Kulturticker: Theater über das Ende der Zeit - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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31. März 2023 um 16:00

«Mein Gemüt ist meine dritte Säule»

Das Stück «Das Gewitter» feiert am Freitag, 31. März, im Theater Neumarkt Premiere. Ein Gespräch mit Regisseur Franz-Xaver Mayr über seine dritte Säule, die eigene Vergänglichkeit und die Frage, wohin die Zeit verschwunden ist.

Im April ist im Theater Neumarkt das Stück «Das Gewitter» zu sehen. (Foto: Philip Frowein)

Von Rahel Bains

Rahel Bains: Das Stück «Das Gewitter» erzählt vom Rauswurf aus dem Paradies und vom Sog der Zeit. «Plötzlich finden wir uns in der Eltern-Hausbau-Berufsmühle wieder und überlegen uns, eine dritte Säule anzulegen», heisst es im Beschrieb. Hast du eine dritte Säule?

Franz-Xaver Mayr: Nein. Vielleicht ist mein Gemüt meine dritte Säule. Ein Versuch, eine halbwegs zuversichtliche Haltung zur Welt und zum Leben herzustellen. Aber wirtschaftlich rettet mich das natürlich nicht. Ich wüsste auch nicht, wann ich diese dritte Säule bauen sollte, dafür habe ich mir nicht genügend Zeit eingeplant.  

Wann hast du begonnen, dir über deine eigene Vergänglichkeit Gedanken zu machen? 

Das weiss ich nicht mehr genau. Ist man jünger, scheint alles neu. Das Studium ist vorbei und der Einstieg ins Berufsleben steht bevor. Man fängt an, regelmässig Geld zu verdienen und es kommen ständig neue Dinge auf einen zu. Irgendwann fängt man aber an, sich an diese Dinge zu gewöhnen, der Reiz des Neuen verfliegt und man beginnt, die Wege, die man zurücklegt, genauer anzuschauen. Wenn man begreift, was man tut und was man nicht tut und was das mit einem macht, zu wem man in der Selbstwahrnehmung geworden ist – dann ist etwas im Gange. Etwas, das grösser ist als Aufstehen, Mittagessen und Schlafen und Wochenende und Urlaub haben. Es ist der Gedanke an die eigene Vergänglichkeit, darüber, dass die Dinge eher kurz als lang halten. Dass wir alle irgendwo hin unterwegs und nur eine bestimmte Zeit lang anwesend sind. Und dann sitzt man dann da und weiss nicht so richtig, wohin mit diesen Gedanken.  

Gibt es Strategien, die dabei helfen, die Zeit zu verlangsamen? 

Explizite Strategien dazu habe ich mir nicht erarbeitet. Ich merke jedoch, wie die Zeit von Lebensjahr zu Lebensjahr schneller vergeht. Mir hat noch keine ältere Person erzählt, dass sich die Zeit verlangsamt. Alle sagen das Gleiche: Erst war noch Sommer und plötzlich ist schon Weihnachten und wieder von vorn. Strategien wie öfters wegzufahren, um die Zeit zu verlangsamen, brauchen Zeit und Geld, was nicht alle haben. Die meisten von uns müssen arbeiten, sich nach dem Dienstplan richten, nach der Familie, alles hat einen Rhythmus und schon ist wieder ein Monat um.  

Franz-Xaver Mayr (Foto: Flavio Karrer)

Weshalb sollten junge Menschen dein Stück anschauen? Sind für sie diese Verpflichtungen nicht noch sehr weit weg?

Das Stück kann jüngeren Menschen durchaus einen lustigen Blick ins Alter und das Vergehen der Zeit gewähren. Und es ist grundsätzlich nie verkehrt, sich mit der eigenen Vergänglichkeit und mit der begrenzten Zeit, die uns zur Verfügung steht, auseinanderzusetzen. Gleichzeitig finde ich aber auch: Wenn junge Personen keinen Bock darauf haben, würde ich niemanden dazu zwingen, sich diesen Themen anzunehmen. Solche Gedanken kommen dann früh genug. 

Ihr habt während der Entwicklung des Stücks Interviews mit Jugendlichen und Erwachsenen geführt. Was ist das Fazit, das du daraus ziehst? 

Irgendwann kommt eine Zeit, in der ältere Menschen offenbar immer öfter an Beerdigungen von Freund:innen und Familienmitgliedern gehen müssen. Und die Jungen treibt der Traum vom grossen Geld und der wirtschaftlichen Sicherheit um. Sie streben nach den klassischen Dingen wie «Haus und Familie». So, wie man sich das als Kind vorgestellt hat. Wenn man sich das so vergegenwärtigt, merkt man, wie wir uns schon früh in solche Strukturen zwängen. 

Kulturticker

Zürich ist eine Kulturstadt. Um dem auch in der journalistischen Berichterstattung gerecht zu werden, hat Tsüri.ch diesen Kulturticker lanciert. Hier halten wir dich über die grossen und kleinen Ereignisse aus der hiesigen Kunst- und Kulturlandschaft auf dem Laufenden.

 

Feministischer Kampftag: 8 Veranstaltungstipps für den 8. März

Kulturticker vom 6. März 2023

Auch am feministischen Streiktag vom 14. Juni 2022 gingen in der Schweiz Tausende auf die Strasse, um für mehr Gleichberechtigung zu demonstrieren. (Foto: Isabel Brun)

Von Isabel Brun

Am Mittwoch, dem 8. März 2023 ist Internationaler Frauenkampftag. Passend dazu kommen hier zehn Ideen, was du an diesem wichtigen Tag in Zürich unternehmen kannst – von Museumsbesuchen über Podiumsdiskussionen bis hin zur Demovorbereitung.

1. «Fembazar» im Papiersaal

ab 17.30 Uhr

Du möchtest den Weltfrauentag gebührend feiern? Dann bist du am Fembazar im Papiersaal genau richtig. Die Frauenzentrale Zürich schafft am 8. März im Sihlcity einen Ort, an dem nicht nur gestöbert und geschlemmt, sondern auch getanzt und mitgesungen werden kann. Ab 17.30 Uhr bringen verschiedene Zürcher Labels ihre Produkte an die Frau, Essensstände sorgen für die nötige Stärkung. Der Soundtrack für den Kampf gegen das Patriarchat kommt erst von Rapperin Kimbo und danach von DJ Akuaku. Tanz dir deinen Frust weg!

Hier kannst du Gratistickets für dich und deine Freundinnen holen – oder ihr geht einfach sponti vorbei.

2. Ausstellung «Kraftakt Frauenstimm- und Wahlrecht»

18.30 - 20.00 Uhr

Bereits seit Anfang Februar gastiert die Multimedia-Präsentation «Hommage 2021» im Landesmuseum in Zürich. Sie thematisiert den beschwerlichen Weg Schweizerinnen für mehr Gleichberechtigung in der Gesellschaft – und ehrt die Frauen, die massgeblich zum Erfolg des 1971 eingeführten Frauenstimm- und Wahlrechts beigetragen haben. Im Rahmen des 8. März werden die Projektleiterin Liliana Heimberg und die Historikerin Franziska Rogger zu Gast sein und über die Entstehung des Projekts sowie jene Pionierinnen sprechen, die im Schatten des Patriarchats standen. Ein Event, das nicht nur alle deine Sinne, sondern auch dein Herz ansprechen wird. 

Die Veranstaltung ist kostenlos, aber anmeldepflichtig. Hier lang für eine gute Portion Schweizer Geschichte.

3. Mittagstisch im Öff-Space

Ab 12.00 Uhr

Ich weiss ja nicht, wie es dir geht, aber ich werde gerne bekocht. Besonders, wenn es einen guten Anlass dafür gibt. Die Betreiber:innen des Öff-Space, einem Kunstraum im Kreis 4, sehen das ähnlich und organisieren zum internationalen Frauenkampftag einen Mittagstisch für Menschen, die sich als Frauen identifizieren. Damit wir mal durchschnaufen und geniessen können. Am besten nimmst du deine Mutter, deine Arbeitskolleginnen oder deine Kinder also auch gleich mit.

Wichtig: Es gilt Prix Libre; Bargeld nicht vergessen.

4. «FINTA*-Hang-Out» bei Sirup oder Prosecco

17.00 - 21.00 Uhr

Wenn du deine Transpis für die Demo am Samstag nicht zuhause, sondern unter Gleichgesinnten malen und gerne mal feministische Sticker gestalten möchtest, dann empfehle ich dir den Gang in die Zentralwäscherei. Dort können Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen Cüpli oder Softgetränke schlürfen, sich mit anderen Feministinnen austauschen oder sich mental, aber auch anderweitig, für die Demonstration am 11. März vorbereiten. Zusammen kämpft es sich bekanntlich besser. 

Hier findest du Infos zum Hang und hier zur Demo am 8. März in Winterthur und am 11. März in Zürich.  

Die Gründe, um sich am feministischen Kampftag zu beteiligen, sind immer noch die gleichen wie 1991. (Foto: Miklós Klaus Rózsa)

5. Gratis ins Fifa-Museum 

10.00 - 18.00 Uhr

Fussballfans aufgepasst: Am 8. März gewährt das Fifa-Museum an der Seestrasse 27 allen Besucherinnen freien Eintritt. Normalerweise kostet ein Rundgang für Erwachsene 24 Stutz, deshalb ist es gar nicht mal so ein schlechter Deal. Ausserdem wird es laut dem Museum noch eine Überraschung für fussballbegeisterten Besucherinnen geben. Daneben kannst du dich über das Leben des italienischen Fussball-Helds Paolo Rossi informieren oder den WM-Pokal der Männer bestaunen. Jener der Frauen ist ironischerweise gerade unterwegs.

6. Vortrag zur Situation geflüchteter Frauen

19.00 Uhr

Die Asylpolitik in der Schweiz gilt unter Expert:innen als äusserst restriktiv. Das hält Menschen in Not – unter anderem auch viele Frauen – jedoch nicht davon ab, sich hier niederzulassen. Wie ihre Situation ist und mit welchen Problemen sie sich konfrontiert sehen, weiss die Staats- und Völkerrechts-Expertin Stephanie Motz. Sie prozessiert nicht nur vor nationalen und internationalen Instanzen wie am Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und UN-Menschenrechtsausschüsse in Genf, sondern referiert heute auch im Kulturzentrum Helferei zur aktuellen Asylpraxis. Organisiert wird der Vortrag mit anschliessender Diskussion von der SAO Association, die sich für Frauen auf der Flucht einsetzt. Eine gute Möglichkeit für ein bisschen Realität im Demo-Vorbereitungsmodus.

7. Weltfrauentag am TV

ganztags

Dir ist weniger nach Menschenansammlungen und mehr nach Verkriechen zumute? Dann kommt hier der ultimative Tipp für dich und alle, die den feministischen Kampftag trotzdem feiern möchten. Der öffentlich-rechtliche Sender 3Sat hat Dokumentationen, Videobeiträge zu Kunst und Kultur sowie Filme gesammelt, in denen Frauen aus aller Welt in den Fokus gestellt werden. Meine Tipps: Die Doku «Die Unbeugsamen» am 8. März auf ZDF und der Spielfilm «Die göttliche Ordnung» am 10. März auf SRF. 

8. Vermögensplanung für Frauen von Frauen

17.00 - 19.30 Uhr

Dass wir von Männern nicht finanziell abhängig sein sollten, wissen wir längst. Doch noch immer gibt es Frauen, die aufgrund struktureller Missstände keine eigene oder eine begrenzte Altersvorsorge haben. Teilzeit-Pensen, Auszeiten wegen Mutterschaft oder mehrere Stellen mit geringen Stellenprozenten führen dazu, dass Frauen öfter von Vorsorgelücken betroffen sind als Männer. Die Credit-Suisse will dem entgegenwirken: Mit einer Veranstaltung, bei der Frauen darüber aufgeklärt werden, wie sie ihre Finanzen planen können, damit sie später keine Lücken haben. Von Frauen für Frauen lautet das Motto.

Hier kannst du dich anmelden.

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«Eine Höhle, um durch den Winter zu kommen»

Kulturticker vom 14. Februar 2023

Das Team vom «Hund»: Jeanne-Vera Bourguignon, Miklos Kündig, Patrick Metzger und Till Eiholzer (unten rechts).

Von Rahel Bains

Zürcher:innen sind es gewohnt, dass Dinge begrenzt sind. Wie zum Beispiel Wohnungen, freie Grünflächen in der Badi oder Ferienkurse für Kinder, wobei letztere bereits 15 Minuten nach dem Aufschalten, also um 7.15 Uhr morgens, ausgebucht sind. Vielleicht ist das ja auch der Grund, weshalb Gastrobetriebe auf Zeit in dieser Stadt solch grossen Anklang finden. Neulich gesehen beim Restaurant «Chlapf» im Kreis 6, das nur zwei Tage nach der Lancierung der Homepage für die geplanten sechs Wochen Betrieb komplett ausgebucht war. 

Doch in diesem Beitrag soll es nicht um den «Chlapf» gehen, sondern um den «Hund». Eine Bar auf Zeit an der Limmatstrasse, eine Art «Höhle, um durch den Winter zu kommen». Patrick Metzger alias Bär ist Mitbegründer des Clubs Kauz, hat auch im «Chlapf» seine Finger im Spiel und führt gemeinsam mit Miklos Kündig, Till Eiholzer und Jeanne-Vera Bourguignon den «Hund». Mit ihm haben wir über das Phänomen «Gastrobetriebe auf Zeit» gesprochen.  

Rahel Bains: Du und dein Team habt in den vergangenen Jahren verschiedene Gastronomieprojekte auf Zeit realisiert. So zum Beispiel die Kombination von Bar und Restaurant im «Zum Grünen Tal», im «Cave Populaire» und zuletzt im «Spät». Welches Fazit zieht ihr daraus?  

Patrick Metzger: Diese Projekte machen immer wieder aufs Neue extrem viel Spass, obwohl sie auch stets anstrengend und anspruchsvoll sind. Vor allem wenn man bedenkt, dass einige von uns nebenbei noch anderen Jobs, auch ausserhalb der Gastronomie, nachgehen. Trotzdem wagen wir uns immer wieder an solche Projekte, aus Lust und Freude an der Gastronomie und der Kultur. Was sicher auch hilft, ist, dass wir als möglichst basisdemokratischer Freundeskreis immer wieder zusammenfinden, in alten, aber auch neuen Konstellationen, die alte Freundschaften stärken und neue Freundschaften kreieren – auch weit über die Projekte hinaus.

Euer aktuelles Projekt ist die Bar «Hund» an der Limmatstrasse 195. Zuvor war dort ein Salsa-Lokal eingemietet.  Wie schwierig war es, an den Raum zu kommen?

Miklos ist das Lokal beim Vorbeifahren ins Auge gesprungen und wir haben daraufhin die verantwortlichen Kontaktpersonen ausfindig gemacht. Ab da war es ein steiniger Weg, vor allem mit den Behörden. Doch nach einem halben Jahr, das geprägt war von einem intensiven E-Mail-Austausch, Telefonaten und Sitzungen, haben wir endlich grünes Licht bekommen, auch durch die tatkräftige Unterstützung von Freund:innen aus den Bereichen Gastronomie und Architektur.

Patrick Metzger: «Vor allem die Suche nach einer geeigneten Lokalität kann oft ein Weilchen dauern.»

Was erwartet die Gäste nun bei euch?

Wie bei allen Projekten auf Zeit, die wir bis anhin machen durften, geht es auch hier vor allem darum, eine Höhle durch den Winter zu schaffen, einen Ort, an dem man sich austauschen kann, neue Geschichten erzählt und alte Geschichten gehört werden. Einen Ort, an dem man verweilen will und auch kann. Wir sind in unserem Sortiment wohl eher bodenständig, haben aber auch eine kleine Auswahl an selbst kreierten Cocktails nebst den Klassikern und natürlich wieder jede Menge Naturwein. Für diejenigen, die Hunger haben, haben wir eine Auswahl an Instant-Nudelsuppen, die wir mit ein paar Kleinigkeiten zum selber fertig kochen servieren. Wer sich für mehr Kultur und allenfalls auch noch längere Nächte interessiert, wird auch fündig im «Hund», dazu aber mehr vor Ort. 

Ihr habt im November eröffnet, wie lange wird es die Bar noch geben?

Mit dem Hund machen wir zum ersten Mal «nur» eine Bar, was sich anders anfühlt als ein Restaurant, aber auch sehr viel Spass bereitet. Auch haben wir hier wieder ein tolles Team zusammen, das den Ort zu dem macht, was er ist. Den «Hund» kann man noch sicher bis im Mai besuchen.

Was würdest du Neulingen raten, die sich in Zürich zum ersten Mal an einem Gastro- oder Kulturbetrieb auf Zeit versuchen wollen? 

Ihr benötigt sehr viel Zeit, Geduld und Energie. Vor allem die Suche nach einer geeigneten Lokalität kann oft ein Weilchen dauern.

Von welcher Stadt könnte Zürich in den Bereichen Gastro und Kultur noch was dazu lernen?

Von vielen Grossstädten, vor allem in Bezug auf die Diversität in allen Hinsichten. Auch könnte sich Zürich mehr darum bemühen, Gastronomielokale zugänglicher zu gestalten, sprich dafür zu sorgen, dass sie bezahlbar sind. Auch die Gesetze für die Gestaltung der Aussenbereiche dürften meiner Meinung nach noch mehr gelockert werden. Mein letzter Besuch im Ausland war in Kopenhagen, da kann sich Zürich sicherlich noch eine Scheibe abschneiden. So viele kleine, familiäre und auch sehr gute Lokale auf einer so kleinen Fläche habe ich selten gesehen.

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«Brauchen eine feste Institution, die Theater für und mit Jugendlichen macht»

Kulturticker vom 28. Januar 2023

Beim aktuellen LAB-Stück geht es unter anderem über einen sterbenden Menschen. (Foto: Sepp de Vries)

Von Rahel Bains

Am Samstag feiert «Das Leben ist krank, aber ich will nicht sterben» vom LAB Junges Theater Zürich Premiere und im Februar geht Grätsche, das Festival für junge Theater- und Performancegruppen, in die zweite Runde. Wir haben mit Deborah Imhof, die das LAB co-leitet, und Laura Leupi, Mitglied des Grätsche-OK, über ihre Arbeit gesprochen und darüber, weshalb Zürich im Bereich Jugendtheater anderen Städten hinterherhinkt. 

Rahel Bains: Das Theaterangebot für Jugendliche ist in Zürich im Vergleich zu anderen Schweizer Städten eher dünn gesät. Wieso? 

Laura Leupi: Ich denke, das hängt, wie vieles in Zürich, mit dem Mangel an Räumen zusammen. Es gibt generell nicht viele Angebote und Freiräume für Jugendliche. Damit lässt sich halt kein Geld verdienen. Dann kommt hinzu, dass die subventionierten Häuser und Strukturen kaum Angebote im Bereich Jugendtheater schaffen, obwohl dies immer wieder beteuert wurde. Die Spielclubs am Schauspielhaus sind eine Ausnahme, und auch dort ginge mehr. So etwas wie das Junge Theater Basel haben wir hier nicht. 

Deborah Imhof: Am Beispiel des Schauspielhauses lässt sich das Problem gut erklären. Unter der Intendanz von Barbara Frey gab es dort keine Jugendclubs oder einen Fokus auf Theaterstücke für Jugendliche. Die jetzige Leitung setzt auf diesen Schwerpunkt mit mehreren Clubs, Produktionen mit Jugendlichen auf der Bühne und dem Theaterjahr. Das ist lobenswert –  und doch ist es nur auf Zeit. Es steht nicht im Leistungsauftrag des Schauspielhauses, dass es diesen Fokus setzen muss, sprich wenn die Intendanz wechselt, steht erneut offen, ob es das in dieser Form wieder geben wird. Und so ist es aktuell auch mit allen anderen Institutionen, einige machen ein bisschen etwas für oder mit Jugendlichen, aber es steht und fällt immer mit der Leitung des Hauses zusammen. Zürich braucht eine feste Institution, die langfristig Theater für und mit Jugendlichen macht, um dieses Problem zu beheben.

Immerhin: Im Sommer 2020 stand fest, dass die Stadt das professionelle Tanz- und Theaterschaffen für Kinder und Jugendliche stärken und die freie Szene in diesem Bereich unterstützen will – das mit 400'000 Franken im Jahr. Weshalb war dieser Entscheid so wichtig und was bedeutet er für eure Arbeit als Theaterschaffende?

Laura Leupi: Das ist erstmal ein Zeichen, eine Art Leuchtrakete, die sagt: «Wir sehen, dass hier ein Bedürfnis besteht.» Mir gefällt daran besonders, dass damit versucht wird, Künstler:innen, die bisher nicht für ein junges Publikum gearbeitet haben, dafür zu begeistern. Und natürlich ist die Nachwuchsförderung entscheidend: Es gibt nicht nur wenig Räume, es gibt auch wenige junge Künstler:innen, die sich für «Theater für ein junges Publikum» interessieren. Dafür sind niederschwellige Förderungen entscheidend. 

Deborah Imhof: Wichtig war dieser Entscheid, weil das Problem, wie es auch Laura gut beschreibt, von der Theaterförderung der Stadt Zürich erkannt wurde. Für das LAB Junges Theater Zürich bedeutet das, dass unsere kontinuierliche Arbeit erstmals von der Theaterförderung der Stadt Zürich unterstützt werden kann. 

Laura Leupi: Für Grätsche bedeutet dieser Entscheid konkret, dass wir mit einer Unterstützung aus diesen sogenannten «Ergänzenden Beitragsarten» unser neues Vermittlungsangebot «Refl_actions» planen und aufbauen können. Aber es löst die Raumfrage nicht, weder für Proben, noch für Aufführungen. Ausserdem ist unklar, wann das lange geplante Tanz- und Theaterhaus für Kinder und Jugendliche kommt, und was dann mit den 400‘000 Franken für die freie Szene passiert. 

Laura Leupi (Foto: Claude Bühler)

Theater und Teenager – grundsätzlich eine interessante Mischung. Was sind das für Jugendliche, die sich in euren Theaterprojekten engagieren beziehungsweise in den Publikumsrängen sitzen? 

Laura Leupi: Bei uns stehen Jugendliche und junge Erwachsene aus der ganzen Deutschschweiz auf der Bühne. Diese sind selbstorganisiert, also nicht an eine subventionierte Struktur oder Hochschule angebunden. Das reicht von Lernenden und Schüler:innen, die sich im Jugendspielclub kennengelernt haben und nun etwas Eigenes auf die Beine stellen wollen, über Studierendentheater bis zu quasi professionellen Produktionen, die auch touren. Oder einfach ein Haufen junger Menschen, die Lust hatten, etwas auszuprobieren.

Noch sind unsere Teilnehmer:innen und auch das Publikum relativ homogen: Mehrheitlich weiss, mehrheitlich «able-bodied», viele mit akademischem Hintergrund. Die Teilnehmenden, und auch wir im OK, spiegeln damit Ausschlussmechanismen in unserer Gesellschaft, die gerade im Kulturbereich stark auffallen. Wer kann es sich denn leisten, in seiner:ihrer Freizeit Theater zu machen? Für wen sind die Räumlichkeiten zugänglich? Aber wir sind an dieser Thematik dran und haben dieses Jahr mit «Kein Rollenspiel» zum ersten Mal eine inklusive Theatergruppe dabei. Ausserdem haben wir zum Abschluss des Festivals eine offene Diskussionsrunde geplant, das Panel «Wer grätscht hier?».

Deborah Imhof: Wir sprechen mit den unterschiedlichen Projekten andere Menschen an. Im Jahresprojekt können alle zwischen 14 und 24 Jahren mitmachen, das Projekt ist niederschwellig aufgebaut, die Proben finden neben der Schule oder der Arbeit statt und wir entwickeln zusammen ein Stück. Laura stand bei uns in der Vergangenheit auch schon auf der Bühne. Bei den Intensivprojekten casten wir junge Menschen, die sich meistens in einer Zwischenphase von Schule und Ausbildung befinden und ausprobieren wollen, ob sie das Theater zum Beruf machen wollen. Die Jugendlichen bringen mit ihrer Entourage natürlich immer Menschen ins Theater, die sonst nicht im Theater anzutreffen sind. Auch zeigen wir das aktuelle Stück an den Schulvorstellungen vielen Schüler:innen aus der Stadt wie auch dem ganzen Kanton Zürich.

Deborah Imhof (Foto: Tilde von Overbeck)

Das Grätsche möchte genauso vielfältig sein wie die Lebensrealitäten junger Menschen. Und für das aktuelle LAB-Projekt haben die Jugendlichen ein Stück erarbeitet, in dem sie eine Geschichte über einen sterbenden Menschen als Hybrid von Theateraufführung und Filmdreh erzählen. Laura, wie hat sich das Zusammenstellen des Programms gestaltet? Deborah, wie die Arbeiten zu eurem Stück? Was erwartet das Publikum? 

Laura Leupi: Das Besondere an Grätsche ist ja, dass unser Festival unkuratiert ist. Wir hatten viele interessierte Gruppen und haben versucht, möglichst allen einen Platz zu ermöglichen. Im Einzelfall entscheidet dann zum Beispiel, welche Kantone schon vertreten sind. Wir möchten möglichst niederschwellig Zugang ermöglichen und Raum für Experimente schaffen. Dafür ist auch das neue DemoFormat da: Hier können die Gruppen erste Eindrücke aus ihrem Prozess zeigen und erhalten direkt Feedback. Und das Publikum bekommt einen Eindruck davon, was junge Theaterschaffende gerade bewegt.

3 Tage, 3 Bühnen, 3 Formate: Das ist das Grätsche.

Deborah Imhof: Dem Publikum wird die Geschichte von ungewöhnlichen Freund:innenschaften von fünf jungen Menschen erzählt. Eine Person möchte lieber unsichtbar sein und weiss nicht so recht, wohin mit sich selber; die andere ist an Leukämie erkrankt und kämpft darum, im Leben zu bleiben. Im Zentrum ist die Idee, gemeinsam einen Film für die erkrankte Person zu drehen, weshalb das Mittel Film einen sehr grossen Stellenwert hat. Der Umgang mit den schweren Themen wird sehr direkt und berührend erzählt und durch die Überforderung entsteht auch eine grosse Portion Humor. 

«Das Leben ist krank, aber ich will nicht sterben»

Premiere 28.1. (ausverkauft)

Weitere Vorstellungen: 31.1., 2.2. und 3.2. jeweils um 19 Uhr

Theater im GZ Buchegg

[email protected]

www.labzuerich.ch

Grätsche Junges Theater Festival

16. bis 19. Februar im Dynamo Zürich. Tickets gibt es hier.

Der Eröffnungsabend am 16. Februar mit Konzert von Fräulein Luise ist kostenlos für alle.

www.graetsche.ch 

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Positiv trotz Krise: Zürcher:innen sammeln Visionen für klimafreundliche Zukunft

Kulturticker vom 24. Januar 2023

Am Freitag, dem 20. Januar 2023, wurde die Bibliothek zur glücklichen Zukunft offiziell eröffnet. (Fotos: Peter Reutlinger)

Von Isabel Brun

Der Klimapavillon auf dem Werdmühleplatz wird ein Jahr lang zu einem Ort der Hoffnung. Seit Kurzem werden in der «Bibliothek zur glücklichen Zukunft» Menschen dazu eingeladen, ihre Visionen im Kampf gegen die Klimakrise festzuhalten. Mit der Sammlung von Gedanken und Wünschen werden auch Lösungen für konkrete Probleme gesucht.

Ein eisiger Wind weht über den Werdmühleplatz in Zürich, trotzdem singen die Vögel an diesem Freitagabend Ende Januar, als ob sie bereits Frühlingsgefühle verspüren würden. Um die gefiederten Tiere dreht sich auch das Stück, das der Kinderzirkus Robinson an der Eröffnung der «Bibliothek zur glücklichen Zukunft» vorstellt. Gegen 50 Personen haben sich neben dem Klimapavillon eingefunden. Einige von ihnen haben ihre Zukunftsvisionen bereits verfasst und in einem Einmachglas haltbar gemacht. Diese stehen nun in Reih und Glied auf den Regalen im ehemaligen Tickethäuschen. Von mehr Rücksicht auf die Umwelt, mehr Velowegen, weniger Abfall und CO2 ist die Rede. Die Gedanken in den Gläsern sind die Bücher, die es in der Bibliothek zu bestaunen gibt. Eine Sammlung von Visionen gewissermassen.

«Es dreht sich alles um die Frage, wie wir bis ins Jahr 2043 eine klimafreundliche Zukunft gestalten können», erklärt Markus Keller vom Verein Klimastadt Zürich, der den Klimapavillon seit Sommer 2020 betreibt. Das neue Projekt rund um die Bibliothek sei ein Puzzleteil, das für eine lebenswerte Stadt nötig sei: «Wenn wir heute nicht die richtigen Entscheidungen treffen, verhindern wir, dass unsere Kinder Bedingungen vorfinden, die ein glückliches Leben erlauben», so Keller.

Positives Mindset in Krisenzeiten

Ist der Fokus auf das Glück in Zeiten der Krise nicht der falsche Ansatz? Im Gegenteil, findet Keller: «Krisen bringen Ängste vor Verlust, Erstarrung und Blockade und verengtes Denken. Das Aufzeigen von Utopien ermöglicht den Blick auf das grössere Ganze, erweitert den Horizont.» Auch die beiden Kuratorinnen, welche die Ausstellung zusammen mit Keller und einem Bibliothekar ausgearbeitet haben, sehen in hoffnungsvollen Gedanken vor allem Chancen. «Die Bibliothek zur glücklichen Zukunft soll ein Ort sein, wo positive Visionen stattfinden können», sagte Sonja Koch am Eröffnungsabend. Zusammen mit ihrer Namensvetterin Sonja Schenkel gestaltete sie das Konzept des Projekts, das auch mal das Aufsetzen einer rosaroten Brille erlaubt. 

Anstelle von Büchern werden im Klimapavillon Visionen für eine klimafreundliche Zukunft gesammelt– festgehalten in Einmachgläsern.

Mit der Bibliothek versucht der Klimapavillon auch eine Neuausrichtung. Ausschlaggebend dafür war Kellers Wunsch nach mehr Professionalität: «Ich hatte das Bedürfnis nach einem roten Faden und mehr Struktur.» Zwar würde ein Grossteil der Beteiligten noch immer ehrenamtlich arbeiten, dank den Fördergelder aus dem letztjährigen ZKB-Jubiläumsfonds, konnten nun auch Personen beigezogen werden, die sich anschliessend in einem professionellen Kontext um die Zukunft des Klima-Treffpunkts kümmern. 

Vernetzung und Inspiration fördern

Seinem ursprünglichen Zweck soll der Pavillon jedoch treu bleiben: Der Vernetzung von verschiedenen Akteur:innen in Zürich. «Wir wünschen uns einen regen Austausch von Politik, Verwaltung, Wirtschaft und der Zivilbevölkerung», sagt Keller. Die Einmachgläser mit den Visionen der Verfasser:innen werden deshalb nicht nur ausgestellt, sondern auch katalogisiert und Ende 2023 in einem digitalen Archiv für die nächste Generation festgehalten.

Dass nach Visionen für das Jahr 2043 gesucht werden, sei keine willkürliche Entscheidung, sondern Absicht: «Zum einen sind 20 Jahre in etwa der Abstand, der Generationen voneinander trennt, zum anderen will die Stadt bis ins Jahr 2040 klimaneutral sein», so der Mitorganisator. An den geplanten Veranstaltungen werden deshalb auch Vertreter:innen der Stadt eingeladen sein.

Nach dem offiziellen Startschuss am 20. Januar wird schon morgen Donnerstag das erste Event der Bibliothek zur glücklichen Zukunft in Kooperation mit Myclimate stattfinden. An einem Workshop diskutieren Jugendliche und Politiker:innen über ihre Vorstellungen für ein klimafreundliches Zürich im Jahr 2040. Der Wunsch nach mehr Austausch scheint auf viel Interesse zu stossen: 30 Jugendliche und zehn Gemeinderät:innen haben sich für die Veranstaltung im Amtshaus am Werdmühleplatz angemeldet. Auch der Stadtrat Michael Baumer sowie der Direktor des Umwelt- und Gesundheitsschutzes Zürich, Réne Estermann, werden vor Ort sein.

Markus Keller freut sich auf die kommenden Monate, in denen der Klimapavillon zum Zuhause für die Ideen und Wünsche von Zürcher:innen wird – und auf die verschiedenen Veranstaltungen zu Themenblöcken wie Mobilität, Landwirtschaft, Energie oder Konsum. «Thinking out of the Box», laute das Credo, so Keller. Out of the Box, aber im Einmachglas quasi. 

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«Es lohnt sich, für komplizierte Beziehungen zu kämpfen»

Kulturticker vom 12. Januar 2023

Im Film «99 Moons» geht es um eine leidenschaftliche Amour-Fou. (Foto: zvg)

Von Rahel Bains

Rahel Bains: «99 Moons» handelt von einer jungen Biologin, die auf verrückte Sexpraktiken steht und einem Hipster, der viel in Zürcher Clubs rumhängt und dabei Drogen konsumiert. Sie haben Sex, verlieben sich, tun sich aber nicht gut. Wer oder was hat dich zu diesem Film inspiriert – diese Stadt, dein Leben oder dein Umfeld? 

Jan Gassmann: Alles auf irgendeine Art und Weise. Die Basis war eine autobiografischen Kurzgeschichte, die eine Beziehung beleuchtet hat. Während des neun Jahre dauernden Schreibprozesses merkte ich, dass mich die Frage, wie sich Beziehungen zwischen Menschen verändern, immer mehr bewegte. Beziehungen von Menschen, die nicht voneinander loskommen. Und die Erkenntnis, dass es, teils unerfüllte, Lieben gibt, die man nie vergisst und mit denen man lange Zeit verbunden bleibt. 

Sex spielt in deinem Film eine sehr zentrale Rolle. Doch Zürich ist nicht gerade dafür bekannt, besonders sinnlich zu sein, oder?

Es kommt auf die Lebensphase an. Es reicht, wenn sich zwei treffen, die genau so eine Art von intensiver sexueller Beziehung wollen wie die zwei Hauptfiguren in meinem Film. Ich bin aber bewusst nicht auf die Communities eingegangen, die das suchen und bieten. Trotzdem glaube ich, dass man diese in jeder Stadt findet, auch in Zürich. Für mich war wichtig, dass der Film authentisch ist, dass Dinge vorkommen, die ich hier erlebt habe. Andererseits wollte ich nicht, dass der Inhalt nur von einer bestimmten Gruppe Menschen verstanden werden kann. Die Protagonist:innen treffen sich zum Beispiel nicht spezifisch in der «Zuki».  

Sollten wir alle offener mit unserer Sexualität umgehen?

Sexualität sollte grundsätzlich offener gelebt werden. Ist man jedoch international unterwegs, merkt man schnell: In anderen Städten zeigen sich Liebende in der Öffentlichkeit öfters, dass sie einander gern haben, sie sind freier und ungezwungener. In der Schweiz wird stark zwischen Öffentlichem und Privatem unterschieden, es herrscht grosse Zurückhaltung. 

Jan Gassmann. (Foto: zvg)


Waren die Generationen vor uns weniger verklemmt?

Vergangenes wird oft verklärt. Im Zuge meiner Recherchen habe ich unter anderem mit vielen älteren Frauen gesprochen. Die scheinbar «freien» 70er-Jahre waren offenbar gar nicht so toll, wie wir alle meinen. Im Gegenteil: Es habe eine Männerdominanz geherrscht, Frauen seien nie zu Wort gekommen. Ich hoffe, dass die Generation nach uns ihre sexuellen Wünsche einfacher formulieren und diese ohne gesellschaftliche Nachteile ausleben kann. Ich denke da auch an die männliche Sexualität, die bislang oftmals auch an Leistung gebunden war.

Apropos Generationen. Heute ist es üblich, vor dem sexuellen Akt um «Consent», also Zustimmung, zu fragen. Dies scheint den Protagonist:innen fremd zu sein. In einer Szene sind gar die Grenzen zu einer Vergewaltigung schwammig. Hast du das bewusst so dargestellt? 

Diese Szene wurde auch an der Vorpremiere diskutiert, dort wurde es gut auf den Punkt gebracht: Die beiden spielen etwas nach, was sie früher gemacht haben, nur in getauschten Rollen. Gleichzeitig geht es nicht um Penetration, er sucht nicht seinen Orgasmus, sondern will ihr zeigen, dass sie sexuell von ihm abhängig ist. Wenn man die Szene sorgfältig betrachtet, sieht man auch, wie er ihre Hände ziemlich schnell loslässt und sie ihn daraufhin anfasst. Es ist eine emotionale Szene, das erste Aufeinandertreffen nach langer Zeit. 

In einer anderen Szene sagt er, dass er mit ihr schlafen möchte – sie drückt ihn daraufhin weg. Später im Film, sehen sie sich wieder und dann ist es sie, die sich an ihn heranschmiegt und den Lead übernimmt. Durch den Augenkontakt wird im Nonverbalen schon sehr viel ausgespielt. Mir war es zudem auch wichtig, dass er ein Kondom holt. Sonst passiert das in Filmen nämlich nie.   

Was soll der Film beim Publikum auslösen? 

An der Vorpremiere war der Film für viele eine Bestätigung, dass es sich lohnt, für komplizierte Beziehungen zu kämpfen und nicht auf halber Strecke aufzuhören. Und dass man Liebe nicht rational angehen sollte. Auf französisch gibt es den Ausdruck: «L’Amour physique». Bei uns wird dieser Begriff schnell auf «Sexbeziehung» reduziert. Die französische Version finde ich viel schöner. Es geht in diesem Fall um eine Liebe, die auch stark mit dem Körperlichen zu tun hat, bei der das Intellektuelle nicht das stimulierende Element ist. Was nicht heisst, dass sie auf keiner tieferen Ebene steht. Ich habe das selbst auch schon erlebt und mich gefragt, weshalb ich mich über Jahre hinweg immer wieder mit jemandem getroffen habe, obwohl wir oft nicht wussten, über was wir reden sollten – und trotzdem aneinander klebten.  

Nach «Europe, She Loves» ist dies dein zweiter Film, in dem es um Liebe und Intimität geht. Was fasziniert dich an der Liebe? 

Manche sagen, Liebe sei eine Erfindung unserer Zeit, weil Religionen zumindest in unserer westlichen Welt einen immer kleineren Stellenwert haben. Nun würden wir offenbar nach etwas «Grösserem» suchen, das Sinn ergeben soll, waren Paarbeziehungen früher schliesslich oftmals nur Mittel zum Zweck. Ich für meinen Teil erachte die Liebe an sich als extrem spannend, anarchistisch und nicht kontrollierbar. Etwas, das nicht in unsere gewohnt rationalen, kapitalistischen Überlegungen passt. Ein Gefühl, für das es sich zu kämpfen lohnt. 

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Zürich ist eine Kulturstadt. Um dem auch in der journalistischen Berichterstattung gerecht zu werden, hat Tsüri.ch diesen Kulturticker lanciert. Hier halten wir dich über die grossen und kleinen Ereignisse aus der hiesigen Kunst- und Kulturlandschaft auf dem Laufenden.

Wenn Okkultismus, Tanz und neue Medien vermischt werden

Kulturticker vom 18. Dezember 2022

Kiran Kumãr, Mamela Nyamza (rechts) und Lucie Tuma (links). (Foto: Caroline Palla)

Von Rahel Bains

In ihrer Performance «Chænelings» wollen die Tänzer:innen Kiran Kumãr, Mamela Nyamza und Lucie Tuma in der Gessnerallee intime Begegnungen zwischen an- und abwesenden, (un)sichtbaren Körpern schaffen. Tanz und Choreografie sehen sie als Fragmente aus unterschiedlichen Zeiten, Musik und Klang als Massage, Stimme und Gesang als Übertragung aus dem Anderswo. Ein Interview mit Lucie Tuma, Hauskünstlerin der Gessnerallee.

Rahel Bains: Ihr wollt in «Chænelings» gemeinsam zum Medium «einer nie versiegenden und stetig fliessenden Datenansammlung» werden und setzt euch dabei mit okkulten und medialen Praktiken auseinander. Wie soll spirituelle Energie mit technischen Medien verbunden werden?

Lucie Tuma: Es geht um eine intime Begegnung. Wichtig ist uns die Überlagerung von verschiedenen Räumen. Die Show, die Probe, eine Industriehalle, der Club oder all das, was eine Zuschauer:in darin erlebt. Deren Vorstellungskraft soll ja angeregt werden, das Stück ist komplexer als wir, die es gemacht haben, ganz überblicken können. Es geht auch um Gegensätze. Etwas salopp formuliert: Magie kommt aus einer nicht modernen Weltbeschreibung. Die digitalen Medien spiegeln vielleicht, wie nach Jahrzehnten von Fortschritt so etwas wie zeitgenössische Schlauheit in sich kollabiert. Die Imagination im Theaterraum hat die Kraft, dass Dinge parallel existieren können und dass nicht nur eine Realität Bestand hat. Es wird ein Abend, an dem eine somatische Praxis stattfindet, gleichzeitig ist es eine Show zeitgenössischen Tanzes, gleichzeitig ist es vielleicht eine Seance, wenn wir in Kontakt mit anderen gehen.   

Fehlt in unserem Alltag das Verständnis fürs Okkulte? 

Es ist eine grosse Sehnsucht danach vorhanden. Wenn du in den Supermarkt gehst, siehst du zum Beispiel, was den Leuten wichtig ist. Als ich klein war, waren Reformhäuser nur selten anzutreffen, heute sind Bio-Produkte auch in den Grossverteilern omnipräsent. Das Gleiche gilt für die spirituellen Mindfulness-Praktiken, die mittlerweile in CEO-Etagen und sogar vom Militär praktiziert und in der Schule gelehrt werden. Es ist ein grosses Bedürfnis da, dass mit Ressourcen anders umgegangen wird. Leider stürzt sich irgendwann auch der Markt darauf. So sind etwa Meditation und Yoga grundsätzlich tolle Angebote, gleichzeitig besteht die Gefahr, dass alles noch mehr in Selbstoptimierung mündet.  

In eurer Performance wird auch der Tanz eine grosse Rolle spielen. Ein Genre, das in der Kunst- und Kulturberichterstattung jeweils am wenigsten Beachtung findet. Weshalb ist das so?  

Historisch gesehen hat der Tanz im Vergleich zu den visuellen Künsten tatsächlich eine schwache Position. Vielleicht spiegelt sich in dem Unbehagen und dem nicht ganz ernst nehmen dieser Kunstform auch ein Weltverständnis. Zum einen ist der Tanz ephemer, also flüchtig, und lässt sich nicht an die Wand hängen. 

Darüber hinaus ist Rationalität historisch nicht gerade körperlich konnotiert, das sogenannt westliche Mindset hegt ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Körper. Wir finden diese schwache Position aber auch gar nicht so schlecht. Ein Körperwissen, das nicht greifbar wird und an der Peripherie angesiedelt ist, bietet ganz andere Möglichkeiten, Dinge zu verhandeln und spürbar zu machen.  

Apropos Gessnerallee: Der Vorstand des Vereins Theaterhaus Gessnerallee hat am vergangenen Donnerstag an der jährlichen Generalversammlung die Findungskommission vorgestellt, die mit der Suche nach einer neuen Leitung für die Gessnerallee ab 2024/25 beauftragt wurde. Hier geht es zur Ausschreibung.

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Ein Abgesang auf das Kosmos

Kulturticker vom 5. Dezember 2022

Das Kosmos ist Geschichte. (Foto: Seraina Manser)

Heute Montag wurde bekannt, dass das Kosmos Konkurs angemeldet hat und ab sofort geschlossen ist. An dieser Stelle verabschiedet sich das Tsüri-Team vom Kulturhaus, indem es seine denkwürdigsten Kosmos-Momente mit dir teilt.

Ein Ort der Freude und der Trauer

Das Kosmos war mein erster Anlauf- und Ankerpunkt in der Stadt. Hier fand ich meinen ersten Job in Zürich, knüpfte erste Bekannt- und Freundschaften. Mir fallen viele Geschichten zu ihm ein, davon sind die meisten irgendwie absurd-komisch und wirken vielleicht etwas deplatziert ausserhalb des gastronomischen Milieus. Deshalb teile ich hier einen freudigen und einen traurigen Moment meiner Kosmos–Zeit.

Der Freudige beginnt damit, dass ich an meinem ersten Silvester in Zürich arbeiten musste, zu meinem grossen Unmut, versteht sich. Wir hatten Besuch aus Deutschland zuhause, der ohne mich auf das neue Jahr anstiess, und als unsere Schicht irgendwann zwischen 1 und 2 Uhr zu Ende war, war dieser schon dabei, ins Bett zu gehen. Also beschloss ich, mit einem Mitarbeiter eine andere Kollegin von uns zu besuchen, die nach ihrer Schicht im Kosmos noch in einem nahegelegenen Club Drinks machte. Die füllte uns kurzentschlossen so sehr mit Ingwerer ab, dass schon bald meine Erinnerung aussetzt. Sie setzt allerdings in jenem Moment wieder ein, als ich am nächsten Morgen erschrocken aus dem Bett stolperte. Ich musste nämlich am Neujahrs-Vormittag schon wieder im Kosmos stehen. Zum Glück hatte mein Chef Mitleid und schickte mich nach der Mittagspause nach Hause.

Der traurige Moment war, als im Jahr 2021 Stefan und Oli, zwei der engagiertesten und angenehmsten Mitarbeiter des Kosmos, kurz hintereinander verunfallten und starben. Nie habe ich mich dem Team näher gefühlt als damals, als wir nach Feierabend lange zusammensassen und uns erinnerten.

Steffen Kolberg, Redaktor & Administration

Nicht die Einzigen mit diesem Problem…

Ich habe das Kosmos vor meiner Tätigkeit bei Tsüri.ch nicht wirklich gekannt, fairerweise muss man sagen, dass ich es nun trotz meiner Tätigkeit bei Tsüri.ch nicht wirklich kenne. Jetzt kenne ich wenigstens die Kellerräume des Kosmos. Wie jedes seriöse Unternehmen haben wir ein Rollup mit unserem Logo drauf, sodass sich dieses bei Anlässen prominent in die Köpfe der Anwesenden einbrennen kann. Wir hatten sogar mal zwei Rollups und da kommt das Kosmos ins Spiel. Als ich hier angefangen habe, war schnell klar, dass sich das zweite Banner nicht mehr in unserem Besitz, sondern in den Kellerräumen des Kosmos befindet. Als eifriger, neuer Mitarbeiter wollte ich der Teppichetage beweisen, dass sie sich auf mich verlassen können. Also nahm ich mich der heroischen Aufgabe an, dieses zweite, ominöse, verschwundene Rollup zurückzuerkämpfen. Nach einem kurzen Telefongespräch wurde mir versichert, dass sich unser Rollup im Keller befindet und ich dieses «easy» holen könne. Vor Ort wurde ich in einen Raum geführt, wo tatsächlich ganz viele verschiedene Rollups herumlagen, siehe Titel. Mein Problem löste sich aber nicht, da sich nach dem Durchschauen herausgestellt hat, dass viele Firmen ihre Banner im Kosmos vergessen haben, unseres aber leider nicht dazu gehört. So muss ich mich weiter beweisen.

Sachdienliche Hinweise zum Verbleib des Rollups melden Sie bitte direkt an [email protected]

Antonio Auf der Mauer, Projektleiter Civic Media

Wie ein frisch gezapftes Bier


Die Europaallee ist von der Langstrasse her gesehen wie ein frisch gezapftes Glas Bier. Der erste Schluck ist schön kalt, schaumig und erfrischend (= Kosmos). Ganz unten beziehungsweise hinten wartet Uwe (= Unten wird es eklig): Der letzte Schluck des Biers beziehungsweise der Europaallee ist fad und lau. Am liebsten würde man ihn wegkippen. Hier aber soll es um den ersten Schluck gehen: Das schönste an ihm beziehungsweise an diesem Abschnitt der Europaallee war der Buchsalon des Kosmos. Gemütliche Sofas zum Chillen und teure Fotobände zum Durchblättern. Irgendwann hat sich unter den Studis und Digital Nomads aber wohl rumgesprochen, dass sich hier gut arbeiten liesse. Weil dann irgendwann zu viele Leute da rumhingen ohne etwas zu bestellen, tauchten auf den Tischen Infotafeln mit dem Hinweis auf, man solle sich doch ab und zu etwas zu Trinken bestellen. Schade ist der schönste Buchsalon der Stadt nun Geschichte. 

Seraina Manser, Community-Verantwortliche

«Auch der schönste Buchsalon der Stadt ist nun Geschichte.» (Foto: Seraina Manser)

Eine unerwartet durchtanzte Nacht

Ich mag Unvorhergesehenes. Jener Abend, der mir im Zusammenhang mit dem Kosmos besonders in Erinnerung geblieben ist, war auch eher unvorhergesehen. Ich war an eine Kurzfilmpremiere von guten Bekannten eingeladen. So voll habe ich das Kosmos noch nie erlebt, sogar das Tsüri-Team folgte meinem Ruf und tauchte irgendwann ganz «proseccoselig» im Foyer auf (Wie viele von ihnen tatsächlich den Film über die marokkanische Skate-Community gesehen haben, ist fraglich). Auf jeden Fall versammelte sich die noch immer riesige Gästeschar zu später Stunde wie so oft an der frischen Luft – wo man rauchen konnte. Dies sehr zum Leid des DJs, der etwas verloren im hinteren Bereich oberhalb der Bar sein Set startete. Irgendwann beschloss ich mit zwei Freunden, dass jetzt getanzt wird. Zu dritt stürmten wir den Dancefloor. Hartnäckig wie wir sind, hüpften wir gut eine Stunde alleine rum, die Lage schien hoffnungslos. Doch irgendwann folgten uns auch die anderen. War es aufgrund des kollektiv angestiegenen Alkoholpegels, unserer Tanzkünste oder der Kälte? Man weiss es nicht. Auf jeden Fall endete die Premiere in einem der lustigsten Tanzabende seit langem – auch dank Abbas «Lay All Your Love On Me» morgens um 4 Uhr. Danke liebes Kosmos für diese Nacht.

Rahel Bains, Redaktionsleiterin

Ein Ort für Diskussionen

Mit Tsüri.ch waren wir immer mal wieder zu Besuch in den Räumlichkeiten des Kosmos. Das konnte in Form eines spontanen Weiterzugs vom Freitagabend-Bier im Büro zu einem Apero in die Lagerstrasse 104 sein (zu diesem heiteren Abend im Text von Rahel mehr) oder hauptsächlich im Rahmen von spannenden Debatten. Mal waren wir als Hosts in der Montagsreihe Kosmopolitics vertreten, oft zu Themen der Stadtentwicklung und nicht selten fanden auch unsere hauseigenen Veranstaltungen im Kosmos-Saal statt. So auch meine erste Veranstaltung, die ich mit Tsüri.ch mit organisierte: die Pitch-Night zum Fokusmonat Stadt-Landwirtschaft . Ich war entsprechend nervös, der Saal voll, der darauffolgende Apero lange und das Event somit gelungen. Mit dem Ende des Kosmos schliesst sich somit auch ein Raum in Zürich, in dem brennende Diskussionen rund um diese Stadt ausgetragen wurden.

Ladina Cavelti, Projektleiterin Civic-Media

Begegnung mit Valentin Diem

Dass das Kosmos schliesst, macht mich traurig. Zürich verliert das Kino mit den bequemsten Sitzen und den schönsten Fleck der Europaallee. Denn er war mit Büchern, Filmen und Kultur gefüllt. Noch Ende September sass ich zusammen mit dem neuen Verwaltungsrat Valentin Diem im Kosmos Bistro und beobachtete ihn beim Essen seines Caesar-Salads. Bei kulinarischen Fragen holte er aus und schweifte ab, bei Fragen zum Kosmos hielt er sich bedeckt. Zu Recht. Da war Diem gerade mal wenige Wochen im Co-Amt. Angesprochen auf all die Turbulenzen über die Jahre meinte er: «Klar habe ich Zeitung gelesen. Aber wir sind neu und wir sind frisch. Wir müssen nicht die Vergangenheit aufräumen, wir müssen nach vorne schauen.» Zudem: «Das Kosmos gibt es immer noch. So schlimm kanns nicht sein.» Kann es leider doch. Und die Vergangenheit wurde den beiden neuen Verwaltungsräten zum Verhängnis. Man muss eben doch mit ihr aufräumen. Und wenn die Vergangenheit Schulden und kein Businessplan bedeutet, wie es laut Mitteilung der Fall scheint, und von Machtkämpfen gebrandmarkt ist, wie viele vermuten, dann wird es für visionäre, kulturelle Pläne im kommerziellen Zürich schwer.  

Lara Blatter, Redaktorin

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Porny Days: «Wir sind politischer und diverser geworden»

Kulturticker vom 25. November 2022

Von Rahel Bains

Zum Porny Days-Jubiläum wollten wir von Emanuel Signer, Filmwissenschaftler und Teil der Leitung der Filmprogrammation der Porny Days Zürich, wissen, wie sich das Festival über die Jahre verändert hat, welchen Programmpunkt er besonders empfiehlt und was Zürich ohne die Porny Days wäre. 

Rahel Bains: Wie würdest du die Porny Days jemandem beschreiben, der:die noch nie daran teilgenommen hat?

Emanuel Signer: Wir probieren die ganze Bandbreite aus, wie durch Sexualität verschiedene Themen in der Gesellschaft sichtbar gemacht werden können. Das kann anregend und sexy sein, dich aber auch mit eigenen Unsicherheiten und Ängsten konfrontieren. Es geht auch darum, zu formulieren, was die eigene Lust und die eigenen Bedürfnisse sind und wie diese mit anderen Menschen geteilt werden können. 

Was hat sich seit den Anfängen im Vergleich zu heute verändert?

Am Anfang ging es mehr um Tabubruch. Darum, wie man die Filme in einem anderen als dem gängigen «Schmuddel-Kontext» anschauen konnte. Über die Jahre sind wir politischer und diverser geworden. Das Anliegen, eine möglichst grosse Vielfalt von Sexualität darzustellen, wurde grösser und dementsprechend hat sich auch das Programm verändert. Themen wie Queerness oder gendergerechte Sprache erlangen immer mehr Aufmerksamkeit. Die Filme formulieren auch politische Anliegen. Spannend ist auch, dass die mediale Berichterstattung sich nicht mehr nur um das skandalöse «Sie zeigen Pornos» dreht, sondern sich auch an den Inhalten orientiert. 

«Lady Shiva und Les prostituées de Lyon parlent» – ein Film, der im Rahmen der CH-Bodypolitics gezeigt wird. (Foto: zvg)

Was wäre Zürich ohne die Porny Days?

Das Schöne ist, dass das Thema mittlerweile von immer mehr Menschen aufgegriffen wird. Was ohne uns aber fehlen würde: Vielleicht ein zugänglicher Anlass zum Thema, an dem sehr viele unterschiedliche Leute zusammenkommen, egal ob man hetero oder queer ist. Wo man einander sieht und wahrnimmt. 

Dein Programmtipp für das Wochenende?

Die Retrospektive «CH-Bodypolitics» versammelt im Rahmen eines Projekts der Cinémathèque suisse eine Reihe von feministischen Schweizer Filmen aus den 70er-Jahren, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Verhältnis von Geschlecht, Körper, Gesellschaft und Politik auseinandersetzen. Es werden Themen wie Sex von körperlich behinderten Menschen oder Sexarbeit behandelt. Es geht in diesen Filmen nicht per se darum, explizit pornografisch zu sein, sondern in der Geschichte zurück zu schauen und Themen zu beleuchten, die schon vor 50 Jahren von gesellschaftlicher Relevanz waren – und es auch heute noch sind. Denn wir sind zwar schon ein Stück weiter, angekommen aber noch nicht. 

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«Die erste Stadt, in die man als Erwachsene zieht, ist wie eine erste Liebe»

Kulturticker vom 21. November 2022

Darja Keller: «Ich mag diesen Fokus auf einen Moment, eine Begegnung, ein Gefühl – ja auch auf eine Stadt.» (Foto: Manuela Furger)

Von Rahel Bains

Vor wenigen Wochen wurde «Sihl City», das erste Buch der Autorin Darja Keller, publiziert. Die Erzählungen darin handeln von der Magie des Kennenlernens, von Sehnsüchten, Trennungen und Verletzlichkeit. Es geht um das Allein- und Zusammensein, um das erste und das letzte Mal. Und das alles vor der Kulisse Zürichs. Grund genug, der 28-Jährigen ein paar Fragen zu ihrem Werk zu stellen.

Rahel Bains: Dein Buch handelt von jungen Menschen, die in dieser Stadt leben. Die mit ihren Rennvelos vom Bullingerplatz an den Letten fahren. Die sich kennenlernen und dabei manchmal auch verlieben. Die sich vor dem Verletzt werden fürchten und auch vor dem Alleinsein. Für wen hast du dieses Buch geschrieben beziehungsweise: Wen willst du damit ansprechen?

Darja Keller: Das ist vielleicht eine simple Antwort, aber natürlich schreibe ich auch deshalb queere Geschichten, weil ich sie gerne lese, weil meine Freund:innen sie gerne lesen. Weil ich sie schon als Jugendliche gerne gelesen hätte, es damals aber kaum welche gab. Ich glaube, Geschichten können ein Zuhause sein, ein Ort, wo wir unsere Verletzlichkeit und die ganzen anderen Gefühle hineinlegen können. Und heute gibt es viel mehr queere Geschichten, die uns ein solches Zuhause anbieten – das macht mich sehr glücklich.

Der Inhalt ist sehr dokumentarisch – wie viele deiner eigenen Erlebnisse hast du einfliessen lassen? Off-Spaces, illegale Raves, WG-Parties: Ist es auch deine Bubble, die du da beschreibst? 

Die genannten Dinge – Off-Spaces, illegale Raves, WG-Parties – kommen in den Geschichten ja vor allem in der Fantasie der Protagonistin vor, nicht in ihrem tatsächlich gelebten Leben. Sie sind Teil einer Vorstellung, die sie vom Leben in der Stadt oder vom Dazugehören zu einem bestimmten Milieu hat. Es geht also eher um die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Identität als um eine tatsächlich existierende Bubble. 

Die Lebensgeschichten der beschriebenen Protagonist:innen bleiben oftmals im Hintergrund, allfällige Sorgen und Nöte werden nur angetönt. Der Fokus liegt auf den Momenten der ersten Begegnung. Was willst du mit den Erzählungen aufzeigen? Gibt es eine Metaebene? 

Für mich ist das das Besondere an der Kurzgeschichte: Es wird auf eine Begebenheit fokussiert und dann quasi herangezoomt. Ich mag diesen Fokus auf einen Moment, eine Begegnung, ein Gefühl – ja auch auf eine Stadt.

Zürich ist als Schauplatz tatsächlich sehr präsent. Eine junge Frau wohnt etwa an der Josefstrasse gleich bei der Josefwiese, eine andere in Altstetten. An einem Sommernachmittag fährt eine andere Protagonistin über den Bucheggplatz in Richtung Affoltern, um mit Freund:innen am Katzensee zu baden. Weshalb hat dich die Stadt inspiriert? Und was sind für dich die spannendsten Orte Zürichs?

Wenn man auf dem Land oder in der Agglo aufgewachsen ist, dann ist die erste Stadt, in die man als Erwachsene zieht, oftmals etwas Besonderes, ein wenig wie eine erste Liebe. Bei mir war diese erste Stadt Zürich, und darum ist Zürich für mich auch heute noch ein magischer Ort. Darum denke ich auch, dass es noch viele spannende Orte hier zu entdecken gibt. Am Lindenplatz würde ich zum Beispiel gerne mehr Zeit verbringen. Es gibt irgendwie alles Gute da: eine italienische Konditorei, eine Pestalozzi-Bibliothek, und ganz in der Nähe liegt das Hallenbad Altstetten, das ich sehr mag.

Einige deiner Protagonist:innen fürchten sich vor dem Winter. Hast du einen Geheimtipp, wo und wie man sich am besten die Zeit vertreiben kann?

Ich habe keinen Geheimtipp – das überlasse ich gerne euch. Ich mag die Letzibadi, da kann man im Winter ja spazieren gehen. Das ist in den kalten Monaten mein Happy Place.

Weitere Infos zum Buch findest du hier.

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Das Nachtleben wird politisch

Kulturticker vom 11. November 2022

Laura Rivas Kaufmann, Armelle Ako, Cevincia Singleton (v.l.n.r.) wollen auf die fehlende Diversität und rassistische Stereotype aufmerksam machen. (Foto: zvg)

Von Rahel Bains

Brasserie Lorraine, Gleis, Lethargy: Die Ereignisse und Debatten der vergangenen Monate rund um diese Orte in Zusammenhang mit Rassismus und kultureller Aneignung hat eine Gruppe junger Aktivist:innen und Akteur:innen des Nachtlebens, darunter Laura Rivas Kaufmann, Armelle Ako und Cevincia Singleton, zusammengebracht. Sie finden: «Auch in der Kultur- und Eventbranche müssen wir uns mit Rassismus auseinandersetzen.» Deshalb wollen sie ein Umfeld schaffen, das die Menschen vereint und in dem sich Institutionen, aber auch das Nachtleben-Publikum kritisch hinterfragen. Mit ihrer Kampagne «Black People Are…» möchten sie den Anstoss dazu geben und mit folgenden Fragen auf die fehlende Diversität und rassistische Stereotype aufmerksam machen.

«Wie viele Schwarze DJs kennst du aus deiner Region?»

«Kennst du eine Partyreihe, die von BIPoC organisiert wird?»

«Kennst du ein:e Schwarze:n Clubbesitzer:in?»

«Arbeiten in deinem Lieblingsclub Schwarze Barkeeper:innen?»

«Wie viele People of Color sind im OK deines Lieblingsfestivals?»

Die Lancierung der Kampagne findet am Samstag, 12. November, im Rahmen der Radical Wellness Party im Club Kauz in Kollaboration mit dem Kollektiv F96 statt. «Unsere Zusammenarbeit mit dem feministischen Kollektiv soll ein Beispiel dafür sein, wie Diskriminierung und Sensiblisierung in Nachtleben und Kultur intersektional angegangen werden kann», so die Verantwortlichen. 

«Sozialraum Nacht» steht im Fokus

Nicht nur ums Clubben geht es dieses Wochenende auch an der NIGHTS 2022. Seit vergangenem Donnerstag läuft die internationale Konferenz zu urbaner Freizeitkultur. Noch bis Samstagabend treffen sich in diesem Rahmen Nachtleben-Menschen aus den Bereichen Kultur, Gesundheit und Sicherheit sowie Stadtentwicklung und Ökonomie zu einem Austausch. Dies an Standorten wie der Photobastei, dem Moods oder Hive. Die Konferenz hat zum Ziel, «interaktiv und unabhängig von thematischen oder strukturellen Grenzen mögliche Entwicklungspfade für die nächtliche Stadt von morgen zu entwickeln».

Alexander Bücheli, Mediensprecher der Zürcher Bar- und Clubkommission, hat die Konferenz eröffnet und einige Tipps für den morgigen Samstag bereit: «Wir werden das Projekt ‹Zürich schaut hin› beleuchten, bei dem es um die Prävention von sexueller Gewalt geht. Mit internationalen Nacht-Lobbyisten aus Berlin, Wien, Amsterdam, Basel und Zürich wird darüber diskutiert, was in anderen grossen Städten passiert. Es wird einen Workshop geben, in dem sich als Frauen gelesene oder fühlende Menschen über Konsumerfahrungen und ihren Bedarf nach spezifischen Präventions- und Schadensminderungs-Angeboten austauschen können. Zudem wollen über den Tellerrand hinaus schauen. Zum Beispiel in der Form eines Panels über Sexarbeit.»

Denn laut Bücheli soll steht dieses Wochenende nicht nur der Club, sondern der gesamte «Sozialraum Nacht» im Fokus. Also auch die Menschen, die draussen auf der Strasse feiern – oder eben arbeiten. «Ein wichtiges Anliegen, das wir diskutieren werden, ist auch die Kulturbotschaft 2025/2028 und die Frage, wie wir es hinkriegen, dass das Nachtleben künftig zur Kultur gezählt wird und von gewissen Förderungsmöglichkeiten profitieren kann – so wie zum ersten Mal während der Corona-Pandemie war.»

An den Workshops und Panels werden laut Bücheli erfahrungsgemäss insgesamt rund 500 Personen teilnehmen – aus ganz unterschiedlichen Branchen. «Wir richten uns nicht spezifisch an Leute aus der Kultur, sondern an die, die sich mit Kultur auseinandersetzen. Auf welche Art auch immer.»

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RED – ein digitales Märchen für Kinder und Erwachsene? Weder noch

Kulturticker vom 8. November 2022

Der böse Wolf im Wald und Red in seinem Kinderzimmer. (Foto: Philip Frowein)

Von Seraina Manser

Das Theater Neumarkt hat Grimms Märchen «Rotkäppchen» in die Gegenwart und in ein Lehrstück für den Umgang mit den Gefahren des Internets übersetzt. Am Samstagnachmittag feierte das Stück Premiere. Schauplatz ist die Wohnung von Red (Luka Dimić) und seiner Mutter (Brandy Butler). Die eigentliche Handlung beginnt, als Red von der Grossmutter ein Smartphone geschenkt bekommt. Dann kommt Fay (Melina Pyschny) auf Besuch, um Tik-Tok-Tänze einzustudieren – was Teenies heute halt so machen. Dabei benutzen sie Ausdrücke wie «OMG», die in der heutigen Smash-Ära doch nur noch Boomers verwenden.

Eine aufwendige 3D-Animation (Kamran Behrouz) flimmert über die Leinwand: Der gefährlich Wald ist in dieser Version von Grimms Märchen ein Computerspiel namens «Wald» und steht stellvertretend für das ganze World Wide Web. Der böse Wolf ist eine unbekannte Person im Internet und das Rotkäppchen ein nonbinäres Kind namens Red. Dass der Wolf Fotos von Red verlangen und Red sogar treffen will, ist zumindest den Erwachsenen schon beim ersten Auftritt des Wolfes klar.

Was machen Teenies heutzutage, wenn sie alleine zu Hause sind? Tik-Tok-Choreos einstudieren. (Foto: Philipp Frowein)

Das Stück stellt laut Infotext einen verantwortlichen Umgang mit dem Smartphone und Social Media Plattformen in den Mittelpunkt und zeigt Kindern wie Eltern auf unterhaltsame Weise auf, wie sie mit den Herausforderungen umgehen können. Oder kurz zusammengefasst: Chatte mit niemanden, den du nicht kennst und schicke niemandem Fotos von dir. Oder um bei der Rotkäppchen-Thematik zu bleiben: «Verlasse den sicheren Pfad nicht». Auf diese Kernaussage wird in «Red» eine gute Stunde hingearbeitet. Dabei wurde kein Aufwand gescheut, damit sich die Kinder nicht langweilen. Treibende Game-Musik, Lichteffekte und einen Videoanruf mit der Grossmutter, die wie Märchenerzählerin Trudi Gerster spricht, was zumindest manche Erwachsenen zum Lachen brachte. 

Allen krassen Effekten zum Trotz: Am meisten erstaunt waren die wenigen Kinder im Publikum, als Red das Bett einklappte und es dann aussah wie ein Schrank. Da ging ein ungläubiges Raunen durch die Reihen der jungen Zuschauer:innen. Das Stück endet damit, dass die Mutter gerade rechtzeitig vom Kino heimkommt und verhindern kann, dass ihr Kind dem bösen Wolf Fotos ohne Hoodie schickt. Im Anschluss tanzen die drei eine Happy Tik-Tok-Choreo.

Es ist ein schmaler Grat, damit ein Kinderstück für Kinder, Teenies und Erwachsene unterhaltsam ist. Falls das der Anspruch des Stückes war, wurde er hier leider um einige digitale Parallelwelten verfehlt.

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Zwei Männer und ein Theaterstück über Depressionen

Kulturticker vom 24. Oktober

«Mi vida en transito» – ist auch ein Stück über die Definition von Männlichkeit.

Von Rahel Bains

Es war ein schweres Stück, das vergangenes Wochenende im Fabriktheater aufgeführt wurde. «Mi vida en transito», was so viel heisst wie «Mein Leben auf der Durchreise» handelt von zwei Männern, zwei Freunden, die beide mit Depressionen zu kämpfen haben. Live auf der Bühne war aber nur Savino Caruso, Elvio Avila wurde digital aus Argentinien zugeschaltet. Seine Rückreise in sein Heimatland nach über zehn Jahren in der Schweiz inklusive Studium an der Zürcher Hochschule der Künste war unfreiwillig – schuld war Corona. Da er als Kunstschaffender aufgrund der damals verhängten Massnahmen nicht mehr arbeiten konnte, verlor er seine Aufenthaltserlaubnis. Savino blieb mit ihm in Kontakt und irgendwann beschlossen die beiden, aus dem Erlebten, ihren Empfindungen und ihrer Krankheit ein Theaterstück zu konzipieren. Darin geht es um Verletzlichkeit, das Nicht-mehr-leben-wollen, aber Nicht-sterben-können und die Frage, was ihre Sozialisierung als Männer damit zu tun hat. «Es wird bei jeder Vorstellung intensiver», erzählte Caruso vergangenen Samstagabend kurz nach der Vorstellung. 

Verständlich: Sind doch die Erzählungen der beiden Männer autobiografisch und gehen deshalb unter die Haut – nicht nur ihnen selbst, sondern auch dem Publikum. «Mi vida en transito» ist übrigens das Gewinnerstück von Premio 2021, einem Nachwuchspreis der darstellenden Künste und war auf der Shortlist des 9. Schweizer Theatertreffens. Es wird aktuell im Rahmen einer Tournee in diversen Schweizer Städten aufgeführt. Morgen Dienstag, 24. Oktober, zum letzten Mal im Zürcher Fabriktheater. Weitere Spielorte findest du hier.

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Neuer Ort für Kunst und Kultur in 360 Quadratmeter grossem Keller

Kulturticker vom 22. Oktober

«Wir sind angetrieben vom Geruch des Widerstands», sagen die «Baby Angel»-Verantwortlichen. (Foto: zvg)

Von Rahel Bains

In einem rund 360 Quadratmeter grossen verwinkelten Kellerraum an der Geroldstrasse 31 entsteht derzeit ein neuer Ort für Kunst und Kultur, der sich der Zwischennutzung als Geschäftsmodell entziehen will und stattdessen auf Langfristigkeit setzt. Verantwortlich dafür ist ein Kollektiv, das einen einzigartigen Raum schaffen will, in dem «eine Praxis des Hybriden» kultiviert wird. In dem verschiedene Disziplinen und Kunstrichtungen zusammenfinden – «und das gerne auch nebeneinander».  Es soll Konzerte, Lesungen, Theater, Filmvorführungen, Performances und Ausstellungen geben.

Sie alle seien angetrieben vom Geruch des Widerstands, erzählt das Kollektiv. Widerstand unter anderem gegen die Gentrifizierung. Der Ort ist ein Knotenpunkt, zwischen Frau Gerolds Garten und dem Bahnhof Hardbrücke gelegen. Sie wollen – im Gegensatz zu einigen anderen Betrieben in der Nachbarschaft – nichts Kommerzielles umsetzen, aber trotzdem finanziell überleben können. 

Beim Projekt «Baby Angel» bisher mit dabei sind Tizia vom Gamut Kollektiv, Melinda und Ivana von «Hotmailhotnail», Lea vom AusbruchTheater, Maria vom Präsidentenbalkon, Irene, Valentin, Tom und David aus der Nachbarschaft Helsinki und BlauBlau Records, Välu vom Ostfest und Marcel von der Dogo Residenz. Um den Raum zu unterstützen, haben bereits mehrere Künstler:innen Konzerte gespielt. So unter anderem Evelinn Trouble, Jonas Albrecht, Amorpheus Silicone oder Anna Frey und Flo Stoffner.

Um die Grundlage für eine längerfristige Nutzung zu schaffen, braucht das «Baby Angel» aber ein Startkapital und damit etwas Unterstützung. Deshalb läuft auf wemakeit derzeit ein Crowdfunding. Alle Infos dazu findest du hier.

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Rauchfackeln, Parolen: Rechtsradikale stören Tanzhaus-Veranstaltung

Kulturticker vom 19. Oktober

Rechtsradikale stürmten eine Veranstaltung, an der auch Kinder anwesend waren. (Foto: Isabel Brun)

Von Rahel Bains

Am vergangenen Sonntag wurde im Tanzhaus das Format «Drag Story Time» von einer Gruppe, die der rechtsradikalen Szene zuzuordnen ist, gestört. Wie das Haus in einem offiziellen Statement berichtet, wurde versucht, im Veranstaltungsraum ein Transparent zu entrollen. Zudem soll eine Gruppe von circa neun Personen den Kloster Fahr-Weg vor dem Tanzhaus blockiert haben. «Diese Personen haben Rauchfackeln gezündet und Parolen skandiert. Die Veranstaltung, die Künstler:innen und nicht zuletzt unsere Gäste wurden massiv gestört und erschreckt.» 

Eine Gruppe hat sich später in den Sozialen Medien zur Tat bekannt, es wurde Anzeige erstattet. Das Haus verurteilt die Aktion «aufs Schärfste». Die Vorlesestunde für Kinder von drei bis zehn Jahren wird regelmässig von der Künstlerin Brandy Butler und ihren Drag-Freund:innen konzipiert und durchgeführt. Die Veranstaltung erfreue sich grosser Beliebtheit bei Klein und Gross und soll Diversität, Inklusion und Toleranz vermitteln. «Sie lebt von einem offenen Diskurs über Geschlechteridentitäten und Rollenvorbildern», schreibt das Tanzhaus.

Die Medienstelle der Stadtpolizei Zürich lässt auf Anfrage verlauten, dass seit Sonntag mehrere Anzeigen eingegangen sind. Am Ende werde die Untersuchungsbehörde entscheiden, so Mediensprecherin Judith Hödl. Die Ermittlungen seien im Gange, eine strafrechtliche Verfolgung sei durchaus möglich.

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17 Jahre Tagebuch: «Dachte scheiss drauf, ich lese einfach daraus vor»

Kulturticker vom 13. Oktober 2022

Lidija Burčak. (Foto: Yves Bachmann)

Von Rahel Bains

Seit 1990 schreibt Lidija Burčak Tagebuch. Die Zeilen darin waren nicht für die Öffentlichkeit gedacht, doch irgendwann fasste sich die Kunst- und Filmschaffende ein Herz und begann – zuerst im Freundeskreis, dann im grösseren Rahmen – aus ihren Tagebüchern vorzulesen. Im Band «Nöd us Zucker» veröffentlicht sie nun Auszüge aus 17 Jahren Tagebuch, die sie im Alter von 15 bis 32 geschrieben hat, und zwar ohne auch nur einen Satz daran zu ändern. Wir erfahren direkt und unmittelbar von den Sorgen und Wünschen einer heranwachsenden Seconda: Wie mit sich klarkommen, welchen Weg gehen und wen lieben? Sie kämpft mit Druck von aussen und Verwirrung von innen; ist wütend über die Lage der Welt, die Enge der Schweiz und die Langeweile in Winterthur. 

Anlässlich der Buchvernissage, die am Sonntag, 16. Oktober im Kaufleuten stattfindet, verrät die Zürcherin, wie es dazu gekommen ist, dass wir nun alle in ihrem Tagebuch lesen können, weshalb sie handschriftliches Schreiben sinnlich findet und ob sie auf die Fragen, die sie seit ihrer Teenie-Zeit begleiten, eine Antwort gefunden hat. 

Rahel Bains: Du hättest nie gedacht, dass du den Inhalt deiner Tagebücher einmal öffentlich preisgeben würdest. Wie ist es trotzdem dazu gekommen? 

Lidija Burčak: Ich hatte ein Ritual: Jeweils vor meinem Geburtstag meine alten Tagebücher lesen. Ich wollte bestimmte Fehler nicht wiederholen oder Sachen, die ich mir geschworen hatte, einhalten, an meinem Ziel weiterarbeiten etcetera. Dabei musste ich oft über meine Gedanken, Beschreibungen und die Geschehnisse lachen. Ich fand es unterhaltsam und konnte mich regelrecht darin verlieren. 2016 hatte ich dann für ein paar Monate einen Off Space. Die Idee war, dass ich dort eine Lesung organisiere und dafür eine neue Geschichte, mit den Tagebuchtexten als Inspiration, schreibe. Eine neue Geschichte zu schreiben, schaffte ich letztlich nicht, aber die Leute – bis auf ein paar Wenige waren es Bekannte – waren bereits eingeladen und in einem Moment dachte ich mir: Scheiss drauf, ich lese einfach daraus vor. Damals spielte ich Impro-Theater, wo ich vieles gelernt habe: Auf der Bühne stehen, Geschichten erzählen, behaupten, unterhalten und vor allem Fehler zelebrieren. Die erste Lesung war nicht lustig für mich, sondern sehr emotional, gebückt über den Büchern mit keinem Blick ins Publikum, so jedenfalls meine Erinnerung. Danach weinte ich, weil ich mein Herz so geöffnet hatte. Es war eindrücklich, wie viel Angst ich davor hatte, dass man über mich urteilen könnte.

Ein Eintrag fängt so an: «S Schlimmschte, find ich, isch es als Seconda dänn no die eigeni Herkunft z verlüügne, sich so fescht azpasse, dass mer alles wo eim unterscheidet ufgit. Also zum Bispiel min Name: Ich heisse Burčak. Bur-čak. Und nöd Burkhard, Burger oder Burtscher. Also sölläd sich die Schwiizer, und ich mein demit die engstirnige, endlich mal adä Name BURČAK gwöhne, verfluechti Scheisse! Die gönd mer alli so uf d Nerve! Ja verdammt nomal, wached uf ihr Idiote. Fuscht im Sack – das sölli mache? Ganz sicher nöd, du vertröchnete, igschüchterete Tubel!». Auch heute müssen sich junge Menschen mit migrantischem Hintergrund noch immer mit Ausgrenzung, Stigmatisierung und der Herkunftsfrage auseinandersetzen. Wird sich das jemals ändern?

Ich denke mittlerweile, dass sich fast alle Menschen früher oder später mit ihrer Herkunft auseinandersetzen, aber es variiert in der Intensität und verläuft in Phasen – Ausgrenzung und Stigmatisierung hingegen… Ich war einmal an einem Dokumentarfilmfestival in Wien und man schenkte den Filmemacher:innen einen Stoffbeutel mit dem Aufdruck «We need to see the world from as many perspectives as possible». Das ist ein Ansatz auf die Frage, ob sich das jemals ändern wird.

Das Tagebuchschreiben ging dir auch auf die Nerven, so steht es zumindest in folgendem Eintrag: «Ich mein, ich schrieb und schrieb und schrieb – was söll das? Guet, wenigschtens bin ich mit mim Chopf und mim Herz a einere Sach dra. Nämli dä Shit ufschriebe.» Sollten wir alle wieder mehr Tagebuch schreiben? Und falls ja, weshalb?

Ich hatte zeitweise den starken Drang, Geschehnisse schriftlich festzuhalten, damit ich sie vor dem Vergessen schütze. Schreiben kreiert meine ganz persönliche Erinnerung. Ausserdem ordnet Schreiben einerseits meine Gedanken und andererseits lässt es sich in sinnlosen Sätzen üben. Beides, also Ordnung und Unordnung, tut gut, je nach Lebenssituation. Ausserdem empfinde ich handschriftliches Schreiben als sinnlich. Tinte, die fliesst oder der Kugelschreiber, der sich durchs Papier drückt, wenn man die Wörter mit den Fingern fühlen kann, wenn man die vollgeschrieben Seiten sehen kann… ich muss lachen, wenn ich das so aufzähle, es ist mir fast unangenehm, zu intim. Ob andere Tagebuch schreiben sollen, kann ich beim besten Willen nicht sagen. 

Hast du auf die Fragen, die dich seit deiner Teenie-Zeit begleiten – «Was macht mich glücklich? Wo isch min Platz uf därä Wält? Wie chan ich uf mini Art und mit minere Art kreativ sii? Wür mich das glücklich mache? Chan ich überhaupt mit mir selber allei, mit minere Arbeit glücklich sii?» – eine Antwort gefunden?

Ein paar Antworten habe ich gefunden, ja. Und für die anderen bin ich womöglich noch nicht reif oder weise genug. Manche Fragen waren irreführend und haben mich auf interessante Wege manövriert, wo sie sich in Luft aufgelöst und von neuen Fragen ersetzt wurden. 

Winterthur, wo du aufgewachsen bist, findest du laut Buch «scheisse». Weshalb ist Zürich viel toller?

Ich mochte Winti nicht, ja. Aber das lag kaum an der Stadt selber, sondern vielmehr an mir und vermutlich daran, dass ich viel TV geschaut habe und mir in der Röhre ständig eine aufregendere Welt verkauft wurde, als die, in der ich gerade lebte. Wenn man etwas sucht, was man weder weiss, noch findet, dann kann man die Schuld easy auf die Umgebung abschieben. Das mache ich heute kaum mehr, ausser ich habe einen mega miesen Tag. Und wegen Züri: Es ist die grösste Stadt, die ich in der Schweiz bekommen kann und ich mag grosse Städte.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Kulturticker

Zürich ist eine Kulturstadt. Um dem auch in der journalistischen Berichterstattung gerecht zu werden, hat Tsüri.ch diesen Kulturticker lanciert. Hier halten wir dich über die grossen und kleinen Ereignisse aus der hiesigen Kunst- und Kulturlandschaft auf dem Laufenden. 

Widmer-Schlumpf im Theater: «Eine politische Achterbahnfahrt»

Kulturticker vom 7. Oktober 2022

«EWS – Der einzige Politthriller der Schweiz» ist eine Art neues Volkstheater. (Foto: Theater Neumarkt)

Von Rahel Bains

Eveline Widmer-Schlumpfs Wahl in den Bundesrat schrieb Politikgeschichte. Zum 15-jährigen Jubiläum nimmt das Theater Neumarkt die medialen und politischen Beben, die darauf folgten zum Anlass, um über die Schweizer Politkultur und das Spannungsfeld von Konkordanz-Demokratie und direkter Demokratie, Polarisierung und Sachpolitik nachzudenken. Herausgekommen ist «EWS – Der einzige Politthriller der Schweiz», «eine neue Art Volkstheater», das am Donnerstag in einem ausverkauften Saal Premiere feierte. 

Im Publikum sassen nicht nur etwa der damalige SP-Parteipräsident Hans-Jürg Fehr sowie der ehemalige SP-Nationalrat Andrea Hämmerle, beides Drahtzieher des Wahlmanövers, sondern auch das Tsüri-Team. Was wir sahen: 11 Evelines auf der Bühne – alle im gleichen, strengen Deuxpiece und unverkennbarer EWS-Frisur –  gespielt von Mitgliedern eines Chors sowie den Schauspieler:innen Melina Pyschny, David Attenberger und der Bühnenkünstlerin Lara Stoll.

Die Evelines erzählten die Ereignisse, die zur Wahl führten, nicht chronologisch, sondern in rasantem Tempo, mit wild durcheinander gewürfelten Originalzitaten von Zeitzeug:innen, Wegbegleiter:innen, Kritiker:innen, Kommentator:innen und EWS selbst. Irgendwann stand etwa Lara Stoll in der Rolle von Christoph Blocher, jedoch noch immer im EWS-Kostüm, mit einer Gitarre in der Mitte der Bühne und sang ein Lied über «Konkordanz und Kompromisse». 

Das Tsüri-Team gönnte sich mal wieder ein bisschen Kultur. (Foto: Michel Rebosura)

Wir finden:

«Ein Stück, das Brutalismus 3000 laufen lässt, kann nur geil sein. Faszinierend war, wie sie es geschafft haben, EWS liebevoll und witzig zu verkörpern, die Absurditäten rund um diese Wahl auf die Bühne zu bringen und gleichzeitig auch nichts verschönerten: EWS ist eine rechte Politikerin mit klarer Linie. Das Publikum lachte viel mit all den Evelines auf der Bühne – immer auf Augenhöhe. Ein respektvolles Theater, das sich die echte EWS wirklich ansehen sollte. Eine politische und emotionale Achterbahnfahrt. Die vielen Referenzen zu damaligen Politiker:innen könnten verwirren. Aber tolle Hodler Kostüme! Christoph Blocher hätte Freude.» Redaktorin Lara Blatter

«Vielleicht ist man zu wenig im Thema drin und versteht viele Referenzen nicht, wenn man die Geschichte von EWS nur oberflächlich kennt, aber ich kann die allgemeine Begeisterung nicht so ganz nachvollziehen. Die beklemmende Biederkeit der Schweizerischen Bundespolitik der 2000er wurde gut mit einheitsgrauen Kostümen, Szenen am Kopierer und am klingelnden Wandtelefon eingefangen. Ansonsten changierte die Inszenierung zwischen schrill-klamaukig und eintönig referenziell. Schon klar, dass man lediglich anhand der vorhandenen Quellen spekulieren kann, wenn die echte EWS ein Buch mit sieben Siegeln ist. Und doch wäre es meines Erachtens reizvoller gewesen, sich mehr mit den inneren Beweggründen und der Zerrissenheit der Figur auseinanderzusetzen. Schliesslich wurde es ja als Politthriller und nicht als Politkomödie angekündigt.» Redaktor Steffen Kolberg

«Kurzweilig, witzig und sogleich bitterernst – Politik at it’s best.» Redaktorin Isabel Brun

«Mit viel Situationskomik, mal treffsicheren, mal schiefen Akzenten wird das geschäftige Treiben um das Bundeshaus pointiert auseinander gebröselt und die ganze helvetische Absurdität des Politthrillers um EWS vor Augen geführt. Noch nie habe ich an einem Abend im Neumarkt Theater so viel gelacht.» Redaktionspraktikantin Coraline Celiker

«Sehr unterhaltsam. Ich kann mich noch gut an die Bundesratswahlen von damals erinnern – mit Christophe Darbellay, Ursula Wyss, Andrea Hämmerli und den anderen Architekt:innen der Amtsentfernung von Blocher. EWS war überall und ist es mit dieser Inszenierung erneut. Jetzt wissen wir auch, dass Lara Stoll neben Spoken Word und Musik auch ganz gut theäterlen kann!» Chefredaktor Simon Jacoby

«Sag Ja» – das forderten damals vor allem Frauen von der künftigen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf. (Foto: Lara Blatter)

Ein Paradebeispiel für Frauen in der Politik

Regie geführt hat Piet Baumgartner, Theatermacher, Dokumentarfilmer und visueller Künstler. Er war bei der Bundesratswahl 2007 selbst als junger Journalist im Bundeshaus und die Thematik hat ihn seither nicht losgelassen. «Einst hatte mich das Schweizer Fernsehen gefragt, ob ich eine Idee für einen Spielfilm hätte. Ich antwortete, dass das Schweizer System nicht viel hergibt für einen Politthriller – ausser die Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf, respektive die damit verbundene Abwahl Christoph Blochers. Diese Geschichte müsse man aufarbeiten.»

Dies ist nun mit dem Stück, bei dem Julia Reichert, Co-Direktorin des Theater Neumarkt, als Dramaturgin in Co-Regie involviert war, vollbracht. Sie zeigt sich nach der ersten Vorstellung zufrieden: «Gestern Abend war grandios. Es ist toll, wenn man im Theater spürt, dass die Leute eine Beziehung zu dem haben, was wir zeigen.» Dass auch an der Geschichte beteiligte Politiker:innen zu Gast waren, habe sie zusätzlich nervös gemacht, «doch als alle begeistert aus dem Saal gekommen sind, war dies das schönste Lob», so Reichert.

Über die Absurdität des Schweizer Systems


Während der Stückentwicklung wurden viele Gespräche mit den damals involvierten Politiker:innen geführt. So etwa mit Christoph Blocher oder Andrea Hämmerle. Auch die ehemalige Bundesrätin wurde angefragt – vergeblich. «Sie hat ein Gespräch mit uns freundlich abgelehnt mit der Begründung, sie wolle die künstlerische Freiheit nicht beeinflussen. Eine schöne Absage, wie ich finde. Natürlich ist es ein Stück über sie, aber vor allem auch über die Absurdität und den Auswuchs des Schweizer Systems. Nicht viele Politiker:innen sind so konsequent wie Widmer-Schlumpf  – sie hat sich ja nie mehr dazu geäussert und bleibt dabei. Andere Politiker:innen hingegen suchen ja ständig die Öffentlichkeit.»   

Eveline-Darstellerin Lara Stoll kennt er noch aus dem Filmstudium. «Sie ist eine Künstlerin, die ich sehr verehre. Sie vereinbart scheinbar mühelos Dadaismus, totale Weirdness und kann dennoch ein breites Publikum ansprechen.» Widmer-Schlumpf selbst war übrigens auch eingeladen an die Premiere, jedoch nicht anwesend. Baumgartner hofft, dass sie trotzdem an eine der geplanten Vorstellungen kommen wird: «Man hört, dass sie einen guten Humor habe.» 

Auch Baumgartner freut sich, dass das Publikum von Anfang an Lust hatte, sich zu erinnern. «Unser Ansatz war, in die Tiefe zu gehen, aber auch Gelegenheit zu bieten, über den Politzirkus lachen zu dürfen.» Und doch sei die Geschichte heftig und die Hexenjagd, die auf Widmer-Schlumpf gemacht wurde, ein Paradebeispiel für Frauen in der Politik. Bis heute habe sich diesbezüglich nicht viel geändert. Widmer-Schlumpf sei noch immer eine Figur, die polarisiere und auch ein Symbol von Sachpolitik: «Dass eine solch unscheinbare Politikerin, die nicht das Rampenlicht sucht, im Mittelpunkt eines Polit-Thrillers steht, ist sehr schweizerisch und faszinierend. Alle kennen alle, alle reden mit allen, aber gleichzeitig gibt es einen grossen Verrat», so Baumgartner. Für ihn war bei der Entwicklung des Stücks deshalb schnell klar: Aufgrund der vielen verschiedenen Versionen der Geschichte braucht es verschiedene Evelines. «Ich hätte es nicht interessant gefunden, wenn Rollen im klassischen Sinn gespielt worden wären.»

Übrigens: Die beiden Hauptdarsteller:innen Melina Pyschny und David Attenberger sind ab Saison 22/23 neu im Theater Neumarkt-Ensemble, wie auch Sofia Elena Borsani und Challenge Gumbodete. Sie ersetzen Brandy Butler, Alireza Bayram und Jakob Leo Stark. «Sie alle werden aber weiterhin stark mit unserem Haus verbunden bleiben, wenn auch in einer anderen Form der Zusammenarbeit», so Reichert. Sie freut sich auf die kommende Spielzeit und hat auch gleich einen Tipp bereit für alle, die noch nicht genug haben von der Kombination «Auseinandersetzung und Humor»: «Keeping up with the penthesileas» – ein Stück über den neoliberalen Feminismus à la Kardashians.

Kulturticker

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