Im Theater Neumarkt trifft Heidi auf Haftbefehl
Mit ihrem Stück «Heidi» versprechen die Produzentinnen Hayat Erdoğan und Lena Reissner einen «cottagecore-pop-musikalischen Bergrutsch». Mit dem erfolgreichsten literarischen Werk der Schweiz erlauben sie sich im Theater Neumarkt so einige Spässe.
«Hallo, ich bin aus Lausanne und kann kein Schweizerdeutsch. Ihr kennt mich nicht und ich kenne euch nicht.» Schon als Chady Abu-Nijmeh, Yara Bou Nassar, Challenge Gumbodete und Melina Pyschny die Neumarkt-Bühne betreten, wird klar, dass in diesem «Musiktheater» nicht der Heidi-Plot gemäss Johanna Spyri nachgespielt wird.
Auf das Publikums-Gelächter fragt Abu-Nijmeh zaghaft hinterher: «Wer ist heute für Heidi hier?» und stellt nach der Antwort des Publikums – natürlich ist es für Heidi hier – klar: «You’ve been enttäuscht.»
Eine Ausrede nach der anderen versuchen die Schauspieler:innen dann aufzutischen. Heidi habe den Zug verpasst, oder es sei inzwischen einfach zu teuer, sie zu buchen, bevor die «Wahrheit» ans Licht kommt: «Heidi ist tot» spuckt das Ensemble aus und lässt dabei Nietzsches berühmtes «Gott ist tot» mitschwingen.
Eine geteilte Illusion, ein Mythos, der wie ein Luftballon an einer Nadel zerplatzt.
Was wissen wir schon über Heidi?
Was nun, wo Heidi tot und allen im Raum vor Augen geführt ist, dass Heidi, die Bergidylle und die Ziegenmilch alles nur Illusionen eines nationalen Mythos sind? Dazu kommt: Das Ensemble scheint über Heidi etwa so wenig zu wissen wie die allermeisten Gäst:innen. Und Hand aufs Herz, wer weiss schon mehr über das Mädchen, als dass sie gern draussen herumspringt, Milch trinkt, den Geissenpeter und ihren Grossvater mag?
Dennoch müssen die Vier in die Bresche springen und sich daran versuchen, Heidi zu verkörpern. Und so wird während 80 Minuten auf der Bühne gesungen, gerappt, gestrippt, geblökt und fleissig Rollen getauscht. Überragend sind dabei die Kostüme von Lena Rickenstorf; einerseits sind sie urchig und stilvoll, andererseits unterlaufen sie provokativ die binäre Geschlechterordnung.
Das exzessive Spiel mit Klischees – der Milchkanne, dem Melkstuhl, dem Ziegenkopf, dem Hirtenstab, Harry-Potter-Zitaten und Sofa-Polster-Sprichwörtern – soll dem Publikum dabei immer wieder klarmachen, dass in der Produktion von Hayat Erdoğan und Lena Reissner kein authentischer Heidi-Stoff behandelt wird, sondern Heidi als Mythos, als Klischee und als Farce.
Ist Heidi naiv oder einfach post-judgemental?
Doch ein Mythos muss schliesslich nicht wahr sein, um zu funktionieren, und so zieht Heidi im Verlauf der Vorstellung auch die Schauspielenden immer wieder in den Bann. Dabei wird wahlweise das beinah erotische Schweizer Verhältnis zur Milch pervertiert (in der Gesangs-Performance von Challenge Gumbodete) oder Schweizer Identitäts-Grundlagen wie «Heimat», «Sehnsucht» und «Nostalgie» hinterfragt. «Heimat ist ein Kompromiss, Heimat ist ein Echo», heisst es dann zum Beispiel poetisch, oder etwas weniger poetisch: «Nostalgie ist ein Arschloch.»
Nachdem Abu-Nijmeh brilliant in die Hauptrolle geschlüpft ist, bemängelt Schauspielkollegin Yara Bou Nassar: «Wie du Heidi spielst, ist mir zu naiv.» Ausserdem: ist es nicht unheimlich, dass Heidi so glücklich umherspringt, wo sie doch ein «tief traumatisiertes Waisenkind» ist, das bei einem «gruseligen alten Mann in den Bergen» leben muss? Haben wir es etwa mit einer zutiefst unrealistischen Geschichte zu tun? Ist Heidi wirklich so naiv, oder ist sie einfach «post-judgemental», wie Abu-Nijmeh zurückgibt?
Jedenfalls scheint dieser vor den Kopf gestossen. «Jetzt bin ich traurig, jetzt kann ich Klara spielen», sagt er und bringt das Publikum erneut zum Lachen. Originalgetreu geht es also in die «Real World», der Frankfurter Grossstadt, in der Heidi nun – mit satanischem Ziegenkopf ausgestattet – die wilde Bergnatur verkörpert.
Und dann kommt «Hafti»
Diese Reise bietet dem Ensemble auch Grund genug, Deutschrapper Haftbefehl zu zitieren. «Hafti» kommt aus Offenbach bei Frankfurt, und auch er schreibt ja schliesslich über Heimat. So rappt Melina Pyschny auf der Neumarkt-Bühne auf einmal: «Fick deine Integration» und das Kostüm von Chady Abu-Nijmeh gibt den Songtitel und Frankfurt-Vorwahl «069» preis.
Gegen Ende verziehen sich die düsteren Grossstadt-Wolken auf der von Han Le Han elegant ausgestatteten Bühne wieder: «Ich bin fertig mit der echten Welt, lass uns wieder in die Berge gehen», fordert das Ensemble. Die Berge, das ist hier der ideologische Rückzugsort, der mit der echten Welt nichts zu tun hat. Nur die Rückkehr in die Heimat und die Bergluft – noch so ein Klischee – vermögen schliesslich Heidi zu heilen. Im Original wird selbst Heidis Freundin, die schwerkranke Klara, in den Bergen gesund.
Auch im Theater gibt es kurz vor Schluss noch echte Schweizer Katharsis, als das von Challenge Gumbodete angeführte Ensemble ihre letzte DJ Bobo-eske Gesangseinlage startet. Ernst oder ironisch singen die Vier: «Sie ist das Herz, das in dir schlägt, sie ist die Welle, die dich trägt, deine Heimat lebt in dir.»
Sich über alte Mythen lustig zu machen ist zwar ein grosser Spass, und doch erfüllen sie ihren Zweck, das weiss auch das Produktionsteam. So lässt es ihr Ensemble nach weiteren Debatten zum Schluss kommen: «Mythologie verwandelt das Chaos der Realität in das, was wir gerade brauchen.»
Wer ins Neumarkt-Theater gekommen ist, um Johanna Spyris Heidi zu sehen, für die oder den gilt wohl tatsächlich: «You‘ve been enttäuscht». Doch der «cottagecore-pop Bergrutsch» und die versprochene «Re- und Entmythisierung» sind voll und ganz gelungen.
«Heidi» wird noch bis zum 24. April aufgeführt, weitere Vorführungen folgen im Juni. Nach sechs Spielzeiten endet die Intendanz von Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert im Sommer. Am 13. Juni findet im Neumarkt ein Abschiedsfest statt. Mit der Spielzeit 2025/2026 wird der Westschweizer Theatermacher Mathieu Bertholet die Leitung übernehmen.
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Bachelorstudium in Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich, Master in Kulturanalyse und Deutscher Literatur. Während des Masters Einstieg als Redaktionsmitglied in der Zürcher Studierendenzeitung mit Schwerpunkt auf kulturellen und kulturkritischen Themen. Nebenbei literaturkritische Schreiberfahrungen beim Schweizer Buchjahr. Nach dem Master Redaktor am Newsdesk von 20Minuten. Nach zweijährigem Ausflug nun als Redaktor zurück bei Tsüri.ch