Zürichs Unorte – Teil 1 - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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16. August 2023 um 04:00

Zürichs Unorte: «Meine Beziehung zum Bellevue ist vergleichbar mit jener zu meiner Dentalhygienikerin»

Zürich kann ganz schön hässlich sein. Wir haben unsere liebsten Unorte in Szene gesetzt und in Worte gefasst. Die Bellevue, der Letzipark, die Sihlhochstrasse und das Werd-Hochhaus machen den Anfang.

«Zufrieden ist hier niemand wirklich», urteilt Seraina Manser über das Bellevue. (Foto: Jula Zwinggi)

Bellevue: Die totale Überforderung

Bellevue heisst schöne Aussicht. Ehrlich gesagt müsste dieser Knotenpunkt am See eher den Namen «surmenage total» (totale Überforderung) tragen. Zufrieden ist hier niemand wirklich – ausser vielleicht der Jüngling, der mit seinem heulenden Sportwagen nach Aufmerksamkeit heischend seine Runden dreht. Zu viele Akteur:innen kämpfen um den knappen Platz. Trams, Autos und Busse kreuzen sich hier. Velofahrer:innen, Jogger:innen, shoppende Tourist:innen, Banker:innen und Opernhausbesucher:innen hechten über den Valser Quarzit. Ein besonderes Schauspiel lässt sich im September beobachten. Während des Filmfestivals stöckeln die Stars vom grünen Teppich auf dem Sechseläutenplatz über die Tramgleise ins Kino Corso. Die VBZ zeigen sich unbeeindruckt und halten den getakteten Fahrplan ein: Wegen eines Johnny Depps zwei Minuten Verspätung einfahren, sicher nicht!

Meine Beziehung zum Bellevue ist vergleichbar mit jener zu meiner Dentalhygienikerin. Ich bin froh, wenn das Aufeinandertreffen vorbei ist und ich es unbeschadet überstanden habe.

Wie das Hickhack auf dem Bellevue zu retten wäre? Als einzige utopische Lösung sehe ich eine Verbannung des motorisierten Individualverkehrs. Vielleicht dann, wenn nur noch Trams, Busse und Velos über den Bellevue fahren, kann ich mich mit dem Platz anfreunden. Bis dahin bin ich froh, wenn ich ihn wie meine Dentalhygienikerin nur einmal im Jahr sehe.

Seraina Manser

Romantik: 0 von 5 Punkten (Ausser vielleicht 1 Punkt am 1. Mai, wenn der Platz für den motorisierten Verkehr gesperrt ist, kommt ein Hauch revolutionäre Romantik auf.)

Coolness-Faktor: -1 von 5 Punkten

Gut zu wissen: Der Name stammt vom ehemaligen Grandhotel Bellevue am Platz. Strenggenommen wird als Bellevue lediglich der Platz mit dem Wartehäuschen und dem Kiosk bezeichnet. Im Volksmund wird mit Bellevue aber oft das ganze Areal zwischen Rämistrasse, Theaterstrasse, Opernhaus und Utoquai – und somit auch der Sechseläutenplatz – gemeint. Auf dem Sechseläutenplatz liegen übrigens insgesamt 3500 Tonnen Valser Quarzstein. Damit hat Zürich den grössten Natursteinplatz Europas.

Elio Donauer ist der Meinung, dass die Blütezeit der Einkaufszentren vorbei ist. Dennoch stuft er den Letzipark mit seinen Palmen als cool ein. (Foto: Jula Zwinggi)

Letzipark: Rentiere und Palmen

Man kann die Agglo mögen oder nicht, worauf sich die meisten Menschen einigen können: Agglo-Einkaufszentren aus den 80-Jahren haben einen schwer zu ergründenden Reiz. Der Letzipark versprüht Agglo-Charme und das mitten in der Stadt. Eingebettet zwischen Hohlstrasse und der neuen Veloschnellroute auf der Baslerstrasse erzählt das Einkaufszentrum die Geschichte einer anderen Zeit. Alleine die 1500 Parkplätze sprechen Bände.

Als Landkind besuchten wir mit der Familie für Weihnachtseinkäufe einmal im Jahr das Mythen-Center in Schwyz. Erinnerungen daran flackern auf, wenn ich heute den Letzipark aufsuche. Unter den Plastikpalmen im steril gefliesten Foyer habe ich nebst einem überdimensionierten Werbesofa, künstlichen Rentieren oder einer Kindereisenbahn auch schon ein Alphornkonzert erlebt. Im Letzipark scheint die Zeit stehengeblieben zu sein.

Die Blütezeit der Einkaufszentren ist vorbei. Die Umsätze gehen kontinuierlich zurück. Sollte der Letzipark endgültig schliessen, könnte man daraus ein Museum machen. Stellt euch vor, wie unsere Nachfahr:innen in hundert Jahren hässliche Pfister-Möbel und Schmuck aus dem Claires als Artefakte einer anderen Zeit angucken könnten. Mir bleibt einzig ein Vorsatz für den nächsten Besuch: Ich möchte die Massagesessel ausprobieren.

Elio Donauer

Romantik: 2 von 5 Punkten

Coolness-Faktor: 4 von 5 Punkten

Gut zu wissen: Erbaut zwischen 1984 und 1987 gehört der Letzipark heute mit einem Umsatz von 321 Millionen (Stand 2014) zu den grössten Einkaufscentern der Schweiz. Rund 60 Geschäfte aus den Kategorien Bekleidung, Dienstleistung, Hobby & Freizeit, Schuhe, Warenhaus und Wohnen & Haushalt sind im Komplex vertreten.

Die Sihl floss noch nie auf Augenhöhe mit der Limmat, sagt Lara Blatter. (Foto: Jula Zwinggi)

Sihlhochstrasse: Das Ende eines dystopischen Romans

Würde ich Bücher schreiben, wäre das jener Ort, wo meine dystopische Science-Fiction-Geschichte ihr Ende finden würde und die Protagonist:innen über einen dreckigen Kanal hinfort ziehen würden. Ich stehe auf der Utobrücke und schaue flussaufwärts, über meinem Kopf hinweg sausen Autos. Es riecht nach Algen, ein kühler Wind weht und die Sihlhochstrasse stellt die Sihl in den Schatten. Aber das war wohl bei der Planung der Brücke egal, denn die Sihl floss noch nie auf Augenhöhe mit der Limmat. Denn auf ihr wird nicht geschwommen, es hat keine hippe Badi oder Bar. Die Sihl existiert quasi vor sich hin und bekommt höchstens auf der Höhe Allmend etwas Aufmerksamkeit von Vierbeinern. 

Die Brückenbauer:innen von 1974 mussten sich gedacht haben: «Ein Fluss, der niemanden interessiert? Bauen wir darüber eine Brücke!» Und nicht etwa eine, die den Fluss kreuzt, nein, eine, die in Flussrichtung führt. Das Autobahnstück verunstaltet die Sihl und das angrenzende Wohnquartier. Aber es spendet Schatten, etwas was wir im heissen Züri Sommer brauchen. Beton statt Bäume? Ich gebe mich mit wenig zufrieden und geniesse das urbane Gefühl und die kurze Abkühlung im Schutz der Sihlhochstrasse.

Lara Blatter

Romantik: 3 von 5 Punkten

Coolness-Faktor: 3 von 5 Punkten

Gut zu wissen: Die Sihlhochstrasse ist eine Autobahnbrücke, die auf sechs Spuren Autos über die Sihl vom Stadtrand nach Wiedikon und umgekehrt führt. Die Pfeiler der Brücke sind ins Flussbett gepflanzt. Die Brücke mit Baujahr 1974 wurde aber nie ganz fertiggestellt, da sie ursprünglich in die «Expressstrassen-Y» führen sollte. Ein längst beerdigtes Autobahnprojekt. So gibt es einen Autobahnabschnitt, der ins Leere – oder in die Sihl führt: Das abrupte Autobahnende auf der Brücke sorgte schon für diverse schwere Unfälle. 

Noëmi Laux findet keine netten Worte für das Hochhaus der Stadtzürcher Regierung. (Foto: Jula Zwinggi)

Werd-Hochhaus: Ein Haufen Beton auf dem Platz ohne Namen

Er ist kaum zu übersehen, der immense Betonklotz aka Werd-Gebäude, der mitten im Kreis 4 so hoch in den Himmel ragt, dass er an manchen Tagen sogar vom Uetliberg aus zu sehen ist. Die zwei Türme erschlagen einen beim Anblick beinahe, die blauen Fenster blenden in der Sonne. Manchmal stelle ich mir vor, wie das für die mehr als 600 Menschen sein muss, die jeden Tag dieses hässliche Gebäude betreten müssen, um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen.

Dieser lieblose Fleck Zürichs passt auch so gar nicht in die Umgebung. Direkt gegenüber liegt einer der gemütlichsten und unscheinbarsten Plätze Zürichs: der Hallwylplatz.

Fast genauso fragwürdig wie der Komplex selbst ist jedoch der Platz, auf dem er steht: Ein undefinierbares Stück Beton, das sich im Sommer manchmal so stark erhitzt, dass man bestimmt ein Spiegelei auf dem blanken Boden braten könnte. Inmitten von Beton, Beton und einem kleinen Kleckser grün in Form eines Baumes stehen zwei Bänke, die eigentlich zum Verweilen einladen sollten. Doch diese stehen meist leer, was mich noch nie gewundert hat. Das mag auch daran liegen, dass der Platz zunehmend von der lokalen Skate-Community eingenommen wird. Denn die graue Beton-Oase scheint die perfekte Videokulisse zu sein. Na wenigstens das!

Noëmi Laux

Romantik: 1 von 5 Punkten (Ausser in der goldigen Abendstunde, wenn die Sonne in den hohen Scheiben orange spiegelt, kommt ein Hauch Romantik auf. Als Datespot dennoch ungeeignet.)

Coolness-Faktor: 2 von 5 Punkten (wegen der Skater:innen; ohne gäbs zero Punkte)

Gut zu wissen: Das VZ-Werd ist das erste Verwaltungszentrum der Stadt Zürich. Die UBS baute das Gebäude in den 70ern; erst im Jahr 2000 übernahm die Stadt das rund 70 Meter hohe Hochhaus und nutzt es seither als Verwaltungsgebäude. Es umfasst 620 Arbeitsplätze des Finanz- und Sozialdepartements.

Hier gelangst du zu Teil 2 der Unorte unserer Redaktion.

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