Zürich will es unbedingt, diese Städte haben es schon: das Vorkaufsrecht
Zürich, Winterthur und Uster drängen darauf, Lausanne hat es und auch eine süddeutsche Stadt schwärmt davon: das Vorkaufsrecht. Zeit, sich vor der kommenden Abstimmung anzuschauen, wie es funktioniert und eingesetzt wird.
«Das hier ist eine Ausnahmesituation, denn das Problem der hohen Mieten beschäftigt alle.» Mit diesen Worten eröffnete Corine Mauch Anfang November eine Pressekonferenz zum Vorkaufsrecht (VKR). Die «Ausnahme»: Neben Mauch sassen an diesem Morgen auch der Winterthurer Stadtpräsident Michael Künzle (Mitte) und die Ustermer Stadtpräsidentin Barbara Thalmann (SP) im Stadthaus.
Sie alle sprachen sich «mit Nachdruck» für das Vorkaufsrecht aus. Es sei «klar nicht im Interesse der Allgemeinheit, wenn sich die Menschen das Leben in der Stadt nicht mehr leisten können», sagte Mauch. Zugleich stellt sie klar, dass das VKR nur bei Arealen mit strategischer Bedeutung zum Einsatz kommen wird: «Wir werden sicher keine Einfamilienhäuser kaufen.»
«Wir brauchen rasche Antworten auf die steigenden Mieten», sagt dazu die Ustermer Stadtpräsidentin Barbara Thalmann (SP). Denn auch in der drittgrössten Stadt des Kantons Zürich «ist das Thema Wohnen definitiv angekommen».
«Auch in Winterthur ist das Thema Wohnen inzwischen die Sorge Nummer 1 der Bevölkerung», betont der Winterthurer Stadtpräsident Michael Künzle (Mitte). Dazu kommt: «Nur 15 Prozent der Wohnungen sind gemeinnützig und es steht wenig Bauland zur Verfügung». Zugleich beschwichtigt er: «Ein allzu häufiger Einsatz des Vorkaufsrechts ist gar nicht finanzierbar».
«Die wichtigste Abstimmung des Jahrhunderts»
Damit fügen sich die Stadtpräsident:innen in eine breite Allianz von Mitte bis Links. Auch die bislang zerstrittene städtische GLP hatte sich Ende Oktober an einer Mitgliederversammlung mehrheitlich für das Vorkaufsrecht ausgesprochen. SP-Nationalrätin Jacqueline Badran war an besagtem Abend als Rednerin zu Gast und sprach von der «wichtigsten Abstimmung des Jahrzehnts, wenn nicht des Jahrhunderts».
Die Befürworter:innen nennen immer wieder auch das Stichwort Lausanne. So auch im Stadthaus: «Das Vorkaufsrecht ist pragmatisch und hat sich in Lausanne bereits bewährt», sagt Corine Mauch. Der Kanton Waadt hat das Werkzeug im Jahr 2020 eingeführt, die viertgrösste Schweizer Stadt hat davon seither 15 Mal Gebrauch gemacht. Für Mauch ein Beleg dafür, dass das Mittel «mit Augenmass» eingesetzt werde, ohne den Markt umzukrempeln. Zugleich seien so 240 Wohnungen langfristig als gemeinnützig gesichert worden. Sie resümiert: «Lausanne beurteilt die Erfahrungen als rundum positiv.»
Im Welschland gelten spezifische Regeln für das Vorkaufsrecht: so muss das Ziel die Schaffung von Sozialwohnungen sein. Ausserdem betrifft es nur Grundstücke, die mehr als 1500 Quadratmeter gross sind und sich in einem Bezirk mit Wohnungsmangel befinden, also eine Leerwohnungsziffer unter 1,5 Prozent aufweisen.
Neben den 15 Fällen aus Lausanne machten auch vier weitere Gemeinden im Kanton Waadt vom Vorkaufsrecht Gebrauch, berichtet die Waadter Abteilung für Wohnungswesen.
Gefragt, wie der Kanton das Instrument bewertet, antwortet die Abteilung: «Dass durch dieses Instrument gemeinnütziger Wohnraum geschaffen werden kann, ist eine positive Nachricht, doch die Zahlen bleiben im Vergleich zu anderen Instrumenten noch marginal.»
Tatsächlich ist das Vorkaufsrecht im Kanton Waadt nur eine von mehreren Massnahmen, die im Jahr 2018 eingeführt worden sind. Dazu gehören auch Abrissbewilligungen, finanzielle Unterstützung für gemeinnützige Bauträger und Vorschriften, dass bei Neu- und Umbauten ein Anteil preisgünstiger Wohnungen entstehen soll.
Eine Stadt schwärmt vom Vorkaufsrecht und dem «Zauberwort»
Auch eine andere Stadt – praktisch gleich gross wie Lausanne und ähnlich weit von Zürich entfernt – hat schon Erfahrungen mit dem Vorkaufsrecht gesammelt: Ulm in Baden-Württemberg. Der Ulmer Bürgermeister Tim von Winning betont im Gespräch, das Vorkaufsrecht in Deutschland sei schon sehr alt und reiche bis ins 19. Jahrhundert zurück. Jedoch wurde es über die Jahre immer wieder angepasst. Für ihn ist das Vorkaufsrecht «kein Gamechanger, aber ein starkes Instrument».
Nur eine Handvoll Mal sei das VKR in Ulm in den letzten zehn Jahren zum Einsatz gekommen. Jedoch gibt es dabei einen entscheidenden Twist: «Allein das Vorhandensein des VKR hilft der Stadt sehr dabei, ein starker Player im auf dem Markt zu sein.» Grund dafür ist ein Zauberwort der deutschen Beamtensprache: Abwendungsvereinbarung. Dieses erlaubt es der Stadt, mit dem oder der potenziellen Käufer:in Verhandlungen darüber zu starten, wie das Land genutzt werden soll.
So kann die Stadt etwa sagen: «Wenn du eine gewisse Menge günstigen Wohnraum auf dem Land bereitstellst, darfst du es kaufen, wenn du nicht einwilligst, kaufen wir das Land selbst.» Die Stadt erhält damit eine gewisse Kontrolle über den Wohnungsmarkt, ohne nur einen Cent oder Rappen auszugeben. Von Winning formuliert es so: «Die Chance, das Vorkaufsrecht auszuüben, verlangsamt den Grundstückverkehr. Man kommt mit den Käufer:innen ins Gespräch über die Frage, wieso wollen wir das Grundstück kaufen und kann der oder die Käufer:in diese Ziele auch erreichen?»
Das unterscheidet sich wie Tag und Nacht von der Situation im Kanton Zürich, wo etwa Barbara Thalmann über die Situation in Uster sagt: «Wir bekommen Handänderungen oft gar nicht mit.»
Anders als Lausanne darf Ulm zum «Verkehrswert» kaufen, also zum Wert einer Immobilie, wie ihn ein:e neutrale:r Gutachter:in einschätzt. Ein Beispiel aus Ulm: Ein Besitzer stand kurz davor, seine Immobilie für 1,1 Millionen Euro zu verkaufen, dann intervenierte die Stadt und bot den Verkehrswert von 700’000 Euro an — der Besitzer akzeptierte widerwillig, hätte aber auch ablehnen und das Grundstück behalten dürfen.
Kaufte Ulm vor der Gesetzesänderung vor allem unbebaute Randgebiete auf, greift sie seither auch öfter bei bebauten städtischen Grundstücken zu. Ein grosser Gewinn für die Stadt, auch wenn von Winning diese Technik als «marktliberal problematisch» bezeichnet, da die Stadt unter dem Marktwert kaufen darf. Noch immer gilt in Ulm, dass die Stadt nur bei bestimmten relevanten Grundstücken das Vorkaufsrecht hat, und dass Käufer:innen und Verkäufer:innen dieses auch rechtlich anfechten können.
Unabhängig vom Abstimmungsresultat werden die Schweizer Grundstücke weiterhin zum Marktwert die Hand wechseln. So ist es in Lausanne, und so sieht es auch der Initiativtext für den Kanton Zürich vor.
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Bachelorstudium in Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich, Master in Kulturanalyse und Deutscher Literatur. Während des Masters Einstieg als Redaktionsmitglied in der Zürcher Studierendenzeitung mit Schwerpunkt auf kulturellen und kulturkritischen Themen. Nebenbei literaturkritische Schreiberfahrungen beim Schweizer Buchjahr. Nach dem Master Redaktor am Newsdesk von 20Minuten. Nach zweijährigem Ausflug nun als Redaktor zurück bei Tsüri.ch