehr oder auch weniger als das. Wie lebt es sich in der teuersten Stadt der Welt als Niedrig-, Mittel- und Hochverdiener*in? Wir haben nachgefragt. Teil 2: Raoul Meier.

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Raoul Meier spricht mit uns über Geld. Denn er findet es wichtig, dass die Lohnfrage nicht länger ein Tabuthema bleibt. (Foto: Elio Donauer)

«In meiner Familie wurde schon immer offen über das Thema Geld gesprochen», sagt Raoul Meier. Der 58-Jährige hat deshalb kein Problem damit, sein Einkommen preiszugeben – im Gegenteil, er findet es wichtig, dass die Lohnfrage nicht länger ein Tabuthema bleibt. Mit durchschnittlich 8000 Franken Nettolohn verdient der hauptberufliche Cutter und Editor etwas mehr als der Stadtzürcher Median. Doch Geld sei immer zweitrangig gewesen: Meier bezeichnet seinen Job als seine Berufung. Das Freelancer-Leben biete ihm viele Möglichkeiten, sagt er. Trotzdem habe die Selbstständigkeit so seine Tücken: «Mein Arbeitspensum variiert je nach Buchungen und Auftragslage. Wenn ich krank bin, verdiene ich nichts und auch auf einen 13. Monatslohn muss ich verzichten.» Und trotzdem; das Geld habe bis jetzt immer gereicht. Ob er sich Sorgen um die Zukunft mache? «Nicht wirklich.» Obwohl der Vater einer Tochter nur eine kleine Pensionskasse und keine dritte Säule hat. Er lebe zu sehr im Moment, gönne sich und seiner Familie auch gerne mal etwas.

Kunstschaffende hören nicht einfach auf, Kunst zu machen – auch nicht, wenn sie wirtschaftlich gesehen nicht mehr müssten.

Raoul Meier, Cutter und Editor

Meiers Umgang mit Geld sei stark von seinem Vater geprägt: Dieser gründete in den frühen 60er-Jahren einen eigenen Betrieb, arbeitete viel, genoss aber auch die Vorzüge des Mittelstands; ging mit seiner Familie in die Ski-Ferien oder auf den Tennisplatz. Auch Meier selbst verstand schon früh: Ohne Fleiss, kein Preis. Und so erledigte er bereits als Jugendlicher während seiner Ausbildung an der F+F, der Zürcher Schule für Kunst und Design, diverse Nebenjobs. Fasziniert von der Filmerei, hatte der Zürcher Ende der 80er-Jahren bei Freunden aus der Videobranche die Gelegenheit zur Mitarbeit. Er lehrte den Umgang mit der Kamera quasi selbst und fand schliesslich grossen Gefallen am Storytelling. Dass er sich in der Medienbranche etablieren konnte, habe er einigen glücklichen Zufällen zu verdanken, sagt Meier. Seinen Beruf wird der Geschichtenerzähler wohl noch lange ausüben; vermutlich weit über das Pensionsalter hinaus. Allerdings nicht nur des Geldes wegen: «Kunstschaffende hören nicht einfach auf, Kunst zu machen – auch nicht, wenn sie wirtschaftlich gesehen nicht mehr müssten.»

Tsüri.ch: Was ist das Teuerste, das du dir bislang geleistet hast?

Raoul Meier: Keine Ahnung. Früher mal ein Auto im Leasing, welches ich nach der Abzahlung kaputt gefahren habe, glaube ich. Deshalb fahre ich heute nur noch Occasion und mit dem öffentlichen Verkehr.

Wie viel Geld verdienst du pro Monat? (Netto)

Dadurch, dass ich zwischen 60 und 80 Prozent als Freelancer tätig bin, unterliegt mein monatliches Einkommen relativ grossen Schwankungen. Dies ist auch abhängig von den Aufträgen und wann diese verrechnet werden. Grössere Aufträge können sich über mehrere Monate hinziehen und ich verrechne erst nach Abschluss, und es gibt durchaus Monate, wo ich sehr wenig verdiene. Die monatlichen Einkommen schwanken zwischen 3000 und 14'000 Franken. Gemäss meinem Steuerausweis lag das durchschnittliche Einkommen in den letzten Jahren bei circa 8000 Franken pro Monat – war im letzten Corona-Jahr aber deutlich tiefer.

Wie gibst du es aus?

Hier ist meine familiäre Situation erwähnenswert: Als Familie leben wir zu dritt. Meine Frau arbeitet 50 Prozent bei der Spitex und unsere Tochter (20) arbeitet 80 Prozent und lebt noch bei uns. Wie die Meisten geben auch wir das Geld hauptsächlich für die Fixkosten des täglichen Lebens aus: Miete, Krankenkasse, Versicherungen, Lebensmittel, Auto, Abos. Aufgrund meines Berufs gibt es zudem ab und zu technisches Equipment, welches angeschafft werden muss. Unsere Steuern bezahle ich monatlich, prozentual gemäss dem Einkommen. So erlebe ich keine Überraschungen und die Steuern sind jederzeit beglichen. In den Ferien fahren wir zu Verwandten nach Süditalien und leben da natürlich günstig. (Ich bin kein Ferienmensch zum Leidwesen meiner lieben Frau.)

Meine Karre ist ein furchtbar günstiger Occasions-Mercedes und hält ewig. Wir kaufen ausschliesslich Bio, kompensieren zum Teil CO2, beziehen Ökostrom, unterstützen Menschen, denen es schlechter geht als uns; Spenden unterschiedlich, aber regelmässig. Ich persönlich bin kein grosser Rechner und gebe das Geld sehr gerne aus. Lade Freund*innen an Konzerte oder zum Essen und Trinken ein (wenn die Beizen offen sind). Ich liebe Kunst, besuche Museen und kaufe Bücher. Früher war ich viel und oft an Partys, dort habe ich jeweils ziemlich viel Geld ausgegeben. Das hat sich aber mittlerweile gelegt.

Wie hoch sind deine Fixkosten?

Durchschnittlich um die 6000 Franken.Vor Corona war es eher mehr.

Wie wohnst du und wie hoch ist dein Mietzins?

Wir leben in einem älteren, renovierten Reiheneinfamilienhaus – 4 Zimmer, auf 100 Quadratmeter – mit grossem Garten und inklusive Apfelbaum am Stadtrand von Zürich, in Schwamendingen. Bei der Wohnbaugenossenschaft bezahlen wir monatlich 2000 Franken inklusive zusätzlichem Lagerraum.

Hast du eine dritte Säule oder Investments?

Nein, das habe ich nicht. Zugegeben, bei der 3. Säule hätte ich früher handeln müssen.

Dieses Thema habe ich vernachlässigt, verdrängt. Und in meinem Alter lohnt sich das nicht mehr. Zudem brauche ich das Geld aus meinem Einkommen und mag nicht künstlich auf die Sparbremse treten. Das war nie mein Fokus. Von daher sehe ich manchmal etwas unsicher in die Zukunft von wegen «Leben im Alter». Ich möchte in Zürich bleiben und mich nicht in ein günstigeres Land vertreiben lassen. Schön wäre eine Alters-WG in Zürich und im Sommer manchmal Italien oder so. Mein Lebensstil hat mich jedenfalls nicht in den sicheren Hafen einer Lebensversicherung geführt.

Zum Spekulieren fehlt mir schlichtweg das Interesse, davon habe ich null Plan! Wenn ich freie Kohle zum Spielen hätte, würde ich wohl in Umwelt- und Nachhaltigkeitsprojekte investieren.

Ist die Gesundheit angeschlagen, nützt alles nichts. Es ist das wohl wichtigste Gut neben dem Lieben und geliebt werden.

Raoul Meier, Cutter und Editor

Was ist für dich Luxus?

Zunächst: Ohne einen gesunden Geist in einem gesunden Körper geht gar nichts.

Enorm wichtig ist auch, dass die Familie, Freund*innen und das Umfeld glücklich sind. Dass ich mein Leben so gestalten kann, wie ich es tue, empfinde ich als absoluten Luxus. Wie bereits erwähnt, lebe ich eigentlich nicht auf grossem Fuss. Solange ich mir keine Gedanken machen muss, wenn ich auswärts essen gehe oder mir diese Kleider kaufen kann, die ich möchte, empfinde ich das als Luxus. Ein eigenes Haus wäre eventuell schön gewesen, aber dafür hat es nicht gereicht.Wir sollten nicht vergessen: Schweizer*innen leben auf sehr grossem Fuss, bei aller Bescheidenheit.

Hättest du lieber mehr Zeit oder mehr Geld?

Beides! Über den abstrakten Begriff von «zu wenig Zeit» kann ich nicht klagen.

Die Selbstorganisation lässt mir da oberflächlich betrachtet freie Hand. Natürlich muss der Zaster ins Trockene. Es ist schon so, dass Jobs Priorität haben und den Rhythmus bestimmen. Als Selbständige*r hat man zumindest die Illusion, man könne über das kostbare Gut frei verfügen, was natürlich nur bedingt stimmt.

Und was das Geld angeht: Von Gier bin ich sicher nicht getrieben, aber etwas mehr Geld würde ich alleweil ertragen. Man kann so viel mehr tun damit, als sich sein kleines Gärtchen und das Schloss aufzuplustern. Die Möglichkeiten sind schier unbegrenzt. Aber: Ist die Gesundheit angeschlagen, nützt alles nichts. Es ist das wohl wichtigste Gut neben dem Lieben und geliebt werden.

Bist neidisch auf Menschen, die mehr Geld haben als du?

Nein, eigentlich nicht und ich mag es jedem Menschen gönnen, sofern er im Reinen ist damit. Aber zugegeben, nebst aller Bescheidenheit neigt mein kleiner, persönlicher Hedonismus schon zu überschwänglicher Verschwendung und dem Zelebrieren des Festes dieses zeitbeschränkten Lebens. Manchmal würde ich gerne mit Geld um mich schmeissen und es flächenmässig verteilen, an jene, welche es nötiger haben als ich. Zudem habe ich kein Problem damit mich selber zu verwöhnen.

Was sagst du zur Aussage, dass jede*r seines eigenen Glückes Schmied*in ist?

Das stimmt nur bedingt. Zudem ist Glück und Geld nicht unbedingt im gleichen Topf zu kochen. Wie gesagt, was nützt die Kohle bei gebrochenem Herzen oder lädiertem Leib?

Dass Fleiss, Geschick, Ausdauer und Geduld auch in finanziellen Belangen Blüte treiben können, ist unbestreitbar. Ich glaube aber, es braucht auch die herzhafte Leidenschaft für das eigene Tun und manchmal Glück im richtigen Moment und am richtigen Ort. Zudem braucht man Freund*innen und Menschen, welche an einen glauben und mittragen, unterstützen. Alleine schafft man es nicht!

Um meine persönliche Zukunft mache ich mir keine grossen Sorgen, auch wenn ich praktisch nichts auf der hohen Kante habe. Ich denke pragmatisch. Irgendwie kam es immer gut, auch ohne die hochgepriesenen Sicherheiten. Ich vertraue auf das Leben.

Raoul Meier, Cutter und Editor

Magst du deinen Job?

In den bald 30 Jahren, in denen ich ihn ausübe, habe ich ihn mit ganz wenigen Ausnahmen sehr gerne und leidenschaftlich ausgeübt. Das Arbeiten mit Bild und Ton, mit Aussagen, mit Text, Musik, in welchen Formaten auch immer, fasziniert mich noch heute. Man lernt sehr viel durch die Geschichten der Menschen oder derer Projekte. Zudem ist das kollegiale Umfeld in der Medienbranche sicher nicht das schlechteste. Alle sind sehr interessiert und engagiert. Zudem ist die Entlöhnung im durchschnittlich höheren Segment angesiedelt. Ich fühle mich privilegiert. Reich wird man aber trotzdem nicht.

Machst du dir aufgrund der Corona-Krise Sorgen um deine finanzielle Zukunft?

Nein, um meine persönliche Zukunft mache ich mir keine grossen Sorgen, auch wenn ich praktisch nichts auf der hohen Kante habe. Ich denke pragmatisch. Irgendwie kam es immer gut, auch ohne die hochgepriesenen Sicherheiten. Ich vertraue auf das Leben.

In der Schweiz leben wir in Verhältnissen, wovon andere nur träumen können. Unser Reichtum basiert aber nicht nur auf eigenem Geschaffenen. Wir sollten dafür Rechnung tragen und könnten mehr tun. Auch hier geht es nicht allen Menschen gut. Vor allem wünschte ich der Jugend die gleichen glorreichen Bedingungen, wie ich sie als Kind der 60er und 70er Jahre erleben durfte. Ich würde mir wünschen, es bliebe kein frommer Wunsch.

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