Sans-Papier-Kolumne: Immer mit dem Koffer auf den Schultern - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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4. November 2019 um 05:00

Sans-Papier-Kolumne: Immer mit dem Koffer auf den Schultern

Geschätzt leben 10’000 Menschen ohne Papiere in Zürich, sogenannte Sans-Papiers. Sie leben hier, sie arbeiten hier, aber sie haben (fast) keine Rechte und keine Stimme. Licett Valverde, die als Sans-Papier in die Schweiz kam, schreibt einmal im Monat auf Tsüri.ch über ihre Erlebnisse.

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Bild: Claudio Schwarz via Unsplash

Eine der grössten Schwierigkeiten von Sans-Papiers in der Schweiz ist das Wohnen. Die Voraussetzung für die Mietung einer Wohnung besteht zunächst darin, dass mindestens die Aufenthaltsbewilligung B vorliegt.

Während den zwei Jahren und zwei Monaten, in denen ich in Zürich illegal lebte, wohnte ich an zehn verschiedenen Orten. Ich kann mich noch an jedes dieser Häuser erinnern – und an das «Warum» ich jeweils ausziehen musste.

Die ersten drei Wochen nach unserer Ankunft in der Schweiz war ich bei der Familie, die mir geholfen hatte, die Grenze von Deutschland aus zu überqueren. Es war nicht möglich, dort zu bleiben, da die Wohnung zu klein für so viele Menschen war. Deshalb organisierte mir die Familie eine Ein-Zimmer-Wohnung im gleichen Dorf, in dem auch sie lebten. Die Wohnung wurde nicht in meinem Namen, sondern dem eines Freundes gemietet. Nach ein paar Wochen teilte ich die Wohnung mit einem jungen Mann, der auch als Sans-Papier in der Schweiz lebte.

Bereits einen Monat nach seiner Ankunft wurde er am Bahnhof im Dorf von der Polizei kontrolliert und anschließend ausgeschafft. Das Entsetzen war gross – so gross, dass ich nach dieser Erfahrung nicht mehr an diesem Ort leben wollte.

Ich fühlte mich ständig beobachtet und dachte, ich hätte das «Sans-Papiers»-Wort auf meiner Stirn geschrieben. Meine irrationalen Gedanken gingen sogar soweit, dass ich befürchtete, meine Nachbarn würden mich der Polizei verraten. Als ich den Zug nehmen musste, schaute ich, dass ich nur ein paar Sekunden vor der Einfahrt des Zuges am Bahnhof ankam. Ich wartete jeweils bis zur letzten Minute im Haus, so dass ich rennen musste, damit ich den Zug erwischte. Am Bahnhof lange zu warten, bedeutete für mich, mich als Verdächtige zu zeigen.

Insgesamt lebte ich drei Monate an diesem Ort, und obwohl ich gerade in der Schweiz angekommen war und nur sehr wenige Leute kannte, suchte ich nach einem Ausweg aus der Wohnung. Hauptsächlich aus dem Grund, das Dorf verlassen zu wollen.

Es gelang mir, im Haus einer Frau wohnen zu können, die jemand suchte, der*die sich um ihre Kinder kümmerte. Sie selber besuchte während zwei Monaten ihr Heimatland, um einige persönliche Angelegenheiten zu klären. Mit Teenagern und einer Freundin der Mutter – die sich den Kindern schlussendlich angenommen hatte – zusammen zu leben, war nicht sicher keinen Luxus. Aber immerhin hatte ich eine Matratze auf dem Boden eines Mehrbettzimmers, in dem ich meinen ersten Winter in diesem Land verbringen konnte.

Einige Zeit später besorgte mir eine gute Freundin, mit der ich heute immer noch in Kontakt stehe, ein Zimmer in der Wohnung eines Paares. Der Mann wurde in Brasilien von einem Schweizer Ehepaar adoptiert als er noch ein Kind war und seine Partnerin war ein sehr freundliches, junges brasilianisches Mädchen. Meine Koexistenz verlief ganz gut, auch wenn ich das Zimmer mit vier anderen Personen teilen musste.

Schwierigkeiten traten erst auf, als der Hausbesitzer anfing, mich sexuell zu belästigen. Vom ersten Moment an wusste ich, dass meine Tage an diesem Ort gezählt waren. Ich versuchte, ihn so gut wie möglich zu ignorieren. Er widerte mich an. Ich war in einem Dilemma: Einerseits wollte ich seiner Frau erzählen, was los war, andererseits wusste ich, dass sie mir sagen würde, dass ich gehen musste. Und ich konnte nirgendwo hin. Eines Abends, nach einem schlechten Tag, hatte ich nicht die Geduld, die ich normalerweise brauchte, um mit ihm umzugehen, und sagte ihm, dass ich seine Provokationen satthabe. Dass er mich in Ruhe lassen soll und dass ich nie etwas mit ihm haben würde. Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, befahl er seiner Frau mich sofort, spätestens am nächsten Morgen, aus der Wohnung zu werfen.

Wieder durch Bekannte vermittelt, erhielt ich Unterkunft bei einer älteren Frau, die mit einem jungen Mann verheiratet war. Ich musste das Bett mit der Frau teilen, während der Ehemann woanders schlief. Dort habe ich mehr als ein halbes Jahr gewohnt. Das Zusammenleben war anfangs sehr gut, die Dame behandelte mich wie eine Tochter. Nach der schwierigen Zeit war ich emotional stark angeschlagen und deshalb sehr dankbar für die Grosszügigkeit, die mir die Frau entgegenbrachte.

Ich hatte schon ein paar Monate in diesem Haushalt gelebt, als ich bei einer Reinigungsfirma anfing zu arbeiten. Die Betreiber baten mich um ein Bankkonto, damit sie das Gehalt am Monatsende einzahlen konnten. Da ich aber noch immer illegal in der Schweiz war, konnte ich kein Bankkonto eröffnen. Meine Gastgeberin bot mir deshalb an, ihr Bankkonto anzugeben. Wie freundlich, dachte ich anfangs.

In den ersten Monaten passierte auch nichts Aussergewöhnliches: jeden Monat händigte sie mir das Geld aus, das auf meinen Namen überwiesen wurde. Doch plötzlich begann sie, mein verdientes Geld selbst auszugeben und weigerte sich, mir zu geben, was ich so schwer verdient hatte. Ich spreche von ungefähr 1200 Franken pro Monat. Wie befürchtet, wurde das Zusammenleben zu einer Tortur und ich musste wieder einen anderen Ort zum Leben finden.

Ich kam bei einer alleinerziehenden Mutter unter, die mit zwei Kindern im Alter von 19 Jahren und einem Baby in einer Wohnung wohnte. Trotz einiger Unannehmlichkeiten der Wohnung – das Badezimmer befand sich im Treppenhaus und geheizt wurde lediglich das Wohnzimmer – war das Leben dort ganz okay. Immerhin hatte ich ein eigenes Zimmer.

Ich bekam einen kleinen Herd und verbrachte meinen zweiten Winter in der Schweiz.

Die Frau war sehr temperamentvoll und eines Tages, als ich nicht mit ihr einer Meinung war, befahl sie mir, die Wohnung noch am selben Tag zu verlassen. Einmal mehr war ich gezwungen, die Klappe zu halten. Aufgrund meines Sans-Papiers-Status’ konnte ich mich weder wehren noch irgendwas an einer offiziellen Stelle melden.

Ich bin mit der Idee in die Schweiz gekommen, andere Kulturen kennen zu lernen und gleichzeitig persönlich und beruflich zu wachsen. Aber nichts davon passierte. Die Enttäuschungen, die schlechten Erfahrungen und traumatisierenden Situationen, die ich durch die einfache Tatsache, keine Aufenthaltsbewilligung zu haben, erfuhr, führten zu einer sehr starken Depression. Trotzdem wollte ich nicht zurück. Erstens weigerte ich mich, unter diesen Umständen aufzugeben und zweitens hatte ich zu wenig Geld, um mir ein Flugticket zu leisten.

Nach der Erfahrung mit der vergangenen Gastgeberin, hatte ich eine feste Entscheidung getroffen: Wenn sich mein Leben in sechs Monaten nicht radikal ändern und ich meine ursprünglichen Ziele nicht erreichen würde, würde ich nach Bolivien zurückkehren. Zu meinem Glück fuhr eine gute Freundin für einen Monat in den Urlaub und so konnte ich für diese Zeit in ihrer Wohnung leben.

Gleichzeitig bekam ich einen Job: Ich passte auf das Baby eines netten Paares auf. Er war ein Deutscher und sie eine Ballettchoreografin aus den USA. Ich bekam endlich das Gefühl, dass mich jemand wie einen Menschen behandelte! Sie schätzten mich sehr, bezahlten mir einen fairen Lohn, sodass ich auch etwas auf die Seite legen konnte. Von dem Moment an, als ich ihnen von meiner schwierigen Wohnsituation erzählte, halfen sie mir, einen geeigneten Ort zum Wohnen zu finden.

In den acht Monaten, in denen ich für sie arbeitete, musste ich zwar ebenfalls zweimal umziehen. Allerdings nicht wegen schlechten Erfahrungen.

In dieser Zeit konnte ich auch die Verfahren zur Zulassung an die Universität abschließen und so endlich eine Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz erhalten. Deshalb verabschiedete ich mich von meinen Arbeitgeber*innen, um nach Bolivien zurückzukehren und die Visa-Papiere zu erledigen. Als ich legal in die Schweiz zurückkehrte, zog ich in eine andere Stadt.

All dies passierte zwischen 2001 und 2003. Und es scheint, als wäre dies schon lange her. Doch auch heute noch ist die Situation illegaler Menschen in Bezug auf Wohnraum prekär. Vor ungefähr zwei Wochen erzählte mir ein Sans-Papiers von seinen Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden.

Zu meiner Zeit waren es in der Regel Migrant*innen, die Zimmer an illegal in der Schweiz lebenden Personen untervermieteten. Es waren sehr wenige Schweizer*innen, die es wagten, das Risiko einzugehen. Dank der Sensibilisierungsarbeit von Organisationen, wie der Sans-Papiers Anlaufstelle, hat sich die Situation zwar etwas verbessert. Aber es ist noch ein langer Weg zu einem menschlicheren Umgang mit der Situation.

Wir müssen aufhören, Sans-Papiers als Bedrohung zu sehen und die Realität akzeptieren. Wir sind alles Menschen und müssen versuchen, mit Respekt und Akzeptanz zusammenzuleben. Jede*r von uns verdient eine menschenwürdige Unterkunft – auch illegal in einem Land lebende Menschen.

Züri City Card
Diese Kolumne ist eine Kooperation zwischen der Züri City Card und dem Stadtmagazin Tsüri.ch. Die Züri City Card will einen städtischen Ausweis für alle lancieren, damit auch Sans-Papier an der Stadt teilhaben, sich vor Ausbeutung schützen und ärztlich behandeln lassen können. Du kannst das Projekt hier unterstützen. .

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