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Von Yves De Prà

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Von Noëmi Laux

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8. Mai 2023 um 18:22

Schwamendingen und die Angst vor den steigenden Mieten

Die Einhausung der A1 in Schwamendingen gilt als eines der spektakulärsten Bauprojekte Zürichs. Im Zuge des Millionenprojektes werden viele bezahlbare Genossenschaftswohnungen abgerissen. Durch die Teuerung können sich viele Alteingesessene die Mieten nicht mehr leisten. Über die Gewinner:innen und die Verlierer:innen der Autobahn-Einhausung.

Mit der Einhausung der A1 in Schwamendingen soll die Lebensqualität der Anwohner:innen verbessert werden; das wird zu einer Mietpreiserhöhung führen. (Foto: Yves De Prà)

Die Sonne brennt an jenem Donnerstagmorgen auf den blanken Beton. Es ist einer der ersten warmen Tage im Jahr und trotzdem sind die Strassen leer im Quartier rund um den Ort, wo gerade eines der grössten Bauprojekte Zürichs entsteht – die Einhausung der A1. Noch deutet wenig darauf hin, dass hier, wo im Moment noch die Autobahn mitten durchs Quartier führt, in den nächsten Jahren eine riesige Parkanlage das Stadtbild prägen wird. Noch ragen riesige Betonklötze aus dem Boden, hängt Staub in der Luft, und wird die Ruhe im Quartier übertönt von lautem Baustellenlärm.

Grösstes Bauprojekt in Zürichs Geschichte 

Die Einhausung ist eines der spektakulärsten Bauprojekte Zürichs. Während fünf Jahren wird die A1 zwischen der Verzweigung Zürich Ost und dem Schöneichtunnel stückweise «eingehaust». Der Autobahndeckel soll den Kreis 12 aufwerten und die Lebensqualität der Anwohner:innen verbessern. Auf der Betonhülle entsteht ein neuer Grünraum, der Überlandpark. Die Kosten von insgesamt 450 Millionen Franken teilen sich Bund, Kanton und Stadt Zürich. Im Sommer 2024 sollen alle Fahrbahnen wieder dem Verkehr übergeben werden, im Frühjahr 2025 ist die Eröffnung des Überlandparks geplant.

Ein einzigartiges Projekt: Die A1 führt mitten durch Schwamendingen und wird stückweise «eingehaust». (Foto: einhausung.ch)

32 Prozent aller Wohnungen in Schwamendingen sind Genossenschaftswohnungen – deutlich mehr als im Rest der Stadt. Viele davon grenzen an die Autobahn und werden im Zuge der Einhausung abgerissen. Die Kritik, dass dadurch bezahlbarer Wohnraum schwindet, ist berechtigt, aber relativierbar. Denn die sechs Wohnbaugenossenschaften in Schwamendingen planen neue Wohnsiedlungen im Überlandpark. Aber: Auch wenn die Mietpreise gemäss Schätzungen der NZZ nach der Aufwertung immer noch 30 Prozent unter dem Zürcher Durchschnitt liegen, werden sie sich im Vergleich zu heute erhöhen. Und das kann für Menschen mit niedrigem Einkommen zum Problem werden.

Eine Teuerung ist unumgehbar

Eine Problematik, die auch Alt-Stadtrat und Stadtforscher Richard Wolff  (AL) beschäftigt. «Die Dimension der Baustelle konnte sich niemand vorstellen», erzählt Wolff. Rund 40 Liegenschaften wurden abgerissen, hunderte Mieter:innen mussten sich ein neues Zuhause suchen. Die meisten der direkt an die Autobahn angrenzenden Wohnhäuser waren alt – und darum die Mieten sehr tief. «Wer dort gewohnt hat, war nicht privilegiert», weiss Richard Wolff. Und: «Diese Leute kommen höchstwahrscheinlich nicht wieder zurück, weil die Mieten in Neubauten auch in Genossenschaften immer höher sind als vorher.» So komme es trotz des hohen Anteils an gemeinnützigen Wohnungen zu Gentrifizierung: Wer früher an der Autobahn gewohnt hat, werde sich die neuen Wohnungen nicht mehr leisten können, ist Wolff überzeugt. Dies sei weder ein spezifisches Problem der Einhausung, noch von Schwamendingen, sondern «leider ein Teil der gegenwärtigen Entwicklung in der Stadt Zürich».

Höhere Lebensqualität versus günstiger Wohnraum

Was löst die Einhausung in jenen Menschen aus, die unmittelbar betroffen sind und ihre Wohnungen verlassen müssen? Ein Spaziergang durchs Quartier soll Antworten geben.

Unser erster Gang führt uns zu einem Reihenhaus, das direkt an die Baustelle grenzt und in wenigen Monaten abgerissen werden soll. Einige der Wohnungen stehen bereits leer; die Rollläden sind unten, an der Klingel hängen weisse Schilder ohne Namen. Auch Antoinette Dacunto wird bald ausziehen müssen. Warum sie aus ihrer Wohnung raus muss, kann sie nicht verstehen. «Das sind doch alles noch gut erhaltene Häuser», sagt sie und zeigt auf den Block, der 37 Jahre lang ihr Zuhause war. Der 74-Jährigen wäre es lieber gewesen, würde alles so bleiben, wie es war: Durch die angrenzende Autobahn sei es zwar laut gewesen, dafür aber günstig. «Wir, die schon so lange hier leben, haben uns an den Strassenlärm gewöhnt. Dass wir gehen müssen, macht mich traurig.» 

Nach Fertigstellung der Einhausung sollen neue Genossenschaftswohnungen entstehen. Antoinette Dacunto und ihr Mann hätten die Möglichkeit gehabt, in einen der Neubauten einzuziehen, sie lehnten aber ab – «zu teuer». Wie hoch der neue Mietzins sein wird, wisse sie zwar noch nicht, «sicher aber um einiges teurer als jetzt». In zwei Monaten ziehen sie und ihr Mann nun in eine kleinere Wohnung in einem anderen Quartier im Kreis 12.

Antoinette Dacunto gehört zu den Verliererinnen des Millionenprojektes: Sie muss ihre Wohnung nach 37 Jahren verlassen. (Foto: Yves De Prà)

In einem kleinen Park direkt neben der Einhausung treffen wir auf eine Frau beim Spazieren. Sie erzählt, dass sie hier aufgewachsen sei, «nur ein paar Strassen weiter». Heute wohnt sie nicht mehr in Schwamendingen, besucht aber regelmässig ihre pflegebedürftige Mutter. Schwamendingen habe sich stark verändert, erzählt sie. «In den 70ern, als ich ein Kind war, gab es viel mehr Grünflächen und Sitzbänke. Heute fehlt es mir an Charme», erinnert sich die Alt-Schwamendingerin. Grundsätzlich sei sie für die Einhausung, Angst habe sie aber vor den bevorstehenden Mietzinserhöhungen.

Anfang der 90er-Jahre habe sie für ihre Wohnung etwa 900 Franken bezahlt. «Heute kostet eine vergleichbare Wohnung um die 1600 Franken.» Gerne würde sie zurück nach Schwamendingen ziehen, könne sich die Miete mit ihrer Rente aber nicht mehr leisten. Die Einhausung würde die Suche nach einer preisgünstigen Wohnung nochmal verschärfen, befürchtet sie.

Keine Einigung: «Diese Grenze wird immer bleiben»

Ähnliche Kritik aus der Pizzeria Dreispitz, die unmittelbar an die Autobahn grenzt. Jasmin und Franco Caiazzo führen das Restaurant seit mehr als 20 Jahren. Die Einhausung habe ihnen lange Zeit Kopfschmerzen bereitet, erzählen sie. Insbesondere als ihnen mitgeteilt wurde, dass die Unterführung wegen der Bauarbeiten gesperrt werden würde. «Für viele Kund:innen wurde der Besuch zu umständlich, weil wir schwieriger zu erreichen sind.» Die Unterführung sei nun schon über ein Jahr länger gesperrt als ursprünglich geplant. «Hätten wir das gewusst, hätten wir gekündigt», erzählt die Inhaberin. Das Ehepaar ist zwar davon überzeugt, dass die Einhausung viel Gutes fürs Quartier bringt, aber: «Ich frage mich schon, wo all die Menschen hin sollen, die auf günstigen Wohnraum angewiesen sind.» Auch, dass die Einhausung die Quartiere, die davor getrennt waren durch die Autobahn, wieder näher zusammenbringen wird, glaubt sie nicht: «Diese Grenze wird immer bleiben.»

Die Pizzeria Dreispitz grenzt direkt an die Einhausung und brachte den Betreiber:innen lange Zeit Kopfschmerzen. (Foto: Yves De Prà)

Günstiger Wohnraum und die vielen Grünflächen zogen in den letzten 30 Jahren immer mehr Menschen in den Kreis 12. Zählte Schwamendingen 1934 nur rund 2800 Einwohner:innen, so verzehnfachte sich die Einwohnerzahl bis in die 1970er-Jahre. Es entstanden rund 8000 Genossenschaftswohnungen und zahlreiche günstige Reihenhäuser. In den 80er-Jahren verloren viele Menschen durch Fabrikschliessungen ihre Arbeit und verliessen den Kreis 12. Wohnungen wurden frei und von jungen Familien – oft mit Migrationshintergrund – bezogen. Der Ausländer:innenanteil im Quartier stieg, die Bevölkerung überalterte und Schwamendingen bekam den Ruf eines «Ghettos» und Problemquartiers. Dabei hat der Kreis 12 die niedrigste Kriminalitätsrate der Stadt Zürich.

Um die Jahrtausendwende begann sich Schwamendingen erneut zu verändern: Das Quartier wurde modernisiert, neuer Wohnraum geschaffen und bestehender aufgewertet. Immer mehr gut verdienende Personen und Familien zogen nach Schwamendingen. Eine Entwicklung, die sich mit der Fertigstellung der Einhausung weiter beschleunigen dürfte. Gemäss Prognosen wird die Einwohner:innenzahl im Kreis 12 in den nächsten zehn Jahren von 34’000 auf über 40’000 ansteigen. Auch das Durchschnittseinkommen ist im Kreis 12 in den letzten Jahren deutlich stärker gestiegen als im Rest der Stadt.

Der Nutzen überwiegt

Die Stadt Zürich sieht günstige Voraussetzungen für eine «positive Transformation und eine sozialverträgliche räumliche Entwicklung», wie es auf Anfrage heisst. Dies, weil der Anteil an gemeinnützigen Wohnungen im Kreis 12 und auch direkt um den neu entstehenden Überlandpark überdurchschnittlich hoch ist. Die Genossenschaften hätten sich zu einem «sozialverträglichen Umgang mit der bestehenden Mieterschaft» bekannt. 

Mit der Einhausung und dem neuen Park werden nicht nur die direkt angrenzenden Grundstücke massiv an Wert gewinnen. Auch im weiteren Einflussbereich der Einhausung wird die Lebensqualität steigen, wenn nicht mehr 110’000 Autos täglich mitten durch das Wohnquartier brettern. Deshalb hat die Stadt den Kontakt zu den grösseren kommerziellen Grundeigentümer:innen gesucht: Hierbei habe sich gezeigt, dass nur sehr vereinzelt Planungen angedacht seien. Trotzdem sei mittelfristig davon auszugehen, dass eine «gewisse Aufwertung» erfolgen wird, heisst es von der Stadt, deren Handlungsmöglichkeiten oftmals auf «Sensibilisierung der Bauherrschaften» beschränkt seien. Der hohe Anteil an gemeinnützigem Wohnraum werde aber einen «deutlich dämpfenden Effekt auf die Entwicklung der Mietpreise ausüben».

«Die Zeiten, in denen man für eine Wohnung 600 oder 700 Franken bezahlte, sind vorbei.»

Alfons Nievergelt, Präsident des Schwamendinger Quartierverein

Auch für Alfons Nievergelt, Präsident des Schwamendinger Quartiervereins, überwiegen die Vorteile. Mit Sicherheit gebe es Leute, die ihre Wohnung verlieren und Schwierigkeiten haben werden, etwas Neues zu finden. Nievergelt betont aber, dass die Genossenschaften sich stark dafür einsetzen würden, möglichst für alle, die ihre Wohnungen verlieren, bezahlbare Anschlussmöglichkeiten zu finden. Und: «Die Zeiten, in denen man für eine Wohnung 600 oder 700 Franken bezahlte, sind vorbei – in Schwamendingen wie auch in anderen Stadtteilen.» 

Obwohl seit Beginn klar gewesen sei, dass die Einhausung mit einer Mietpreiserhöhung einhergehen würde, habe es aus der Bevölkerung kaum Gegenwind gegeben, erzählt Nievergelt. «Keine einzige Demonstration, kein Leserbrief oder ein ‹Dagegen-Komitee›.» Man habe auch in der Bevölkerung schnell gemerkt, dass die Einhausung die Lebensqualität in Schwamendingen deutlich verbessern werde. «Ausserdem wurden die Einwohner:innen von Anfang an sehr stark in den Prozess und wichtige Entscheidungen mit einbezogen. Wir wurden nicht vor vollendete Tatsachen gestellt, sondern durften unser Quartier selber mitgestalten.»

Noch deutet wenig darauf hin, dass hier in wenigen Jahren eine riesige Grünfläche entstehen wird. (Foto: Yves De Prà)

Nievergelt ist überzeugt: «Langfristig wird sich Schwamendingen verändern. Mit der Ruhe wird es auch wieder mehr kinderreiche Familien und besser Verdienende nach Schwamendingen ziehen. Diese neue Durchmischung wird dem Kreis 12 guttun.» Nievergelt freut sich über das «neue» Schwamendingen, hofft aber auch, dass der Dorfcharakter im Kreis nicht ganz verschwinden wird.

Mittlerweile ist es Mittag, die Sonne steht hoch am Himmel. Die Bauarbeiter:innen haben ihre Arbeit eingestellt und es ist Stille eingekehrt. Die Stille im Quartier wird weder vom Baustellen- noch vom Verkehrslärm gestört – und gibt einen Eindruck von diesem «neuen» Schwamendingen ohne Strassenlärm und Abgasgerüche.

(Redaktionelle Mitarbeit: Simon Jacoby, Bilder: Yves de Prà)

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